Verlockung (eBook)

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2016 | 2. Auflage
992 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60752-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verlockung -  János Székely
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Der Welterfolg des ungarischen Autors und das Lieblingsbuch vieler begeisterter Leser und Buchhändler neu aufgelegt. Die Geschichte des Bauernjungen Béla, der als Liftboy in einem Budapester Grandhotel eine vom nahen Untergang gezeichnete Welt kennenlernt, ist ein ebenso düsteres wie schillerndes Tableau des Ungarn der Zwischenkriegszeit.

János Székely, geboren 1901 in Budapest, verließ Ungarn, als Horthy die Macht ergriff, und kam als Achtzehnjähriger nach Berlin. Er verfasste Drehbücher, u. a. für Stummfilme mit Marlene Dietrich. 1934 lud Ernst Lubitsch ihn zur Arbeit nach Hollywood ein, 1938 emigriert er definitiv in die USA. 1940 erhielt er den Oscar für die Buchvorlage zu ?Arise, My Love?. Sechs Jahre später erschien sein Roman ?Verlockung? und machte ihn auch als Schriftsteller berühmt - von der Kritik wurde er dafür mit Dickens, Zola und Fallada verglichen. Während der McCarthy-Ära erneut verfolgt, verbrachte er mit Frau und Tochter sechs Jahre in Mexiko, bevor er 1957 einem Angebot der DEFA in die DDR folgte. Er starb 1958 in Ostberlin.

János Székely, geboren 1901 in Budapest, verließ Ungarn, als Horthy die Macht ergriff, und kam als Achtzehnjähriger nach Berlin. Er verfasste Drehbücher, u. a. für Stummfilme mit Marlene Dietrich. 1934 lud Ernst Lubitsch ihn zur Arbeit nach Hollywood ein, 1938 emigriert er definitiv in die USA. 1940 erhielt er den Oscar für die Buchvorlage zu ›Arise, My Love‹. Sechs Jahre später erschien sein Roman ›Verlockung‹ und machte ihn auch als Schriftsteller berühmt – von der Kritik wurde er dafür mit Dickens, Zola und Fallada verglichen. Während der McCarthy-Ära erneut verfolgt, verbrachte er mit Frau und Tochter sechs Jahre in Mexiko, bevor er 1957 einem Angebot der DEFA in die DDR folgte. Er starb 1958 in Ostberlin.

Erster Teil {7}Ich und der hübsche junge Herr


{9}1


Mein Leben begann wie ein Kriminalschmöker: Man wollte mich ermorden. Glücklicherweise wurde dieser Plan fünf Monate vor meiner Geburt gefasst, und so hat er mich kaum sonderlich erschüttert. Dabei hätte ich, falls es zutrif‌ft, was man sich im Dorf erzählt, guten Grund zur Aufregung gehabt. Es war wirklich reiner Zufall, dass ich nicht umgebracht wurde, noch bevor sich diese fünf Finger, mit denen ich jetzt die Feder halte, zu Fingern auswachsen konnten.

Meine Mutter war damals sechzehn Jahre alt, und wenn mich nicht alles täuscht, verlangten weder ihr Körper noch ihre Seele danach, dass ich sie einmal Mutter nannte. Zugegeben, kein sechzehnjähriges lediges Mädchen sehnt sich gemeinhin nach dieser Würde, aber was meine Mutter anstellte, das war, nach allem, was mir zu Ohren gekommen ist, ausgesprochen krankhaft. Als wäre der Teufel in sie gefahren, so sträubte und wehrte sie sich gegen die Mutterschaft. Sie griff zu den schimpf‌lichsten Mitteln, lief unterdessen jedoch eifrig von einer Kirche zur anderen; bald lag sie auf den Knien und betete, bald wünschte sie alle Heiligen des Himmels zur Hölle; sie tobte und wütete, sie wollte mich nicht zur Welt bringen, bei Gott, nein, sie wollte es nicht.

»Wenn ich den Vater, diesen Lumpen, wenigstens lieben {10}würde«, sagte sie immer wieder. »Aber ich hab ihn nur ein einziges Mal in meinem Leben gesehen, ich weiß nicht mal, wo in der Welt ihn der Teufel holt.«

Und so war es in der Tat. Sie hatte Mihály T. am Peter-und-Pauls-Tag kennengelernt, war ihm vorher nie begegnet und danach auch nicht mehr; trotzdem geschah das Malheur. Dabei gehörte meine Mutter durchaus nicht zu jenen mannstollen Frauenzimmern, die sich mit jedem einlassen, wenn er nur Hosen trägt. Ich will die Sache nicht etwa beschönigen, vielmehr halte ich mich an den Bericht einer Frau aus unserem Dorf, einer gewissen Tante Rozika, von der noch die Rede sein wird.

Nach ihren Worten war die »arme Anna« um nichts schlechter als die anderen jungen Dinger im Dorf. Sie war ein stilles, blitzsauberes, hübsches Mädchen mit weißer Haut und schwarzem Haar. Ich selbst erinnere mich am deutlichsten an ihre Augen. Es waren kleine, eigenartig tief‌liegende schwarze Augen, misstrauische, immer ein wenig demütige Bauernaugen, die stechend und doch mit einer uralten Schwermut in die Welt blickten. Sie wohnte bei ihrer Stiefmutter; der Vater war früh gestorben, die Mutter hatte sie überhaupt nicht gekannt. Die Familie war bettelarm. Anna arbeitete als Magd und musste schon mit fünfzehn Jahren vom frühen Morgen bis in die späte Nacht auf den Feldern des Grafen schuf‌ten. Kurzum, das bisschen Gratisvergnügen war ihr zu gönnen, das den Bauern am Peter-und-Pauls-Tag zuteilwurde, und dabei lernte sie dann auch Mihály T. kennen.

Dieser Mihály war ein berühmter Mann, die Mädchen nannten ihn unter sich nur den schönen Miska. Er stammte {11}aus dem Dorf, lebte jedoch seit mehr als zehn Jahren in der Fremde. Heißblütig und abenteuerlustig, wie er war, hatte er schon als Halbwüchsiger das Weite gesucht, und seither waren die sonderbarsten Gerüchte über ihn im Umlauf. Es hieß, er sei Schiffskapitän geworden, dann wieder, er mache als Pirat die Meere unsicher. In Wirklichkeit war er weder Kapitän noch Pirat, sondern Matrose auf einem Frachter, aber damit hatte er es in den Augen der Bauern schon sehr weit gebracht. Nun hatte sich der schöne Miska also nach zehnjähriger Abwesenheit eingefunden, um dem Dorf vorzuführen, was aus ihm geworden war. Er hatte sich piekfein gemacht, zwischen seinen starken weißen Zähnen steckte eine echte englische Pfeife, und den verwegen aufs Ohr gedrückten grünen Hut hatte er, wie er jedermann gern zeigte, in Buenos Aires erstanden. Er war ein großmäuliger, bullenstarker Bursche, ein Prahlhans, Raufbold und Herzensbrecher. Wie ein Pfau stolzierte er durchs Dorf, und fast jeden Abend sah man ihn mit einem anderen Mädchen auf einen Heuschober zusteuern.

Anna kannte den schönen Miska nicht, hatte jedoch umso mehr von ihm gehört. Als sie ihn an jenem denkwürdigen Abend des Peter-und-Pauls-Tages endlich sah, war sie tief enttäuscht. »Was, nach dem da seid ihr alle so verrückt?«, sagte sie laut, dass jeder es hören konnte. »Hol der Teufel euren Geschmack!«

Ihre besten Freundinnen beeilten sich, dem schönen Miska diese Worte brühwarm zu hinterbringen, erreichten aber, wie das meist der Fall ist, genau das Gegenteil dessen, was sie of‌fensichtlich bezweckt hatten. Denn plötzlich stand der schöne Miska vor Anna, fasste sie mir nichts, {12}dir nichts um die Taille und tanzte mit ihr einen endlosen Csárdás. Was eigentlich während dieses Tanzes geschah, lässt sich heute nicht mehr genau feststellen. Meine Mutter hat später geschworen, sie sei aus reinem Mutwillen mit ihm in den Kreis getreten, damit die Klatschbasen vor Neid platzen sollten. Tatsache ist jedoch, dass sie bis zum Morgengrauen ausschließlich mit dem schönen Miska tanzte, ohne auch nur einen anderen anzuschauen.

Man schrieb das Jahr 1912; es war ein schöner, an Früchten reicher Sommer, und der Peter-und-Pauls-Tag wurde in der herkömmlichen Weise begangen. Die Dorfbewohner konnten sich auf Kosten der Gutsherrschaft den Bauch mit Gulaschsuppe vollschlagen, die auf der Wiese in großen Kesseln über einem Holzfeuer gekocht wurde; der Gratiswein floss in Strömen; die Zigeuner spielten unermüdlich Csárdásweisen. Die Nacht war so schwül, dass die Leute noch gegen Morgen in Schweiß gebadet waren, obwohl sie unter freiem Himmel tanzten. Nach Mitternacht erhob sich zwar ein leichter Wind, aber er setzte nur die Lampions in den Nationalfarben in Brand und brachte keine Abkühlung, denn er war warm, als käme er aus einem Schornstein. Die in Flammen stehenden Papierlaternen wurden auf dem Boden ausgetreten, und nun leuchteten nur noch der Mond und die Sterne. Dieses Licht genügte der Jugend vollauf, ja, of‌fenbar war es sogar noch zu hell, denn ein Paar nach dem anderen verschwand vom Tanzplatz.

»Haben Sie eigentlich ein Lieblingslied?«, fragte der schöne Miska auf einmal meine Mutter.

»Natürlich! Warum nicht?«

»Und wie heißt es?«

{13}»Ach, es ist ein sehr altes Lied, die Zigeuner spielen es kaum noch.«

»Wirklich nicht?«, meinte der schöne Miska übermütig. »Na, heute werden sie jedenfalls nichts anderes mehr spielen. Passen Sie mal auf!«

Damit zog er eine Zehnpengőnote aus der Tasche, spuckte darauf und klebte sie wie ein ausgelassener großer Herr dem Primas an die Stirn. Natürlich stimmten die Zigeuner auf der Stelle das Lied an, das meine Mutter genannt hatte. Es war eine schwermütige alte Weise:

»Im grünen Wald ging ich fürbass

und freute an den Vöglein mich;

sie bauten ihr Nest aus Halmen und Gras …

Hei, wie herzinniglich lieb ich dich!«

Und es kam, wie der schöne Miska gesagt hatte: Bis zum Morgen spielten die Zigeuner nur noch diese Melodie. Ab und zu fasste sich der Primas zwar ein Herz und ging in eine schnellere Weise über, aber sofort pflanzte sich der schöne Miska vor den Musikanten auf, bereit, wie ein tollwütiger Hund über sie herzufallen. Was blieb ihnen also übrig, als bis zum Tagesanbruch ohne Unterlass diesen getragenen Csárdás zu strapazieren?

Der schöne Miska aber sang meiner Mutter ins Gesicht, so dass die anderen Mädchen vor Wut beinahe barsten: »Hei, wie herzinniglich lieb ich dich!«

Es war eine tolle Nacht, im Dorf gab es kaum einen nüchternen Menschen. Der Wein, die immerfort tönende weiche Csárdásweise, vielleicht auch die zahllosen Sterne {14}am Himmel – all das ging ins Blut, und so geschah, was so oft in solchen Nächten geschieht. Ehe Anna sich’s versah, lag sie mit dem schönen Miska im Heu. Nur ein paar Minuten lang, erzählte die Ärmste später. Sie hatte noch gar nicht recht begrif‌fen, was ihr widerfahren war, da riss er auch schon seine Uhr heraus und schrie auf, als habe man ihm einen Dolch in den Rücken gejagt: »Au verflucht, ich verpasse meinen Zug!«

Das hieß also: Hopp, hopp, und bevor sie ihre Kleider in Ordnung bringen konnte, war er bereits über Stock und Stein. Vom Eisenbahndamm aus sprang er auf den letzten Wagen und ward nicht mehr gesehen.

Ja, so hatte es sich zugetragen. Es war keine Liebe, gewiss nicht. Es war einfach eine Torheit, so etwas konnte vorkommen – immerhin hatten andere am Peter-und-Pauls-Tag schon größere Torheiten begangen. Am nächsten Tag zuckte meine Mutter, wie Tante Rozika erzählte, nur die Achseln. Sie hatte Kopfschmerzen, der ungewohnte Wein machte ihr zu schaf‌fen, schlecht gelaunt und einsilbig schlich sie umher. An den schönen Miska dachte sie weder mit Groll noch mit Wärme im Herzen. Sie nahm das Ganze, wie man solche Dummheiten zu nehmen pflegt. Es war nun mal passiert! Schließlich hatte der Bursche ihr nichts abgebissen.

Vielleicht erinnerte sie sich kaum noch an die berühmten schönen Augen von Mihály T., als sie eines Tages bemerkte, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Natürlich rannte sie sofort zu den Frauen, die für solche Fälle zuständig waren, aber sie rannte vergebens. Tante Rozika, die auf diesem Gebiet Bescheid wusste, stellte fest, dass schon vorher gewisse {15}Unregelmäßigkeiten aufgetreten waren, und darum, so erklärte sie, habe meine Mutter so spät erkannt, wie es um sie bestellt war. Außerdem sei sie of‌fensichtlich auch noch zu unerfahren in diesen Dingen. Kurz und gut, ich war damals bereits über...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2016
Übersetzer Ita Szent-Iványi
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Antal • Budapest • Donau • Donaumonarchie • Dreißiger Jahre • Exzellenz • Gellert • Grandhotel • Hotelpage • k.u.k. • Liftboy • Marai • Marai, Sandor • Mitteleuropa • Sandor • Szerb • Szerb, Antal • Ungarn • Verführung • Zwischenkriegsjahr
ISBN-10 3-257-60752-0 / 3257607520
ISBN-13 978-3-257-60752-9 / 9783257607529
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