Die Liebe meines Vaters (eBook)

Roman
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2016 | 1. Auflage
368 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-42711-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Liebe meines Vaters -  Sabine Eichhorst
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Als Loris Schorb 1930 in Budapest aus dem Zug steigt, verliert er sein Herz: Erst an die Stadt mit ihren Kuppeln und Brücken, ihrem pulsierenden Leben, den freundlichen Menschen, dem Duft von Mokka und warmem Mohnstrudel. Dann an die eigenwillige und kluge Éva, die zu allem eine Meinung hat, auch zur Politik. Drei Jahre lang reist Loris immer wieder nach Budapest - doch auch Éva liebt ihre Heimatstadt, und über das ferne Deutschland senkt sich bereits der Schatten des Nationalsozialismus. Kann es für sie und Loris eine gemeinsame Zukunft geben? Ende der 1950er Jahre verliebt sich in München die junge Maria in den Ungarn János. Als sie ihm eines Tages alte Familienfotos zeigt, deutet er auf eine junge Frau - und erkennt in ihr seine Tante, Éva. Der Mann an ihrer Seite ist Marias im Krieg verschollener Vater Loris ...

Sabine Eichhorst studierte Germanistik und Soziologie und arbeitete lange als Journalistin für verschiedene Radioprogramme der ARD. Für ihre Reportagen wurde sie 2002 mit dem CIVIS-Medienpreis und 2011 mit dem Herbert-Quandt-Medienpreis ausgezeichnet. Seit 1993 schreibt sie auch Bücher und hat bis heute über zwanzig Sachbücher und Memoirs veröffentlicht, darunter Ein Tagwerk Leben - Erinnerungen einer Magd, das zum Bestseller wurde. Die Liebe meines Vaters ist ihr Romandebüt.

Sabine Eichhorst studierte Germanistik und Soziologie und arbeitete lange als Journalistin für verschiedene Radioprogramme der ARD. Für ihre Reportagen wurde sie 2002 mit dem CIVIS-Medienpreis und 2011 mit dem Herbert-Quandt-Medienpreis ausgezeichnet. Seit 1993 schreibt sie auch Bücher und hat bis heute über zwanzig Sachbücher und Memoirs veröffentlicht, darunter Ein Tagwerk Leben – Erinnerungen einer Magd, das zum Bestseller wurde. Die Liebe meines Vaters ist ihr Romandebüt.

~ 1931 ~


Wenn ein Mann sein Herz verliert, verliert er dann auch seinen Kopf?« Éva drückte das Bügeleisen auf den Filz und hörte, wie ihr Vater die Morgenausgabe des Pester Lloyd sinken ließ. Ohne aufzusehen, wusste sie, dass er in ihren Zügen nach etwas suchte, das ihm verriet, warum sie diese Frage stellte.

»Es kommt vor«, sagte György Virág und lehnte sich zurück. Bedächtig faltete er die Zeitung, fast penibel strich er mit der flachen Hand über den Falz, zupfte an den Rändern der Seiten. »Warum fragst du?«

Éva schüttelte den Kopf. Im Radio lief leise Kammermusik, und durch das Fenster über der Werkbank sah sie, wie draußen der Himmel aufriss und ein Bündel Sonnenstrahlen schräg auf die Dächer der Nachbarhäuser fiel. Vorsichtig fuhr sie mit der Spitze des Bügeleisens über die Ränder des Flors; später würde sie daraus die Krempe fertigen. Sie verkauften jetzt weniger Hüte. Die besser gestellten Damen kamen noch, doch sogar sie wählten statt Haarfilz öfter preiswerten Wollfilz. Mehrere Salons hatten bereits geschlossen. Auch in den Miederwaren-, Tuch- und Porzellangeschäften lichteten sich die Regale, und auf den Märkten stiegen die Preise von Woche zu Woche. Die Musikstunden ihres Vaters, seine Arbeit als Korrepetitor, die gelegentlichen Konzerte brachten immer weniger Geld in die Familienkasse. Immerhin hatte man ihnen bislang nicht den Strom abgestellt. Éva schämte sich, weil sie sich gefreut hatte, als zwei Nachbarinnen in der vergangenen Woche Trauerhüte bestellt hatten. Wie alle in der Elisabethstadt hatte sie das Mädchen gekannt – nun sah sie seine Eltern in einem Meer aus Schmerz versinken. Wie alle wusste sie, dass die Polizei den Leichnam immer noch nicht freigegeben hatte, obwohl der Rabbi und andere Gemeindemitglieder mehrfach bei den Behörden protestiert hatten, denn nur wenn die Tote umgehend beigesetzt wurde, konnte ihre Seele ewige Ruhe finden. Wie alle kannte sie die Gerüchte, man habe das Mädchen in einem Treppenhaus gefunden, mit Flugblättern in der Tasche, und wie alle wusste sie, dass das offizielle Schweigen bedeutete, dass sich die Staatspolizei eingeschaltet hatte. Im vergangenen Jahr hatte es drüben in Buda einen ähnlichen Fall gegeben. Bis heute war der Täter nicht gefasst.

»Hat es mit den Briefen zu tun?«, fragte György Virág.

»Au!« Éva sog Luft durch die Zähne. Sie stellte das Bügeleisen ab und fuhr mit der Zungenspitze über die verbrannte Haut ihrer Fingerkuppe. Sie war ungeschickt, schon den ganzen Vormittag.

Hatte ihr Vater es bereits bemerkt?

Sie wischte sich eine Strähne aus der Stirn. Der Stoff ihrer Rayonbluse klebte ihr auf der Haut. Obwohl sie das neue Dampfbügeleisen nicht mit Kohlen befüllen und darum den Ofen nicht mehr anheizen musste, war die Luft in der Werkstatt stickig wie in einer Heißmangel.

Sie durchquerte den Raum und öffnete das Kippfenster über dem Wasserhahn.

»So, so.« Ihr Vater richtete sich in seinem Sessel auf. Freitags gab er keinen Unterricht, trotzdem trug er frisch gebügelte Hosen und ein weißes Hemd. Sein Haar war gescheitelt, sein Schnurrbart gestutzt. Sein rechter Fuß steckte in einem leicht ausgetretenen, rahmengenähten Halbschuh; ein Schuh, in dem man nie den Boden unter den Füßen verlor, hatte der Schuhmacher gesagt, damals vor fünf Jahren, als alles noch einfacher gewesen war. Das linke Hosenbein war hochgeschlagen.

Éva zupfte den Filzstreifen vom Bügelbrett. Sie bemühte sich, ihre Hände ruhig zu halten, ging zur Werkbank und drapierte ihn um den Stumpen, den sie am Morgen über die hölzerne Hutform gespannt hatte. Sie zupfte und zog. Sie stauchte und streckte. Sie mochte es, wenn der Stoff sich unter ihren Fingern fügte, wenn er sich in Form bringen ließ, sie mochte die stille Versenkung der Arbeit und liebte es, weichen Glatthaarfilz, hauchdünnen Tuchfilz, seidige Ripsbänder in ihren Händen zu spüren, feine Spitze und zarte Federn.

Doch heute fügte sich nichts.

Die Krempe war zu kurz. Mit dem Ellenbogen schob sie die Hutform beiseite und griff nach der Kiste mit den Resten. Sie suchte und nahm Maß, probierte und sortierte. Sie sah nicht auf und spürte, wie der Blick ihres Vaters ihren Bewegungen folgte.

»Ein schlechter Tag?«

Sie hörte, wie er an seinem Pfeifenstiel kaute.

»Nem.« Sie schüttelte den Kopf und legte die Filzreste beiseite. Ihre Schultern schmerzten, und sie wischte ihre Hände an der Schürze ab und massierte ihren Nacken. Sie ging hinüber zum Materialschrank, tat, als suche sie etwas, was sie in den sorgfältig beschrifteten Schachteln nicht finden konnte. Sie wollte nicht, dass ihr Vater ihr Gesicht sah.

»Évi?«

Sie schloss den Schrank, ging zur Tür, die Werkstatt und Laden verband, und stieg die drei Stufen hinunter. Im Schaufenster lag der bereits fertige Trauerhut. Vorsichtig nahm sie ihn aus der Auslage. Draußen lief ein Junge über die Straße, in jeder Hand eine Flasche Bier, und der alte Herr Moskowitz, der in der Wohnung über der Apotheke lebte und der Chewra Kadischa, der jüdischen Beerdigungsgesellschaft, vorstand, spazierte mit einer leeren Kanne zum Milchgeschäft. Eine Frau, die sie noch nie gesehen hatte, kehrte den Platz vor der Synagoge, und vom Boulevard näherte sich ein Lastwagen mit Kalk, hinter sich eine Staubwolke. Die Winterlinde auf dem Trottoir war voller Knospen. Bald würden ihre Blätter wieder Schatten auf die Bank werfen. Die Bank, auf der er gewartet hatte.

Den ganzen Winter hatte Loris ihr Briefe geschickt. Er schrieb über das Leben in Deutschland und die Mitschüler am Lehrerseminar, über seine Schwestern, den aufbrausenden Vater, die strenge Mutter, die er sehr liebte. Er schrieb von Büchern, die er las, und Konzerten, die er hörte. Zu Weihnachten schenkte er ihr Noten; als sie Chopins Minutenwalzer spielte, warf ihr Vater ihr einen fragenden Blick zu. Sie dachte oft an die Spaziergänge, nach denen er sie immer noch auf einen Schwarzen ins Café Lukács oder ins Művész auf der Andrássystraße eingeladen hatte, wo sie eingehüllt in Rauch und Stimmengewirr über Musik und Bücher diskutierten und über das Leben, das vor ihnen lag. Manchmal bemerkte sie, wie es ihn überraschte, dass sie auch in politischen Fragen eine klare Meinung hatte. Das amüsierte sie. Zugleich schätzte sie seine Klugheit und die Ernsthaftigkeit, mit der er über das Leben nachdachte. In ihren eigenen Briefen blieb sie jedoch seltsam belanglos. Plaudereien – als berichte sie einer entfernten Cousine. Lag es an der Distanz? Oder daran, dass manche Wörter auf dem Papier so bedeutungsvoll klangen, dass sie vor ihnen erschrak?

Sie tastete nach einem Hustendrops in ihrer Schürze.

»Au!« Sie zog die Hand aus der Tasche – ein roter Tropfen quoll unter dem Nagel ihres Zeigefingers hervor. »Verdammt.« Mit zusammengebissenen Lippen legte sie den Hut in die Auslage zurück und löste eine Stecknadel aus dem Innenfutter ihrer Schürze.

»Mir scheint, mein Kind, du hast auch den Kopf verloren.« Nebenan streckte ihr Vater sein Bein aus; sie hörte das Schaben einer Sohle auf den Dielen. Éva schluckte und presste die Zeigefinger gegen die Schläfen.

Dann wandte sie sich um und stieg die Stufen hinauf.

Ihr Vater hatte die Hände über der Zeitung gefaltet. Die Brille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht, und seine grünen Augen ruhten auf ihr. Sie sah den Leberfleck am Rand seines Jochbeins und die Falten auf seiner Stirn, die sich allmählich einfurchten. Sie sah, wie sich seine Lippen kräuselten, sah die Zärtlichkeit in seinem Blick, sein grenzenloses Vertrauen. Eigentlich hatte er sich einen Sohn gewünscht, doch dann hatte er sie auf seine täglichen Spaziergänge durchs Viertel mitgenommen. Er nahm sie mit zu seinen Orchesterproben, wo sie auf einer Decke schlief, im Arm einen Paukenschlägel. Später, nach dem Krieg, als die Ärzte ihm das versehrte Bein abgenommen hatten, trug sie seine Angel hinunter zur Donau und begleitete ihn zum Schachspielen ins Kaffeehaus. Als Ada, Ágnes und Irén geboren wurden, nahm ihre Mutter sie mit in die Werkstatt und ließ sie in einem Korb unter der Werkbank schlafen. Als sie größer wurden, spielten sie mit Puppen aus Filzresten. Sie wurden Muttertöchter, und wenn Éva ehrlich war, hatte es sie immer gelangweilt, mit ihren kleinen Schwestern zu spielen. Sie fuhr lieber Fahrrad. Sie brachte sich das Lesen bei und lernte Klavierspielen und lauschte den Geschichten, die ihr Vater über Mozart, Bartók und Liszt erzählte. Über Beethovens Vater, der trank, und seine Mutter, die jung starb, weshalb Ludwig früh seine beiden Brüder großziehen musste.

»Dieses Unbedingte, dieses Existenzielle spürst du in seiner Musik«, sagte ihr Vater mit einer Eindringlichkeit, die Éva erschauern ließ.

Als sie älter wurde, debattierten sie über Bücher, die sie lasen, über Lessing und Thomas Mann, der eineinhalb Jahre zuvor den Literaturnobelpreis bekommen hatte, über Sándor Petőfi und Mihály Vörösmarty. Sie teilten sich die Zeitung und diskutierten über Politik. Ihr Vater kam aus einer politisch engagierten Familie, doch nach Trianon gab es keine Partei mehr, der er sich zugehörig fühlte. Die regierende Einheitspartei war ihm zu konservativ und nationalistisch, die Linke zu orthodox, die liberalen Parteien hielt er für bedeutungslos, und die immer offener vertretenen revanchistischen Tendenzen nannte er, dessen Heimatstadt Bratislava nun zur Slowakei oder zur Tschechoslowakei gehörte, menschenverachtend und gefährlich. Gefährlicher schien György Virág nur noch die Unversöhnlichkeit, mit der alle aufeinander losgingen, und das Tempo, in dem das Land verelendete.

Im Vorbeigehen streifte Éva seine Schulter.

Ihr Vater...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2016
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ada Molnár • Budapest • Deutschland • Elsa Schorb • Éva • Feldpostbrief • Hotel Eden • János • Loris Schorb • Maria Schorb • Ostfront • Roman • Spurensuche • Ungarn • Vermächtnis • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-426-42711-7 / 3426427117
ISBN-13 978-3-426-42711-8 / 9783426427118
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