Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen (eBook)

Roman. Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
344 Seiten
Haymon (Verlag)
978-3-7099-3703-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen -  Natalka Sniadanko
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THELMA UND LOUISE IN BERLIN - FRECH, LEBENDIG, ÜBERRASCHEND. DIE GESCHICHTE ZWEIER FRAUEN VOR DEN AUFREGENDEN KULISSEN LWIWS UND BERLINS Chrystyna und Solomija sind jung, klug und selbstbewusst, nur mit der persönlichen Erfüllung hapert's noch. In ihrem Sinn für Abenteuer stehen sie Thelma und Louise in nichts nach, also beschließen die beiden Freundinnen, aus Lwiw wegzugehen. Sie machen sich auf Richtung Athen, auf halbem Weg aber bleiben sie in Berlin hängen. Zwischen aufwühlenden Affären und eigenwilligen Arbeitgebern schlagen sie sich durchs neue Leben: Es ist anders. Auch besser? SEXUELLE BEFREIUNG STATT DEM ZWANG, ERWARTUNGEN GERECHT ZU WERDEN Ein neuer Ort, neue Eindrücke - neue Fragen: Inspiriert von der neuen Umgebung, werden alte Gewissheiten erschüttert und Chrystyna und Solomija vor große, aber auch ganz persönliche Fragen gestellt. Wie verändern sich die Erwartungen an Liebe und Begehren, an Nähe und Freundschaft? Wie der Blick auf Sex mit Frauen und Männern? Wie gehen sie mit den Erwartungen an Frauen um, die im Patriarchat vorgesehen sind? Welche Lebenswege, in welche Zukunft wollen sie gehen? Und Freiheit - was bedeutet das überhaupt? Mutig, wach und unverblümt erzählt Natalka Sniadanko in ihrem Roman von zwei Frauen, die ausgezogen sind zu leben, und breitet den Duft der beiden Städte Lwiw und Berlin über ihre Geschichte. Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel

Natalka Sniadanko legt einen ordentlichen Spagat hin, auch wenn Tanzen nicht ihre Profession ist. Geboren 1973 in Lwiw, dem 'Berlin der Westukraine', lebt sie heute auch dort. Studiert hat sie aber auch in Freiburg im Breisgau, wo sie sich mit der deutschen Sprache und Mentalität hervorragend angefreundet hat. Sie ist Autorin, Journalistin und Übersetzerin. In letzterer Funktion hat sie von Herta Müller über Günter Grass und Elfriede Jelinek bis Judith Hermann ein breites Repertoire. Ihre eigenen Werke haben in der Ukraine längst Kultstatus, darunter die 'Sammlung der Leidenschaften', in der sie mit sprühendem Witz ihre Erfahrungen als Ukrainerin in Freiburg schildert, ebenso wie der Roman 'Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen', der bei Haymon nun erstmals auf Deutsch erscheint.

Natalka Sniadanko legt einen ordentlichen Spagat hin, auch wenn Tanzen nicht ihre Profession ist. Geboren 1973 in Lwiw, dem "Berlin der Westukraine", lebt sie heute auch dort. Studiert hat sie aber auch in Freiburg im Breisgau, wo sie sich mit der deutschen Sprache und Mentalität hervorragend angefreundet hat. Sie ist Autorin, Journalistin und Übersetzerin. In letzterer Funktion hat sie von Herta Müller über Günter Grass und Elfriede Jelinek bis Judith Hermann ein breites Repertoire. Ihre eigenen Werke haben in der Ukraine längst Kultstatus, darunter die "Sammlung der Leidenschaften", in der sie mit sprühendem Witz ihre Erfahrungen als Ukrainerin in Freiburg schildert, ebenso wie der Roman "Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen", der bei Haymon nun erstmals auf Deutsch erscheint.

„Heute früh wurde in der Salzstraße neben dem Haus Nummer 5 die Leiche einer Frau gefunden, die sich aus einem Fenster des dritten Stocks gestürzt hat. Zuvor hatte sie die Wohnungsinhaberin, die zweiundneunzigjährige Hanna Kopyryz, vergiftet“, las Chrystyna auf der ersten Seite der Zeitung, die auf dem Küchentisch lag. „Ersten Ermittlungen zufolge handelt es sich bei der Toten höchstwahrscheinlich um eine illegale Migrantin aus der Ukraine, die zweiunddreißigjährige Solomija Krawez. Sie war die Pflegerin des Opfers.“

Solomija Krawez teilte sich mit Chrystyna ein Zimmer. Noch gestern Morgen hatten sie sich beim Frühstück unterhalten.

„Was soll ich denn am besten für den Kleinen mitgeben, ein ferngesteuertes Auto oder Legosteine?“, hatte Solomija sie gefragt.

Chrystyna versuchte, sich ihren schlanken Körper mit den leicht krummen Beinen und dem Muttermal unter dem rechten Knie auf dem Pflaster der Salzstraße liegend vorzustellen. Stattdessen erinnerte sie sich nur an eine grelle Packung preisreduzierter Legosteine, die sie unterwegs in einem Supermarkt gesehen hatte. Sie hatte sogar versucht, Solomija anzurufen, sie aber nicht erreicht.

Chrystyna las die Meldung noch einmal, als hoffte sie, dass sich die Buchstaben abnutzen würden, wenn man sie nur oft genug las, dass sie langsam aufgesogen werden und zwischen den Papierfasern zerfließen, zu großen schwarzen Blumen vor grauem Hintergrund werden, aufblitzen und verdampfen, und dann alles wieder wäre wie früher, ohne die vergiftete alte Frau und die Kreidekonturen eines fremden Körpers auf dem Pflaster.

Fast mechanisch machte sich Chrystyna wieder an die Arbeit, verzichtete auf ihre Pause mit Kaffee und Zeitung, die sie sich immer gestattete, wenn sie das Frühstücksgeschirr der Bewohner der Montagswohnung weggeräumt hatte. Ihre Arbeitgeber waren die ehemaligen Arbeitslosen und jetzigen Inhaber eines angesagten Naturkosmetikladens Bettina und Rudolf. Bettinas Gesicht war trotz der unregelmäßigen Züge schön. Dieses Gesicht musste man einfach ansehen – wie sich seine zu lange Nase, der zu große Mund und die hervorstehenden Augen mit einem Mal zu einem harmonischen Ganzen fügten und ein inneres Selbstbewusstsein ausstrahlten, ohne das jede Schönheit unzulänglich, welk und unecht erscheint. Besonders schön war Bettinas Lächeln, um das sich, wie um einen unsichtbaren Magneten, die Gesichtsmuskeln strafften, sich symmetrisch und ebenmäßig ausrichteten, so wie sich manchmal müde Kassiererinnen im Supermarkt aufrichten, wenn sie den aufmerksamen und interessierten Blick eines Mannes bemerken. Und die Männer ziehen in diesem Augenblick unwillkürlich den Bauch ein und heben ihre Hand zum Kopf, um mit einer theatralischen Geste in der Luft die fließende Linie nachzuziehen, an der attraktiven Dichtern und Schauspielern das Haar in die Stirn fällt. Diese Geste bleibt auch bei jenen gleich, deren Haar seine fließende Linie längst verloren hat, deren Haar nie ausgesehen hat wie das von attraktiven Dichtern und Schauspielern, und sogar bei jenen, die schon längst keine Haare mehr haben.

Rudolf war nicht sehr groß und blond, er hatte ausgeblichene Augenbrauen und ließ schwermütig die Schultern hängen. Auf seinen Wangen breiteten sich fast immer, wie Borschtsch auf einer Tischdecke, unregelmäßige rote Flecken aus. Wenn Rudolf sprach, schaute er irgendwohin zur Seite. Er hatte gelbe Zähne und nahezu farblose grau-blaue Augen. Er kaute auf seinen Nägeln und Lippen herum, versuchte aber, das im Beisein der Kinder zu vermeiden.

Bettina und Rudolf hatten beide an der philosophischen Fakultät einer kleinen Provinzuniversität studiert und ein paar Jahre lang erfolglos versucht, in ihrem Bereich Arbeit zu finden. In der Zwischenzeit hatten sie zwei Kinder bekommen und waren von dem Universitätsstädtchen in Bettinas Heimatstadt umgezogen. Ihre Mutter hatte sich scheiden lassen und war ins Ausland gegangen, sobald die Kinder volljährig waren. Chrystyna hatte sie sogar einmal kennengelernt. Die stille und zugleich aktive Frau mit dem üppigen Busen und festen Hintern hatte sich fünf Fremdsprachen angeeignet, während sie mit ihren drei Kindern zu Hause saß. Sie gehörte zu dem Typ von Frauen, die nie vergessen, wie viel Zucker man in den Kaffee gibt, und die, wenn sie einen zum zweiten Mal treffen, den Kaffee ohne eine weitere Frage so zubereiten, als hätten sie mehrere Jahre mit einem zusammengelebt. Aber aus irgendeinem Grund reagiert man auf diese halbmechanische Fürsorglichkeit, für die sie nicht einmal Dankbarkeit erwarten, eher gereizt als begeistert.

„Weißt du, es ist gar nicht mal so schlecht, Hausfrau zu sein“, sagte sie. „Du machst morgens die Kinder fertig, und wenn sie in der Schule sind, hast du eine Menge Zeit für dich. Ich lese ja gern und lerne Fremdsprachen.“ Und sie lächelte mit einem genauso warmen Lächeln wie Bettina, von dem das Licht, das durch die Scheiben fiel, heller wirkte und sich Chrystyna unwillkürlich aufrichtete.

Bettinas Vater gefiel es offensichtlich auch besser, zu Hause zu sitzen und Bücher zu lesen, als eine Baufirma zu leiten. Also kaufte er sich nach der Scheidung ein Häuschen und ging vorzeitig in Rente. Jetzt saß er die ganze Zeit zu Hause. Zumindest hatte Chrystyna diesen Eindruck, denn während der zwei Jahre, in denen sie an verschiedenen Tagen und zu verschiedenen Zeiten zum Putzen gekommen war, hatte sie es nie erlebt, dass er irgendwohin gegangen wäre oder zumindest Anstalten gemacht hätte, das Haus zu verlassen. Er war ein kleiner, dürrer Mann mit einer Hakennase. Wenn man sich mit ihm unterhielt, hatte man immer den Eindruck, er würde dabei insgeheim nach einem Loch suchen, in dem er verschwinden und schweigen konnte, sollte es seinem Gesprächspartner plötzlich einfallen, ihm eine Frage zu stellen.

Bettinas Mutter lebte jetzt in ihrer eigenen Villa am Meer und arbeitete als Immobilienmaklerin.

Als sie finanzielle Schwierigkeiten hatten, waren Bettina und ihr Mann zu Bettinas Vater gezogen und dann dort hängen geblieben.

Bettina und Rudolf wirkten wie ein glückliches Paar. Sie verbrachten nicht nur die Arbeitszeit in ihrem Laden gemeinsam, sondern auch die Abende. Einen Fernseher hatten sie nicht, dafür eine Menge Brettspiele, CDs und ein Klavier. Abends unterhielten sie sich, tranken Tee und lasen sich gegenseitig vor. Rudolf spielte gern Klavier, und Bettina häkelte.

Manchmal, wenn sie allein in der Wohnung war, gestattete sich Chrystyna auch ein paar Minuten am Klavier.

Wenn Rudolf und Bettina zu Hause waren, luden sie Chrystyna zum Kaffeetrinken ein, fragten, wie es ihr gehe, boten ihr an, die ausgelesene Tageszeitung mitzunehmen, fragten, ob ihr die Bücher gefallen hätten, die sie sich das letzte Mal ausgeliehen hatte, und empfahlen ihr neue. Sie sahen nie auf die Uhr und bezahlten sie stets für die vereinbarten vier Stunden. Sie kontrollierten auch nicht, wie sorgfältig sie Staub gewischt oder die Fenster geputzt hatte, sie waren mit Chrystynas Arbeit voll und ganz zufrieden und es war ihnen sogar unangenehm, wenn Chrystyna putzte, während sie noch frühstückten. Anfangs hatte sich Chrystyna darüber gewundert, aber dann wurde ihr klar, dass Rudolf und Bettina zu den Leuten gehören, die eine Putzfrau nicht brauchen, um ihre Wohnung in mustergültiger Ordnung zu halten. Nach all den Jahren, die sie sich selbst mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten mussten, brauchten sie die Gewissheit, dass auch sie es sich endlich leisten konnten, jemanden anzustellen. Rudolf hatte sich während seiner Arbeitslosigkeit etwas als Taxifahrer dazuverdient, noch dazu illegal, um sein Arbeitslosengeld nicht zu verlieren, und Bettina hatte genauso illegal abends in dem pakistanischen Restaurant um die Ecke gekellnert. Jetzt schafften sie es irgendwie, ihre postproletarische Solidarität mit dem Stolz frischgebackener Unternehmer zu vereinbaren ebenso wie den Drang, sich etwas zu leisten, was früher unerreichbarer Luxus gewesen war, mit dem Versuch zu vereinen, denen gegenüber loyal zu bleiben, für die jedweder Luxus immer noch unerreichbar war. Das wäre sicher einfacher gewesen, wenn ihre Putzfrau nicht Chrystyna gewesen wäre, die ein Musikstudium absolviert und jahrelang unterrichtet hatte, sondern eine rustikale Frau vom Lande. Denn dann hätten sie sich darüber freuen können, dass die Jahre, die sie mit dem Studium verbracht hatten, nicht umsonst gewesen waren, und die soziale Differenzierung gerechterweise entlang der Grenzlinie von persönlicher Entwicklung und Bildung verläuft. Aber Chrystyna passte nicht in dieses bequeme Ordnungssystem, und deshalb mischten sich in ihrer Beziehung zu ehrlichem Wohlwollen und demokratischer Nachsicht kaum merkliche Schuldgefühle.

Chrystyna schätzte ihre Art, aber wenn sie allein in der Wohnung war, arbeitete es sich deutlich leichter. Denn nachdem sie freundlich miteinander geplaudert, Kaffee getrunken und die Zeitung gelesen hatten, kam früher oder später der Moment, wo die Hausherren auf die Veranda gingen und sich sonnten, oder ein Brettspiel ausbreiteten und mit den Kindern spielten, während sie Eimer und Lappen aus der Kammer holte. Und dann dachte sie, dass es ohne das gemeinsame Kaffeetrinken besser wäre, ehrlicher, brutaler und ohne überflüssige Höflichkeiten.

Obwohl Chrystyna auf all diese Feinheiten mittlerweile längst nicht mehr so empfindlich reagierte wie am Anfang. Vielleicht deshalb, weil sie sich ihre Kunden jetzt aussuchen konnte und nicht mehr jede Arbeit annehmen musste. Außerdem hatte sie gelernt, gleich beim ersten Gespräch die Leute, bei denen man gut arbeiten konnte, von diversen Freaks zu unterscheiden, die sie nur brauchten, um mit ihren eigenen Problemen und Komplexen fertigzuwerden.

...

Erscheint lt. Verlag 16.2.2016
Übersetzer Lydia Nagel
Verlagsort Innsbruck
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 21. Jahrhundert • Belletristische Darstellung • Berlin • Frauenliteratur • Geschichte 20. Jahrhundert • Lemberg • Migration • Satirisch • Ukraine • Unterhaltung
ISBN-10 3-7099-3703-5 / 3709937035
ISBN-13 978-3-7099-3703-7 / 9783709937037
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