Das Kleid meiner Mutter (eBook)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
212 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74450-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Kleid meiner Mutter -  Anna Katharina Hahn
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Madrid im Sommer 2012: Krass zeigen sich in der Hauptstadt die Auswirkungen der jüngsten Wirtschaftskrise. Die junge Anita gehört zur »verlorenen Generation«, der jede Möglichkeit einer selbstbestimmten Existenz genommen wurde: Aus Not ist sie in ihr altes Kinderzimmer zurückgezogen. Halt geben ihr neben der Familie nur ihre Freunde, die das Schicksal der Dauerarbeitslosigkeit mit ihr teilen. Doch alles Schlimme lässt sich noch steigern:
Eines Tages liegen Anitas Eltern tot in der gemeinsamen Wohnung. Unversehens rutscht sie in das Leben der Mutter hinein. Anita muss nur eines ihrer Kleider überstreifen, schon halten sie alle für Blanca. Und deren Alltag ist viel aufregender, als Anita sich hätte träumen lassen. Am Ende scheinen fast alle Fäden bei einem geheimnisumwitterten Schriftsteller zusammenzulaufen, dem man nachsagt, über Leichen zu gehen. Doch vielleicht ist auch das eine Täuschung ...



Anna Katharina Hahn, geboren 1970, lebt in Stuttgart. 2009 erschien ihr Longseller <em>Kürzere Tage</em>. Ihr zweiter Roman, <em>Am schwarzen Berg</em>, stand 2012 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse und auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Mit <em>Das Kleid meiner Mutter</em> hat sie 2016, so Denis Scheck, »ein großes europäisches Tableau« entworfen. Ihr Roman <em>Aus und davon</em> erschien 2020 und stand mehrfach auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Anna Katharina Hahn, geboren 1970, lebt in Stuttgart. 2009 erschien ihr Longseller Kürzere Tage, der auch ins Englische und Finnische übersetzt wurde. Ihr Roman Am Schwarzen Berg stand 2012 auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse und auf Platz 1 der SWR-Bestenliste. Anna Katharina Hahn gilt als eine der wichtigsten Erzählerinnen ihrer Generation und wurde für ihre Romane u. a. mit dem Roswitha-Preis der Stadt Gandersheim und dem Heimito von Doderer-Literaturpreis ausgezeichnet.

Sonntag


SonntagIch erwachte bei Sonnenaufgang, klitschnass geschwitzt, mit zusammengebissenen Zähnen. Einschlafen konnte ich nicht mehr. In Unterhose und BH setzte ich mich ans Küchenfenster und zündete mir eine Zigarette an, blies Rauch in den Hof hinunter. Alle Fenster waren dunkel, es roch nach gebratenem Fisch vom Vorabend und Weichspüler von den Wäscheleinen der Nachbarinnen, die auf jedem Stockwerk von Ecke zu Ecke gespannt waren. Mein Qualm zog zwischen baumelnden Büstenhaltern und Handtüchern hindurch. Der Innenhof ist ein tiefer Schacht, auf den nur die milchigen Scheiben der Küchen- und Treppenhausfenster hinauszeigen. Sein Grund starrte schwarz zu mir hoch. Obwohl ich als kleines Mädchen dort unten endlos Gummitwist und Rayuela gespielt hatte, überlief mich ein Schauder, so stark war sein Sog, so heftig der Zwang, sich weiter und weiter nach vorne zu beugen. Schließlich musste ich mich zwingen, den Blick abzuwenden.

Unsere Küche am Sonntagmorgen ist eigentlich ein freundlicher Ort – Kaffeeduft, Radiomusik, Gespräche. Meine Eltern sind immer vor mir wach, sie unterhalten sich, streiten manchmal. Ich komme erst gegen Mittag aus dem Bett, schnappe mir das letzte Schokobrötchen, und Mama legt mir ein Holzbrett, ein Messer, dazu ein paar Tomaten oder Zwiebeln hin, weil ich als Frau helfen muss, das Mittagessen zuzubereiten, während Papa im Wohnzimmer liest.

An diesem Morgen war es fürchterlich still. Natürlich brummte der Kühlschrank, die übliche Schwalbenschar jagte mit schrillen Schreien über die Dächer, der Verkehr rauschte, der in dieser Stadt niemals ruht. Irgendwo sang eine Männerstimme ›La Ramona‹. Ich fühlte mich allein, merkte, wie mein Mund sich zum Weinen in ein kindisches Quadrat verzerrte und überlegte, ob ich nicht doch mit Paloma telefonieren sollte, mit La Plaga, deren Nachrichten sicher zu Dutzenden aufgelaufen waren, vielleicht sogar mit Ángel, der sofort das nächste Flugzeug nach Spanien genommen hätte. Aber etwas in mir hielt mich davon ab: eine Mischung aus Trotz, Angst und der Hoffnung, dass der ganze gestrige Tag einfach nicht geschehen wäre. Vielleicht war alles nicht wahr. Dann würde ich mich nur blamieren. Anita Nanita. Stoff zum Foppen für die nächsten Jahrzehnte. Ich träume nicht oft, aber wenn, dann ziemlich intensiv. So hatte ich an diesem Morgen den Wunsch, in einen sehr unheimlichen, viel zu langen Traum verstrickt zu sein, aus dem ich irgendwann aufschrecken würde.

Ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal im Zwielicht der ersten Frühe in der Küche gesessen hatte. Vielleicht an jenem Morgen, am dem Ángel nach Deutschland ging. Er war beleidigt, weil mein Vater ihm bis zum letzten Moment Vorwürfe machte, und sprach kein Wort, während er hastig seinen Milchkaffee trank, mit einer zornigen Handbewegung Mama verscheuchte, die ihm einen Teller mit Tostadas unter die Nase hielt.

Mein Bruder Ángel ist vor ein paar Monaten nach Deutschland gegangen. Seinen Doktor phil. hat er mit Auszeichnung an der Complutense gemacht. Danach wollte er noch ein Diplom als literarischer Übersetzer an der Uni von Aranjuez draufsetzen, weil er keinen Job fand. Das hat er aber recht schnell abgebrochen. »Die schönen Tage von Aranjuez sind nun zu Ende«, sagte er danach. Ángel behauptet, er könne Deutsch besser lesen als sprechen oder verstehen, und er sei darin alles andere als perfekt. Ich kann das nicht beurteilen. Die Sprache hat mich nie interessiert. Ich finde, sie klingt nicht besonders schön. Aber Ángel war seit diesen Ferien in Dénia total scharf auf alles Deutsche: Musik, Bücher, Essen, besonders Brot, pan aleman, das er manchmal bei einem Bäcker in Salamanca kauft. Und natürlich die Mädchen. Er besitzt eine Liste aller deutschen Frauen, mit denen er geschlafen hat. Sie ist ein Namensalphabet und beginnt mit Andrea, Barbara, Christa, Dora … ‌Dabei klagt er über Doppelungen, weil so viele Deutsche um die vierzig Sabine oder Tanja heißen. Deshalb wollte er seine Ordnungskriterien ändern und statt der Vornamen die Herkunftsorte aufschreiben: Andernach, Baiersbronn, Celle, Duisburg. Ich habe ihn mal gefragt, was er an diesen Touristinnen, Geschäftsfrauen, Au-Pair-Mädchen und Studentinnen findet. Es sind große, oft übergewichtige, weißhäutige Frauen mit Rucksäcken, angezogen wie für eine Wanderung oder einen Tag auf dem Sportplatz. Sie vertragen viel Alkohol, bekommen ständig Sonnenbrand und finden nichts dabei, sich auf die Lope-de-Vega-Zitate im Pflaster der Calle de las Huertas zu übergeben.

Ángel druckste herum: »Sie sind so … ‌so grün. Als ob du dich auf einer regennassen Wiese herumwälzt. Und wenn sie anfangen zu reden, dann wälze ich mich in einem Band von Hölderlin, Goethe oder Tieck.«

Nachdem er in Madrid trotz Promotion lange arbeitslos war, unterbrochen von Gelegenheitsjobs als Stadtführer, Eisverkäufer, Packer in einer Möbelfirma, hat er sich jedenfalls ein Ticket nach Berlin besorgt. Papa tobte noch am Flughafen: »Arm, aber sexy – das haben wir auch in Madrid! Fahr nach Stuttgart, da sitzt das Geld! Mercedes, Porsche, die Autoindustrie, Zulieferer, Dienstleistungen, reiche Rentner, die Spanisch lernen wollen, um an der Costa Blanca zu sterben, da hast du alle Möglichkeiten!«

In Ángels Jackentasche steckte nicht nur das Flugticket nach Berlin-Tegel, sondern auch eine ausgedruckte Mail der Humboldt-Universität, in der ihm mitgeteilt wurde, dass es am Institut für deutsche Literatur leider nicht üblich sei, die Seminare von Gastdozenten zu vergüten, dass aber die Lehrerfahrung, die er dadurch gewinne, auf jeden Fall eine ideelle Belohnung für seine Arbeit sei und man sich freue, ihm im SS 2012 den Raum 407 für sein Seminar über Gertrud Kolmar zuweisen zu können. Ángel übersetzte mir diesen Brief, während meine Eltern ihm ein letztes Bocadillo mit Kalamares kauften und bat mich, die Klappe zu halten.

Der Kühlschrank sah ziemlich geräubert aus. Zwei Tomaten lagen in der Obstschale. Die Schränke des Küchenbuffets waren spärlich gefüllt: ein paar Konserven, Tintenfisch in eigener Tinte, Oliven, etwas Kaffee. Unsere Keksdose enthielt noch zehn Euro. An diesem Morgen hätte mich ein gut bestückter Vorratsschrank zumindest ein bisschen beruhigt. So aber schob ich Panik. Rannte in den Flur. Durchsuchte die Taschen der väterlichen Jacke. Die des mütterlichen Sommermantels. In Papas schlappem Portemonnaie fand ich etwa 60 Euro. In der Küche öffnete ich Mutters Handtasche, der penetranter Jasminduft entquoll. Im Geldbeutel waren 20 Euro und ein Plastikchip für den Einkaufswagen bei Carrefour. Wie viel war noch auf dem Konto? Ich merkte, dass ich keine Ahnung hatte.

Es gab plötzlich keinen anderen Gedanken mehr. Wovon sollte ich leben? Wie die Raten für die Wohnung bezahlen? Für V. ‌V., das uns, wie meine Mutter sagte, noch immer wie ein Mühlstein am Hals hing? Wir waren schon so kaum zurechtgekommen. Ohne Ángels Kohle aus Deutschland hätte man uns längst zwangsgeräumt. Ich musste an die vielen Geschichten denken, die ich von Freunden und aus den Netzwerken gehört hatte. Juan Carlos' Erzählung. Die Nachrichten jeden Abend. Die Briefe unserer Hausbank mit dem grellen Logo und den unerbittlichen Forderungen legten die Eltern im Wohnzimmer auf den Tisch, stumm und bedrohlich. Erst vor ein paar Tagen war ein neuer gekommen. Klebrige Münzen rutschten mir aus der Hand, rollten über den Küchenfußboden. Achilles hob den Kopf und sah mich an. Diesmal sprach ich mit ihm, ohne lange über meinen Geisteszustand nachzudenken: »Du wirst auch verhungern. Die werfen uns beide raus. Und aus dir wird man Suppe kochen.«

Als ich gerade dabei war, mir einen Kaffee zu machen – zur Sicherheit schon mal einen ganz dünnen –, klingelte es an der Wohnungstür, schrill und mit Nachdruck. Ich schrie und machte einen kleinen Hopser. Achilles, der seine erste Wanderung durch die Küche angetreten und dabei unter dem Tisch ein paar Häufchen hinterlassen hatte, erstarrte mitten im Kriechen, während ich zur Tür eilte, auf halber Strecke stehen blieb, weil ich nur Unterwäsche trug, dabei fieberhaft überlegte, wer das wohl sein konnte. Was sollte ich sagen, damit niemand etwas merkte? Aber warum eigentlich? Ich hatte doch nichts Schlimmes getan. Ich wollte nur nicht über die Sache im Schlafzimmer nachdenken, die vielleicht nur ein Wahn war, eine Halluzination. Ich brauchte Zeit, um damit fertigzuwerden, mir selbst klarzumachen, ob ich schlief und in einem Albtraum herumtaumelte oder wach war und irgendwie in einer verrückt gewordenen Welt klarkommen musste.

Unterdessen war das Klingeln in Hämmern übergegangen. Dazu drang eine laute Frauenstimme durch die Tür: »Blanca! Blanca, bist du schon wach? Blanca!« Kaum hatte ich sie gehört, entfuhr mir genau der Satz, mit dem meine Mutter diese Störungen jedes Mal kommentierte: »Das ist doch der Gipfel!«

Vom Haken an der Badezimmertür nahm ich das Hauskleid meiner Mutter, wickelte mich in die gelblila geblümte Kunstseide ein und ging zur Tür. Gilipollas stand auf der Fußmatte und starrte mich an. Dann schnatterte sie los.

»Blanca, ich weiß, es ist Sonntag, es ist ein Tag der Ruhe, auch für unsereins, der nicht mehr früh heraus muss. Aber eine gute Hausfrau wie du ist ohnehin stets mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Daher hab ich gedacht, ich kann kurz reinschauen. Du bist ja sonst immer schon wie aus dem Ei gepellt, aber heute hab ich dich überrascht! Weil ich tatsächlich kein Krümelchen Zucker mehr im Haus habe. Blanca, das ist mir noch nie passiert! Ganz oben auf meiner Liste: Zucker. Wo ich doch so viel backe. Meinen Kaffee kann ich nicht trinken ohne zwei Löffel, gehäuft,...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • Gegenwartsliteratur • Generationenroman • Liebesroman • Madrid • Preis der Leipziger Buchmesse • Spanien • ST 4777 • ST4777 • Stuttgart • suhrkamp taschenbuch 4777 • Wirtschaftskrise
ISBN-10 3-518-74450-X / 351874450X
ISBN-13 978-3-518-74450-5 / 9783518744505
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 5,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99