Jenes andere Leben (eBook)

Roman
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2016 | 1. Auflage
380 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74442-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jenes andere Leben -  Nuruddin Farah
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Als Bella vom gewaltsamen Tod ihres Bruders Aar bei einem terroristischen Anschlag in Mogadischu erfährt, bricht die erfolgsverwöhnte Modefotografin umgehend auf, um sich der halbwüchsigen Kinder des Bruders anzunehmen. In Nairobi, wo Aar mit den Kindern lebte, übernimmt sie tatkräftig die Verantwortung, denn Valerie, die Mutter der Kinder, hat die Familie bereits vor Jahren verlassen, um mit einer anderen Frau ein neues Leben zu beginnen. Jetzt aber erhebt sie ihre eigenen Ansprüche, und zwischen den Frauen entspinnt sich ein gnadenloser Machtkampf ... In seinem neuen großen Roman erzählt der Nobelpreiskandidat Nuruddin Farah das bewegende Schicksal einer Familie in Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs.

<p>Nuruddin Farah wurde am 24. November 1945 im südsomalischen Baidoa geboren. Er gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Afrikas und veröffentlichte unter anderem einen Romanzyklus über seine somalische Heimat, den er mit seinem 2013 erschienenen Roman <em>Gekapert </em>abschloss. Heute lebt Farah in Kapstadt.</p>

1


»Wie eine Perlenschnur, die gerissen ist«, sagt Bella zu Marcella.

»Der Tod ist etwas so Schreckliches«, erwidert Marcella.

Sie umarmen sich lange, die ältere Italienerin hält die jüngere Frau umfasst; beide wehklagen laut – die Threnodie der Überlebenden, die sich mit einem großen Verlust konfrontiert sehen.

Beide Wohnungstüren sind offen, die beiden stehen im Hausflur, weinen bitterlich, keine legt sich bei ihrer Trauer Zurückhaltung auf. Einige Nachbarn kommen aus ihren Wohnungen und gaffen, fragende Blicke wechselnd, die Frauen an.

Unglücklicherweise hat Bella als eine der letzten von Aars Tod erfahren. Zum Zeitpunkt seiner Ermordung hatte sie soeben ein Fotoshooting für GEO in Bahia beendet. Sie war in Fiumicino durch den Zoll gekommen, da fiel ihr Blick auf die Schlagzeile von La Repubblica. Laut Augenzeugen hatte sich der Selbstmordattentäter in einem Auto vor dem Haupteingang des UNO-Komplexes in die Luft gesprengt, dann stürmten vier schwerbewaffnete Männer das Gebäude und es war zu einem mehr als einstündigen Schusswechsel gekommen. Insgesamt hatten zwanzig Menschen ihr Leben verloren, fünfzehn Somalier und fünf Ausländer, darunter Aar.

Bella hatte den ersten Absatz nicht einmal richtig zu Ende gelesen, da gaben ihre Beine nach und sie brach zu Füßen des Mannes zusammen, der ihr gerade seine Fahrdienste angeboten hatte. Als sie wieder zu sich kam, hatte sich eine Menschenmenge um sie versammelt, die hitzig diskutierte, was zu tun sei. Der Taxifahrer, ein älterer Sizilianer mit einem breiten, von einem Acht-Tage-Bart geschmückten Gesicht, lächelte freundlich und seine wenigen verbliebenen Vorderzähne waren zu sehen. Er bückte sich und half ihr beim Aufsetzen. »Hören Sie, Signorina, Sie sind hier im stolzen Rom, da ist das Weinen in aller Öffentlichkeit verpönt.« Er reichte ihr ein paar Papierservietten. »Hier, wischen Sie sich die Tränen ab.«

Der charmante Taxifahrer, ein selten gut erzogener Herr, brachte sie zu seinem Auto und wartete, bis sie wieder zu sich kam. Er fuhr sie nach Hause, parkte verkehrswidrig, half ihr mitsamt Gepäck und Kameras die Treppe hoch und weigerte sich, für die Fahrt Geld zu nehmen.

Auf dem Heimweg hatte Bella mit ihrem Smartphone im Internet nach weiteren Informationen über das Attentat gesucht, dessen außergewöhnliche Brutalität international großes Aufsehen erregt hatte. Bis in die Nebengebäude waren Leichenteile geschleudert worden, die derart verkohlt und entstellt waren, dass eine Identifikation unmöglich war. Aars Kopf wurde weit entfernt von seinem Körper gefunden. Allerdings stammten diese Angaben von somalischen Webseiten, die wenig vertrauenswürdig sind, weil sie zur Übertreibung neigen und auch gern Gerüchte veröffentlichen. Die Leichenteile, die sich als zu Somaliern gehörig identifizieren ließen, wurden in einem Massengrab beigesetzt, die mit hellerer Hautfarbe wurden zur Erfassung in Behältern aufbewahrt und würden später den Angehörigen ausgehändigt werden.

Beim Anblick ihrer Nachbarin und engen Freundin, die mit gespitzten Ohren auf ihre Heimkehr gewartet hat, bricht Bella wieder zusammen. Marcella umarmt sie, bis das Schluchzen versiegt, aneinandergeklammert ziehen sie sich in Bellas Wohnung zurück.

Marcella drückt die Jüngere auf einen Stuhl. »Ich mache dir einen Tee mit Zucker, so wie ihr Somalier ihn mögt.« Bella starrt sie an, als verstünde sie die Sprache nicht oder warum man Zucker im Tee haben wollte. »Bitte«, sagt sie. Zu schwach, um aufrecht zu sitzen, und zu sehr vom Jetlag geplagt, um die Augen offen zu halten, zu müde zum Schlafen und viel zu verwirrt, um alles Geschehene verarbeiten zu können, ist Bella kurz davor, die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren.

Marcella nimmt ihr gegenüber Platz. Die alte Frau kennt Bella im wahrsten Sinne des Wortes seit ihrer Geburt. Sie erinnert sich an den Tag im Jahre 1981, als Hurdo zur Entbindung ihres zweiten Kindes ins Mogadischuer Digfer Hospital kam. Es war ein muslimischer Feiertag und das Krankenhaus unterbesetzt; als Leiterin der Entbindungsstation hatte Marcella ihre Schicht verlängert und war daher die Geburtshelferin. Mein Glückstag, schwärmte Hurdo immer. Hurdo und ihr Mann Digaaleh waren so wie Marcellas Mann an der juristischen Fakultät tätig, und die beiden Ehepaare kannten sich gut. Hurdo war Professorin für Internationales Recht, allseits sehr beliebt; sie hatte ihren Doktor in Bologna gemacht, zu einer Zeit, in der viele Somalier in Italien studierten.

Marcellas Verbindung zu Bella war überdies recht intimer Natur, denn sie gehörte zu den wenigen, die von Hurdos Affäre mit Giorgio Fiori wussten, einem Dante-Experten an der Philologischen Fakultät, und ahnte, noch ehe die Wahrheit ans Licht kam, dass Bella Giorgios Kind war. Von Anfang an hegte sie dem Mädchen gegenüber einen gewissen Beschützerinstinkt, der Jahre später wieder erwachte, als sie und ihr Mann (er ist vor kurzem an einem Lymphom gestorben) sich in Rom anstelle der Eltern um Bella kümmerten, ihr die Wohnung gegenüber vermittelten und diese auch hüteten, wenn die Aufträge als Fotografin sie hinaus in die Welt führten.

Seit kurzem wird Marcellas Gedächtnis unzuverlässig, verliert wie ein Stoff die Farbintensität. Sie versucht, sich die letzte Begegnung mit Aar ins Gedächtnis zu rufen, fördert stattdessen frühere Zusammentreffen zutage. Zwölf Jahre alt war Aar, als Bella geboren wurde. Von Anfang an übernahm er voller Wärme die Rolle des beschützenden großen Bruders, kaufte ihr von seinem Taschengeld Spielzeug und half ihr bei den Schulaufgaben (in Mathematik und Naturwissenschaften war sie schlecht). Er bestärkte sie in ihrem Interesse für die Fotografie, kaufte ihr sogar ihre erste Kamera und saß bei Bellas ersten Gehversuchen Modell. Besonders gern beherbergte Marcella Bruder und Schwester gemeinsam, erfreute sich daran, wie sehr sie einander guttaten, Händchen hielten und sich bei jeder Gelegenheit umarmten. Ihre Zuneigung war inniger und tiefer als bei einem Ehepaar, denkt Marcella. Trotzdem kann sie ihrem Gedächtnis die Erinnerung an Aars letzten Besuch nicht entlocken.

»Wann war Aar das letzte Mal hier?«, erkundigt sie sich.

Diese Frage stößt Bella in einen düsteren Korridor voll trüber Spiegel, wo sie verzweifelt nach Antworten sucht und, als sie keine findet, wieder in Tränen ausbricht. Marcella fällt nichts Tröstendes ein und deshalb sagt sie nur: »Ich mache rasch den Tee.«

»Eigentlich hätte ich lieber Kaffee.«

»Schwarz oder mit Milch?«

»Eine Latte macchiato, wenn möglich.«

Marcella kennt sich mit Bellas Espressomaschine aus, füllt Kaffeebohnen ein, entschuldigt sich für den grässlichen Lärm. Sie bedauert, dass sie sich seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr um die Wohnung der jungen Frau gekümmert hat. Früher hat sie das Aufräumen und Putzen selbst in die Hand genommen oder eine Filipina damit beauftragt – Bella bestand darauf, sich für diese Arbeit mit Geld oder Gefälligkeiten zu revanchieren. Marcella registriert das sich in der Spüle stapelnde Geschirr, aufgeschlagene und verwaist herumliegende Bücher, die zugezogenen Vorhänge; seit Tagen sind die Fenster nicht geöffnet worden, in der ganzen Wohnung herrscht ein muffiger Geruch. Das ist doch kein Leben, geht ihr durch den Kopf. Damit die trübe Stimmung zumindest ein wenig verscheucht wird, zieht sie die Vorhänge auf, lässt Tageslicht herein und öffnet die Fenster. Sie macht den Kaffee, räumt das Chaos auf, unterbricht ihre Arbeit und schäumt Milch auf, gießt die Latte macchiato in eine große Tasse, damit Bella in ihrem aufgewühlten Gemütszustand nicht die Hälfte verschüttet.

»Hier«, sagt sie und reicht Bella das Getränk, »das wird dir guttun.«

Bella greift mit beiden Händen nach der Tasse und murmelt einen Dank, trinkt aber noch nicht, denn die Latte ist zu heiß. Sie sieht weiterhin verwirrt drein, ihr Blick ist unstet, mit zitternden Händen führt sie die Tasse an die Lippen und lässt sie wieder sinken, ohne einen Schluck zu nehmen.

Marcella sieht den roten Knopf des Anrufbeantworters blinken. Eine der Nachrichten ist ihr eigener Kondolenzanruf, den sie vor einigen Stunden hinterlassen hat, als sie bei der Arbeit und Bella noch nicht zurückgekehrt war. Ob sie Bella wohl darauf aufmerksam machen soll? Eine der Nachrichten könnte von Aar oder einem seiner Kollegen sein. Bella starrt jedoch weiterhin ins Nichts und Marcella beschließt, nichts zu sagen.

Die jüngere Frau sucht den Blick der Älteren, findet in seiner vertrauten Wärme Trost. Dann will sie aufstehen, als wäre ihr etwas eingefallen, verliert beinahe das Gleichgewicht und setzt sich wieder, wobei sie um Haaresbreite die Latte verschüttet, von der sie immer noch nicht getrunken hat.

»Was immer erledigt werden muss, ich nehme es dir ab.«

»Könntest du mir bitte beim Reintragen meiner Kameras helfen? Ich war so durch den Wind, dass ich die Taschen draußen im Hausflur habe stehen lassen.«

»Gern, aber du bleibst sitzen.«

Marcella holt die Taschen herein und will wissen, ob sie sie ins Gästezimmer bringen solle, das Bella zu Recht Aars Zimmer nennt, denn es ist immer auf sein Kommen vorbereitet – das Bett gerichtet, saubere, ordentlich aufeinandergelegte Handtücher, sein Lektürestapel (hauptsächlich an Flughäfen erstandene Romane) auf dem Nachttisch, ein Schlafanzug und Hotelschlappen, alles adrett angeordnet, ganz wie er es mochte. Niemand anderer durfte in diesem Zimmer wohnen. Daher findet Bella die Frage zuerst fast taktlos, doch nach kurzem Nachdenken sagt sie: »Ja, bring bitte...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2016
Übersetzer Susann Urban
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Hiding in Plain Sight
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika • Attentat • Familiengeschichte • Somalia
ISBN-10 3-518-74442-9 / 3518744429
ISBN-13 978-3-518-74442-0 / 9783518744420
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