Morgens leerer, abends voller (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
336 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-42831-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Morgens leerer, abends voller -  Tobias Keller
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Ey Alder, ischwöre Bei Junglehrer Fabian Dreher, 28, läuft es gerade gar nicht rund. Seine Freundin Tine kehrt früher als geplant von ihrem Selbstfindungstrip aus Mexiko zurück: mit »Poseidon« im Gepäck, einem arroganten, fetten Kater. Außerdem hat Fabian im Vollsuff mit einem Lehrer-Kollegen gewettet, in der Lernstandserhebung mit seinen Schülern besser abzuschneiden. Hier geht es nicht nur um die Ehre, sondern auch um Fabians Auto und um seine Verbeamtung. Und nicht zuletzt um Fabians schwierige, äh, besondere 9a ...

Tobias Keller, geboren 1989 in Oberhausen (NRW), studiert in Bochum Deutsch und Pädagogik auf Lehramt. >Morgens leerer, abends voller< ist Kellers Debüt. 

Tobias Keller, geboren 1989 in Oberhausen (NRW), studiert in Bochum Deutsch und Pädagogik auf Lehramt. ›Morgens leerer, abends voller‹ ist Kellers Debüt. 

1


»Tja, wir tragen alle unser Kreuz …«

Ich sage es und streiche mit meinem Bleistift den Namen »Erich Ribbeck« auf meinem Block durch. Ich würde ja einen Radiergummi benutzen, aber ich habe keinen. Und wenn doch, liegt er irgendwo in meinem Rucksack unter dem Pult und ich müsste den Stuhl zurückschieben, mich bücken, kramen und suchen. Das alles ist es mir nicht wert. Es geht ja nicht darum, ein makelloses Kunstwerk zu erschaffen, sondern die beste Deutsche Fußball-Nationalmannschaft aller Zeiten zusammenzustellen. Das ist Arbeit, das ist ein Prozess. Da darf man schon mal was durchstreichen, was daneben schreiben oder ein bisschen herumschmieren. Und zur besten Elf aller Zeiten gehört natürlich auch ein Trainer. Allerdings hat mich der Gedanke an Erich Ribbeck so sehr verwirrt, dass ich ihn austauschen muss. Ich schreibe Berti Vogts darüber, streiche Berti Vogts wieder durch, kaue am Ende meines Bleistifts und denke nach. Mein bester Kumpel Gibbel hat um einen Kasten Bier gewettet, dass er eine bessere Elf aufstellen könnte als ich. Aber da hat er sich verzockt. Da hat er größere Chancen, einen dicken Haufen Einhornkacke im Stadtpark zu finden, als mich in meiner Königsdisziplin zu schlagen. Es steht nämlich außer Frage, dass ich mehr Ahnung von Fußball habe als Gibbel. Er behauptet zwar immer das Gegenteil, aber objektiv gesehen …

Ach ja, und nebenbei sitze ich den ersten Elternsprechtag meines Lebens ab. Zugegeben, als Schüler habe ich meine Mutter mal zu einem begleitet, das war in der fünften Klasse. Danach täuschte ich allerdings immer wieder ominöse Krankheiten vor. Zum Beispiel Schmerzen im Hüftbereich. Oder Körperteillähmungen. Stiche im Herzen. So in der Art. Ich wollte einfach nicht mehr mit. Es war eine so bedrückende Langeweile, die hatte mich schon als Zehnjähriger zu Boden gezwungen. Außerdem konnte ich fast jedes Wort mitsprechen. Zu faul, zu verträumt, hört nicht zu, quatscht zu viel. Aber vor allem zu faul. Dann doch lieber wegen meiner Scheinbeschwerden ein paar Stunden im Krankenhaus auf den Befund des Herzspezialisten warten und Bravo Sport lesen.

Damals konnte ich ja nicht ahnen, dass diese Veranstaltung aus der Lehrerperspektive noch einschläfernder ist. Ich bin so unglaublich müde und kolossal gelangweilt, es ist kaum in Worte zu fassen. Natürlich liegt das zu einem großen Teil auch daran, dass ich mich gestern Abend mit meinem Lehrerkollegen Herbert zum »Komma-Saufen« getroffen habe. Bei diesem Spiel korrigieren wir die Deutsch-Diktate unserer Schüler und müssen bei jedem Komma-Fehler einen Sambuca trinken. Bei unseren Klassen keine allzu gute Idee, da prinzipiell eher ins Blaue geraten wird. Und mit einem ordentlichen Kater ist es nun mal nicht so einfach, am Elternsprechtag die Augen aufzuhalten und zuzuhören. Würde ich die Mannschaftsaufstellung nicht machen, wäre ich garantiert vor einer Stunde weggenickt. Mein bis hierhin brutalster Müdigkeitsschub kam am frühen Nachmittag, kurz nachdem ich die Klinke der Klassenzimmertür heruntergedrückt und meine dritte Aspirin-Tablette eingeworfen hatte. Wegen der fast vollständig mit Grammatikregelpostern verklebten Fensterscheiben war es etwas dämmrig im Raum und die umherfliegenden Kreidepartikelchen erzeugten einen nebligen Dunst über dem verklebten PVC-Boden. Das leise Klacken der kaputten Heizung war das einzige Geräusch, das ich wahrnahm. Ich stand bestimmt zwei Minuten apathisch im Türrahmen, so gespenstisch war der Anblick. Mit dem Wissen, dass hier die nächsten drei Stunden Dutzende Eltern auf mich einreden würden, wurde es noch gruseliger. Doch ich hatte keine Wahl. Ich betrat den Raum wie so ein dusseliger College-Student in einer Szene aus einem amerikanischen Horrorfilm, bei der man denkt: Wieso geht der Typ jetzt da rein? Da ist er doch selbst schuld …!

 

Bevor der Elternsprechtag angefangen hatte, war ich mit meinen Kräften also schon am Ende. Dabei musste ich heute gar nicht so viel unterrichten. Und mit »gar nicht so viel« meine ich »praktisch überhaupt nicht«. Es ist Mittwoch und da habe ich dieses Schuljahr nur eine einzige Stunde. Deutsch in Klasse sechs. Letzte Woche war die Klassenarbeit, wir sind mit dem Stoff durch, es gibt nicht mehr viel zu tun. Also habe ich einfach irgendeinen Film über Wühlmäuse in den DVD-Player geschmissen. Das war nicht wirklich anstrengend. Und trotzdem …

»Sie musse mal erkläre!«

Ich komme zu mir, hebe den Kopf und sehe in zwei verfinsterte Augenpaare. Keine Ahnung, was ich gerade mal erklären soll, allerdings wurde dies heute schon mehrmals gefordert und ich habe immer das Gleiche gesagt.

»Ja, klar, Frau, äh, aber sehen Sie es doch mal von meiner Seite.«

»… und nicht so subjektiv!«, hätte Erich Ribbeck höchstwahrscheinlich noch hinterhergeschickt. Doch er ist nicht hier und kann mir nicht helfen.

Ich unterdrücke ein Gähnen und überlege, was ich darüber hinaus noch antworten könnte, auch wenn ich es langsam leid bin. Es zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Elternsprechtag. Immer muss ich irgendwie was ändern, irgendwen mehr fördern, irgendetwas erklären. Dabei bin ich doch nur Lehrer auf einer Gesamtschule, die mitten im gefürchtetsten sozialen Brennpunkt von Wanne-Eickel liegt. Und Wanne-Eickel ist für sich alleine genommen ja schon ein sozialer Brennpunkt. Wir reden hier über einen Brennpunkt im Brennpunkt. Die meisten Eltern sprechen nur gebrochenes bis vollkommen unverständliches Deutsch, einige sind erst gar nicht erschienen, alle anderen sehe ich heute zum ersten Mal. Trotzdem lautet der allgemeine Tenor, dass ich schuld bin. An allem. Ich hatte immer gedacht, auf der Gesamtschule sei allen alles völlig egal, besonders hier im Süden von Crange. Hier gibt es doch fast ausschließlich diese Kategorie Schüler, für die man eine eigene Sprache erfunden hat, damit sich nicht alles immer so negativ anhört. Man sagt jetzt politisch korrekt »Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund aus einem Wohnquartier mit besonderem städtebaulichem Erneuerungsbedarf«. Und sie »stören« auch nicht mehr, wenn sie den halben Klassenraum in Schutt und Asche legen, sondern sie sind »verhaltensoriginell«. Man kann sich die Welt mit Sprache eben so zurechtbiegen, wie man sie gerne hätte, doch führt genau das dazu, dass ich als Lehrer an einem Tag wie diesem in allgemeine Erklärungsnot gerate. Alle reden auf mich ein, wollen plausible Antworten für das Versagen ihrer verhaltensoriginellen Kinder und rauben mir so meine letzten Kraftreserven. Ich musste erklären, warum Seylep »ist so kluge Mädschen« und bei mir trotzdem nur lauter Fünfen schreibt. Erklären, warum Phil nicht mehr neben seinem besten Freund Tarek sitzen darf. Erklären, warum ich Tudor in jeder zweiten Stunde für zehn Minuten über den Schulhof rennen lasse. Gute Frau, Seylep hat nur durch meine aktive Mithilfe in der letzten Arbeit noch die 5+ geschafft, Phil und Tarek haben nicht aufgehört, mit Mehmets Handy Videos auf YouPorn anzugucken und Tudor hat meiner Meinung nach verdammt noch mal ADHS und muss sich ab und an die überschüssige Energie ablaufen.

Das alles hätte ich sagen können, aber ich ließ es bleiben. Ich wollte keinen Ärger. Keine unnötigen und zeitraubenden Diskussionen. Ich wollte nur, dass alles endlich aufhört.

»Und mit Klassenfahrt? Er nicht darf? Warum er nicht darf?«

Bei mir dämmert es. Ich glaube, vor mir sitzen die Eltern von Sercan. Jedenfalls ist er der Einzige, der nicht mit auf diese Klassenfahrt darf. Das geht nicht von mir aus, mir ist das scheißegal, aber Herr Direktor Kaiser will es so. Sercan hatte nämlich vor ein paar Wochen nach den Sportstunden im Nachmittagsunterricht unbemerkt die Leiter von unserem Hausmeister Manni zusammengeklappt und auf den Boden gelegt, als dieser gerade auf dem Dach herumhantierte. Als er gegen Abend mit seiner Arbeit fertig war und entdeckte, dass seine Leiter nutzlos in fünf Metern Tiefe lag, musste er angeblich vier Stunden in der Kälte warten, bis ein Fußgänger seine Schreie hörte und die Leiter wieder aufstellte. Hier in Wanne-Eickel gibt es halt wenige Gründe, sein Haus zu verlassen und spazieren zu gehen. Erst recht abends. Da muss man etwas länger warten, bis Hilfe kommt.

»Ich werde da noch mal mit dem Direktor drüber reden, Frau Ünal. Also, denk ich mal.«

Ha, ja klar. Hüten werde ich mich. Die Beziehung zwischen dem Direktor und mir ist noch immer ein bisschen so wie die zwischen der Titanic und dem Eisberg. Höchste Kollisionsgefahr. Da werde ich sicherlich nicht wegen Sercan noch Kohle in den Ofen schütten, um das Ganze zu beschleunigen.

»Und noch mehrere Sache isch habe …«

Ich schalte wieder auf lautlos. Das wird mir zu viel. Herunterfahren. Energiesparmodus. Alles ist leise. Kein Mucks ist zu hören. Nur das Klacken der Heizung. Ich starre vor mich hin. Die Gesichter verschwimmen. Die Augenpaare sind zusammengekniffen, die dazugehörigen Münder bewegen sich in Zeitlupe. Der Raum hinter ihnen beginnt zu flimmern und zu wabbeln, dehnt sich in alle Richtungen. Die Körper der Eltern ziehen sich in die Länge, werden riesig. Sie verklumpen sich Schulter an Schulter, wie eine nicht zu durchbrechende Mauer. Ich komme mir vor wie ein Winzling, stehe am Fuße des Berges und sehe hinauf zum Auge Saurons. Na ja, streng genommen sind es ja vier Augen. Das muss man sich mal vorstellen: vier brennende Augen! Frodo drehte ja schon bei einem einzigen vollkommen am Rad. Unermüdlich versuchen sie, mich, den Ringträger, mit glühenden Pfeilen aus wütenden Vorwürfen...

Erscheint lt. Verlag 22.1.2016
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Comedyroman • Elternsprechtag • Fack ju Göhte • Humor • Kater Poseidon • Lehrerroman • Männerroman • Satire • Schulroman • Unterhaltungsroman • Veganerin • Wanne-Eickel
ISBN-10 3-423-42831-7 / 3423428317
ISBN-13 978-3-423-42831-6 / 9783423428316
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