In der Dunkelkammer (eBook)

Frühe Prosa 1971-1982. Werkausgabe Band 2

Markus Bundi (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
308 Seiten
Haymon (Verlag)
978-3-7099-3720-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In der Dunkelkammer -  Klaus Merz
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In Klaus Merz' früher Prosa zeigen sich bereits der zurückhaltende, eigene Ton, der hintergründige Humor sowie die schnörkellose und poetische Sprache, die sein gesamtes Werk prägen. Der zweite Band der Werkausgabe versammelt Prosatexte aus dem Frühwerk, darunter bislang unveröffentlichte Texte, die noch vor dem ersten Prosa-Band 'Obligatorische Übung' entstanden sind, sowie das für die Arbeit des Autors wegweisende Prosastück 'Latentes Material' und die erste lange Erzählung 'Der Entwurf'. Darüber hinaus enthält der Band den 'Zschokke-Kalender', das 1976 uraufgeführte Theater-Debüt.

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Unterkulm/Schweiz. Er debütierte Mitte der Sechzigerjahre mit Gedichten. Seither sind über dreißig Veröffentlichungen hinzugekommen: Gedichtbände, Kurzprosa und Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke, Novellen und kurze Romane, Bildbetrachtungen und essayistische Arbeiten. Merz wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis der Stadt Karlsruhe (1997) und dem Gottfried-Keller-Preis (2004) für das gesamte Werk. Seine Texte wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt und arbeitet als freier Schriftsteller in Unterkulm/Schweiz. Er debütierte Mitte der Sechzigerjahre mit Gedichten. Seither sind über dreißig Veröffentlichungen hinzugekommen: Gedichtbände, Kurzprosa und Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke, Novellen und kurze Romane, Bildbetrachtungen und essayistische Arbeiten. Merz wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis der Stadt Karlsruhe (1997) und dem Gottfried-Keller-Preis (2004) für das gesamte Werk. Seine Texte wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

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Frühe Texte (1971–1979)


Die Schifffahrt


Eine Bitterkeit war da. Im Mund und im Blut. Eine Bitterkeit, die nicht mehr wegzubringen war, und die auffiel an Sonntagen.

An Sonntagen auch ist die Angst größer. Und das Schlagen der Uhren wird hörbar. An Sonntagen wird man alt.

Sonntage laufen schneller ab, und auf den Seen fahren viele Schiffe. Aber sie fahren langsam. Die Züge erwarten ihre Ankunft kaum, und die Flugzeuge flitzen über den Teich, der den Schiffen gehört. Die Dampfer lassen ihre Sirenen tönen. Die sind heiser vom Alter.

Als wir uns entschlossen hatten, mitsamt unserer Bitterkeit das Festland zu verlassen, war es Sonntag. Und wir wussten nicht, dass Dampfer langsam sind und man auf dem Wasser den Sonntag vergisst, dass es da nur Fische gibt und ein Schiff, das von den Zügen nicht erwartet wird, und es war doch schon Abend. Ein riesiger Farbfleck lag die Sonne im See. – Unsere Einsamkeiten begannen im späten Licht gegeneinander zu schlagen. Die Bitterkeit entfiel den Händen, die begannen miteinander zu spielen.

Die Dampfmaschinen standen still. Das Schiff legte an. Eine Schiebebrücke führte an Land. Wir stiegen aus. Es war ein fernes Land, obwohl es kein fernes war, und wir wurden leicht und gut füreinander.

Über dem Hügel lag rot eine halbe Sonne. Den Strand entlang schritten wir ihr entgegen und sagten, hier müssten wir bleiben, in diesem Land ohne Bitterkeit und Sonntage und Angst und sagten es oft und sehr laut – bis die Sonne untergegangen war, der Tag zu sterben begann und über dem See eine tränenlose Trauer lag. Sie kroch langsam ans Ufer. – Es war Sonntagabend. Das letzte Schiff über den See legte an. Wir stiegen ein.

Vieles spricht für einen Hut


Ich trage nie einen Hut, weil ich den Wind liebe im Haar und die Sonne. Ich hatte noch nie einen Sonnenstich und vom Regen werde man schön, rufen mir oft Leute mit Schirmen und Hüten zu, schauen dabei fast etwas neidisch unter ihren seichten Krempen hervor, während ich mit Wasser in den Ohren eben darangehe, die Anschaffung eines Hutes zu erwägen.

Vorteile sähe ich viele: Menschen mit Hüten haben nie einen nassen Kopf. Und vor allem sehen sie erwachsener aus und gereifter. Sie machen den Eindruck, mit beiden Füßen auf dem Boden, im Regen zu stehen, da ihnen der Filz über den flatternden Ohren das nötige Gewicht verleiht. Es gelingt ihnen auch, maßvoller zu grüßen. Die rund ausholende Bewegung des Hutlüftens wird zur enthüllenden Geste eines still geschaffenen Kunstwerkes: ihr mild grinsendes Gesicht. Man muss das Lächeln der Totenmaske zu Lebzeiten einüben! Doch spätestens bei diesen Überlegungen hört meist der Regen auf, und der erste trocknende Windstoß genügt, meine Erwägungen wegzublasen, mein Haar wieder fliegen zu lassen.

Seit einiger Zeit jedoch droht ein neuer, ungeahnter Faktor meinen Ernst und mein fahrlässiges Verhalten Hüten gegenüber grundlegend zu verändern. Mein zunehmender Haarausfall beginnt leise für eine Kopfbedeckung zu sprechen. Ich werde mir einen Hut kaufen müssen. Man wird nie von ihm singen hören, da ich mir mit Sicherheit keinen dreieckigen, sondern einen mehr oder weniger runden erstehen werde, dunkel, mit herabhängendem Rand, gegen Regen, gegen Schnee und Kälte, gegen die aufkommende Kahlheit, die nicht jedermann auf Anhieb schon zu sehen braucht. Aus ähnlichen Gründen auch habe ich mir vor Jahren ein größeres Badekostüm angeschafft, eines mit Trägern, nachdem sie mir den Blinddarm entfernt hatten und die rötliche Narbe bis über die Gürtellinie der alten Hose hinausreichte.

Es wird mir sehr ungewohnt vorkommen, in ein Hutgeschäft zu treten. Und ich werde den Verkäufer ärgern beim Probieren meiner Kopfbedeckung. Er wird es nicht begreifen können, dass ich seine modisch feingeformten Filze schon beim ersten Aufsetzen vor dem Spiegel nach unten rande, um zu schauen, ob der Hut demjenigen meines verstorbenen Großvaters, den ich so gut mochte, gleichkommt. Die Geschichte meines Hut tragenden Ahnen werde ich dem Verkäufer nicht erzählen; auch er wird seine modischen Tipps zurückhalten angesichts dieses herabhängenden Randes. Ich werde rasch handeln, da es mir peinlich sein wird, hinter mir den etwas schmollenden Verkäufer zu wissen und vor mir mein ohnehin ungewohntes Gesicht unter düsteren Krempen. Ich werde das erstmögliche Modell kaufen, es dem Angestellten reichen, da es mir unanständig scheinen wird, den Hut einfach auf meinem Kopf sitzen zu lassen. Mit geschickten Händen wird er den Filz vor meinen Augen in seine Urform zurückspringen lassen, mit spitzem Mund noch ein paar Stäubchen aus den Dellen blasen und ihn mit letzter Sorgfalt in die große Tüte schieben. Ich werde bezahlen und mit dem Sack etwas unsicher auf die Straße treten, hoffen, dass mir jetzt niemand begegne. Ich werde an einer Ecke stehen bleiben. Es wird mich reizen, den Hut auszupacken, auf den Kopf zu setzen und zu tun wie immer, was ich nicht wagen werde auf offener Straße, und ohne die Stellen zu kennen, auf denen das Schweißband aufliegen soll. Mich vor ein Schaufenster zu stellen oder einen Taschenspiegel zu kaufen, scheint mir zu läppisch. Doch werde ich daran denken, in ein öffentliches WC zu treten, den Hebel auf besetzt zu drehen, den Hut aufzusetzen, den Papiersack ins Closett zu werfen, zu spülen, aber die Schüssel könnte überlaufen, der Knäuel nicht weggehen. Ich habe den Leuten, die öffentliche Anlagen in Ordnung halten müssen, die Arbeit nie erschweren mögen. Ich werde den Hut nicht aufsetzen, das Papier nicht wegwerfen, es nicht in die Hosentasche stopfen. Ich werde ohne Umwege nach Hause gehen, alleine vor den Spiegel treten, etwas aufgeregt und verlegen alle Hutmöglichkeiten auf meinem Kopf durchprobieren. Ich werde versuchen, den Hut zu lüften, an Großvater zu denken, und mir wieder ein Bild von mir zu machen.

Klavierkonzert


Als wir eintraten, war noch Licht im Saal. Da und dort wurde leise gesprochen, man studierte den blauen Programmbogen oder musterte die Neueintretenden, geleitete sie mit unauffälligen Blicken an ihren Platz. Du ließest mich vorausgehen.

Bei einigen Konzertbesuchern fiel die schräge Haltung ihres Kopfes auf. Sie warteten schweigend, saßen ruhig, die Beine übereinandergeschlagen.

Der Zuschauerraum dunkelte ein. Es wurde still. Wir saßen etwas verlegen auf zwei Plätzen am Rand. Von der Seite her betrat der Pianist die Bühne. Klein und beleuchtet neigte er sich in den verhaltenen Applaus hinein. Mit einem eleganten Ruck zog er sich an den Frackenden wieder in die Senkrechte zurück, trat vor den Stuhl, setzte sich zurecht. Sein blonder, lang gewachsener Haarkranz verströmte Eigenlicht. Die schwarzen Lackschuhe tasteten nach den Pedalen. Er schob die gestärkten Manchetten hinter die blassen Knöchel zurück und hob die Hände. Sein Instrument lag weit aufgeklappt da: ein geöffneter Blauwal. Ich hörte dich neben mir atmen.

Mit leichten Fingern begann der Pianist den vor ihm liegenden Fischleib nach seinen schwächsten Stellen abzutasten. Eine Hand schwang sich über die andere hinweg, sprang zurück, tänzelte an Ort und griff dann tief in den Kadaver hinein. Er warf sich dem Tier mit gesenktem Kopf und wehenden Haaren entgegen. Die Lider geschlossen, schlug er seine lockeren Fäustchen behände in das grinsende Tastengebiss.

Er ließ seine weißen Hände, die sich zusehends zu vermehren schienen, erbarmungslos auf den schweren Leib niedersausen, arbeitete sich immer tiefer in diesen Körper hinein, wirbelte Adern und Eingeweide wahllos in den verdunkelten Saal.

Venöses vermischte sich mit Arteriellem. Gedärm hing in die luzide Stirn blasser Zuhörerinnen. Blut stockte in den sanften Wimpern verschlossener Augen. Trangeruch durchwogte den Saal.

Unbeirrt lauschte das Riesenohr im Parkett.

Aus der Standvase stieg der dunkle Ast, beugte sich gediegen über den tönenden Fischleib. Kirschblüten hingen ins finstere Maul, in die aufgespaltene Schädeldecke, den klaffenden Rumpf. Blut netzte die feinen Kronblätter, ließ sie tiefrot erscheinen im grellen Scheinwerferlicht, das den schweißtriefenden Pianisten durchsichtig machte.

Mit reagenzgläsernen Fingern trippelte er lässig über die glitschigen Rippenpartien, legte sein Haupt für Augenblicke auf das mächtige Rückgrat, trank das Mark aus den Knochen. Er bäumte sich auf und sank noch einmal tief hinein, warf mit sicherer Geste die letzten Reste in den hinhorchenden Saal:

Hautfetzen, Milz und Hoden.

Erschöpft entriss er seine Ärmel den ausgeweideten Augenhöhlen des toten Tieres. Er drehte sich seitwärts ab, dem Publikum zu und blieb so lange stehen, bis ihn der tosende Beifall von der Bühne spülte.

Vielleicht hilft das Weitererzählen


Lieber Karl!

Danke für Deinen lieben und langen Brief. Ich habe ihn sicher schon zum dritten Mal gelesen heute Morgen und bin natürlich froh, dass Dich mein Brief auch ein wenig gefreut hat, wie Du sagst, will probieren, ob ich diesmal auch wieder etwas weiß für Dich. An der Ansichtskarte mit den...

Erscheint lt. Verlag 3.3.2016
Verlagsort Innsbruck
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Band 2 • Der Entwurf • Drama • Frühwerke • Humor • Jakob schläft • Latentes Material • Obligatorische Übung • poetisch • Prosa • Sammelband • Sammlung • Schweizer Autor • Theater • Zschokke-Kalender • Zweiter Band
ISBN-10 3-7099-3720-5 / 3709937205
ISBN-13 978-3-7099-3720-4 / 9783709937204
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