Abschied von den Kriegsteilnehmern (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-18813-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Abschied von den Kriegsteilnehmern -  Hanns-Josef Ortheil
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
In 'Abschied von den Kriegsteilnehmern' erzählt Hanns-Josef Ortheil von der Flucht eines jungen Mannes nach Amerika, wo er den Bildern von Krieg und Nachkrieg entkommen will, die ihn seit dem Tod seines Vaters obsessiv verfolgen. Zum Mississippi, nach New Orleans und in die Karibik führt diese immer manischer werdende und Schrecken auslösende Flucht, bis der Sohn wieder den Weg nach Europa findet, wo mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 gerade die 'Vater-Epoche' zu Ende geht. 'Abschied von den Kriegsteilnehmern' ist eine große Elegie auf die deutsche Nachkriegszeit: Ein Roman über Väter und Söhne, über Bilder und Vorbilder.

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Die Fragen nach den Judenverfolgungen jedoch waren die Fragen gewesen, über die ich nachgegrübelt hatte, ich hatte mich, seit ich von diesen Verfolgungen gehört und gelesen hatte, darüber nie beruhigen können, ja, in schlimmen Augenblicken war es mir sogar so vorgekommen, als sei die menschliche Geschichte mit diesen Verfolgungen an ein Ende gelangt. So hatte ich einen Neubeginn des Lebens nach diesen Verfolgungen und Morden oft für etwas nicht nur Verlogenes, sondern für etwas Unmögliches gehalten, ich hatte nicht einmal verstehen können, wie man mit dem Bewußtsein, daß so etwas einmal geschehen war, noch einmal Mut hatte fassen können, noch einmal von vorne zu beginnen. In schlimmen Augenblicken hatte ich daran geglaubt, daß sich die Geschichte des Landes, in dem ich nach dem Krieg geboren worden war, ein für allemal erledigt hatte, während doch andererseits meine Geburt ein sichtbares Zeichen dafür gewesen war, daß die Geschichte nun einmal weiterging. Ich selbst konnte doch nicht Tag für Tag, Woche für Woche in Gedanken an die an ein Ende gelangte Geschichte leben, doch ich konnte mich auch nicht von dieser Geschichte befreien, indem ich so tat, als wäre nichts Nennenswertes geschehen.

Und so war der Haß auf meinen Vater, der mich immer wieder befallen hatte, ein Haß auf die Zeitzeugenschaft meines Vaters gewesen, ich hatte ihm keine persönliche Schuld unterstellen können, und doch hatte ich ihn als einen noch lebenden Zeitzeugen und als lebendes Überbleibsel der Vergangenheit gehaßt. Denn ich hatte mir meinen Vater als tapferen Menschen und, wenn es die Judenverfolgungen betraf, sogar als Helden vorstellen wollen, ich hatte hören wollen, daß mein Vater auf der Seite der Verfolgten gestanden, etlichen von ihnen das Leben gerettet oder sonstige Heldentaten vollbracht hätte. Mein Vater aber hatte sich – ich habe nie erfahren, ob aus Unwissenheit, Lethargie oder Angst, nicht einmal das habe ich erfahren – nicht um das Schicksal der Juden gekümmert, und genau das, diese mangelnde Zuwendung oder Stellungnahme, hatte ich ihm vorgeworfen.

Für meinen Vater jedoch hatte es immer festgestanden, daß er in die Judenverfolgungen nicht verstrickt gewesen war, er hatte behauptet, sich nicht erinnern zu können, in den Kriegsjahren auf Juden getroffen zu sein, für ihn waren ganz andere Erlebnisse von Bedeutung gewesen, und er hatte es nicht fertiggebracht, diese persönlichen Erlebnisse im Rückblick auf die Vergangenheit hinter den viel grausameren Ereignissen der Judenverfolgung verschwinden zu lassen. Denn mein Vater hatte sich ja mit der Zeit selbst als ein Opfer des Krieges verstanden, und er hatte mir leicht vorhalten können, daß er ein Recht gehabt hatte, sich als ein solches Opfer zu verstehen. Und so war unser Gerichtsverfahren ein ewiges Verfahren in der Schwebe geblieben, manchmal hatte schon ein einziges Wort genügt, das ganze Verfahren wieder in Gang zu setzen, und dann hatten wir uns wochenlang nicht anschauen können, so erbittert hatten wir an unseren Positionen festgehalten.

 

Damals jedenfalls, als meine Mutter ihr zweites Kind erwartet und meinen Vater in Kattowitz besucht hatte, hatten meine Eltern, wie sie später immer glaubwürdig beteuert hatten, nicht von den Judenverfolgungen gesprochen, sie waren in die Beskiden gefahren und hatten sich dort in der Vorfreude auf die Geburt des zweiten Kindes umgesehen. Wenige Wochen vor der Geburt war meine Mutter dann auch, wie sie es sich vorgenommen hatte, zu ihren Eltern in die Heimat gefahren, und sie hatte dann in ihrem Elternhaus an einem Vormittag wahrhaftig auch einen Sohn geboren.

Mein Vater, der sich nicht mehr getraut hatte, schon auf die Nachricht von der bevorstehenden Geburt hin nach Westen zu fahren, hatte erst die Nachricht von der glücklichen Geburt abgewartet, dann aber war er Richtung Köln gefahren und hatte meine Mutter und seinen Sohn in der Heimat besucht. Die Geburt des Sohnes hatte meinen Vater ganz aus der Fassung gebracht, er hatte sehr lange befürchtet, er könnte auch dieses Kind verlieren, leichten Herzens und ohne zu murren, war er diesmal wieder zurück nach Kattowitz gefahren, und er hatte geglaubt, in den Gedanken an seinen Sohn einen Halt zu finden.

Wenig später war mein Vater dann aus Kattowitz abberufen und als Soldat zur Wehrmacht eingezogen worden. Er hatte seine Rekrutenzeit bei einem Eisenbahnpionierbataillon in Berlin absolviert. Da die Bombenangriffe auf Berlin aber immer zahlreicher geworden waren, hatten meine Eltern sich entschlossen, ihre Möbel aus der Berliner Wohnung zurück in die Heimat zu schaffen, schließlich war es meiner Mutter, die nach der Geburt des Sohnes wieder neuen Mut gefaßt hatte, auch gelungen, ein Transportunternehmen zu finden, das diese nicht ungefährliche Aufgabe übernommen hatte. Und so hatte mein Vater in seinen freien Stunden manchmal in einer fast leeren Wohnung gesessen, nur ein Zimmer war noch möbliert gewesen, und in diesem Zimmer hatte mein Vater sich aufgehalten, um sich wenigstens die Illusion eines Heims zu erhalten.

Beim Eisenbahnpionierbataillon hatte mein Vater gelernt, Brücken und Flöße zu bauen, er hatte gelernt, wie man Sprengladungen an Schienensträngen anbrachte, indem man die Munition an den Schienenkopf legte, und wie man Schienenstränge mit Sauzähnen aufriß. Die Ausbildung hatte in den Wäldern rings um Berlin stattgefunden, und die Fotografien aus dieser Zeit, die ich im Keller meines Elternhauses zu Gesicht bekommen hatte, hatten meinen Vater mit schmalem, eingefallenem Gesicht gezeigt, den Mund meist geöffnet, die Augen viel zu weit aufgerissen, den Kopf mit der breiten slavischen Stirn unter dem lächerlichen Helm, die Fotografien hatten meinen Vater als einen Menschen gezeigt, der sich der täglichen Handlangerei und der Rekrutenausbildung wie ein verschreckter Hinterwäldler gestellt hatte. Das Bild eines solchen Hinterwäldlers war er dann auch unter seinen Kameraden nicht losgeworden, mein Vater hatte sein Hinterwäldlerdasein nach allen Seiten hin demonstriert, und man hatte lange keinen Schützen gesehen, der sich an der Waffe derart hinterwäldlerisch aufgeführt hatte, und lange hatte man keinen Rekruten gesehen, der beim Geländelauf derart steif und unbeholfen über die künstlichen Hindernisse gesetzt war.

Mein Vater hatte den fälligen Spott, ohne sich dadurch gekränkt zu fühlen, ertragen, das Hinterwäldlerdasein hatte ihm schließlich nicht nur Spott eingetragen, sondern auch viele Sympathien verschafft, denn ein Hinterwäldler sorgte durch seine weltfremde Art für eine unbeabsichtigte Komik, und gerade auf Komik hatten selbst Eisenbahnpioniere im Kampf für den Führer nicht verzichten wollen. Wenn ihm der Spott aber einmal zuviel geworden war, hatte mein Vater sich an einen Freund gehalten, denn mein Vater hatte das große Glück gehabt, einen seiner besten Freunde, einen alten Jugendfreund aus der Heimat, als Kameraden zu haben. Mit diesem Kameraden hatte mein Vater sich immer wieder von der Truppe abgesetzt, die beiden waren unzertrennlich gewesen, und viele Fotografien zeigten die beiden in dem noch möblierten Zimmer der Berliner Wohnung, ernst und gespannt, als könnten sie jede Minute den Befehl zum Aufbruch an die Front erhalten.

 

Dieser Befehl hatte denn auch nicht lange auf sich warten lassen, sofort nach dem Ende der Rekrutenzeit waren mein Vater und der Freund meines Vaters an die Ostfront, nach Lettland, abkommandiert worden, und so war mein Vater durch den Krieg noch einmal nach Osten geschleudert worden, weit nach Osten, dorthin, wo er nie einen Fuß hatte hinsetzen wollen. In Lettland aber, längs der Ufer der Düna, waren damals bereits die Rückzugsgefechte im Gang gewesen, und die deutschen Truppen hatten mit den sowjetischen Verbänden erbitterte Kämpfe um jeden Meter geführt. Laufend war man vor und dann wieder zurückmarschiert, vor und zurück, vor und zurück, und die Eisenbahnpioniere hatten Schienen ausbessern, Schienen legen und Weichen instandsetzen müssen, doch schon am nächsten Tag hatten sie dieselben Schienen wieder aufreißen, dieselben Weichen sprengen müssen.

Da hatte mein Vater endgültig verstanden, daß es mit dem Krieg aus und vorbei gewesen war, daß nichts mehr helfen könnte, das schreckliche Ende des Krieges zu verhindern, sondern nur dazu beitrug, dieses schreckliche Ende hinauszuzögern. Und er hatte sich vorgenommen, während des Krieges keinen Schuß abzugeben, nicht einen einzigen Schuß hatte er abgeben wollen, und wenn er doch gezwungen gewesen wäre, einen Schuß abzugeben, hatte er irgendwohin und nicht auf ein Ziel schießen wollen.

Der Einsatz an der Front war ein sehr gefährlicher Einsatz gewesen, denn zu den Aufgaben der Eisenbahnpioniere hatte es gehört, das feindliche Gelände zu erkunden, und so hatte der Trupp meines Vaters immer wieder aufbrechen müssen, das feindliche Gelände nach versteckten Minen und Sprengsätzen zu sondieren. Bei einem dieser gefährlichen Erkundungsgänge hatte mein Vater auch wahrhaftig das Hochgehen einer feindlichen Mine erlebt, die hochgehenden Splitter und Eisenteile waren ihm in den Schenkel geschlagen, und so war er mit schweren Verwundungen abtransportiert worden, westwärts, in ein Lazarett in der Nähe von Bad Pyrmont. Im Lazarett hatte sich sein Befinden von Tag zu Tag verschlechtert, er hatte hohes Fieber bekommen und in wirren Phantasien den Einsatz an der Front immer von neuem durchphantasiert.

Meine Mutter aber hatte in der Heimat lange kein Lebenszeichen meines Vaters erhalten, wochenlang hatte sie auf Post gewartet, doch die Post war ausgeblieben, bis sie schließlich von der schweren Verwundung meines Vaters erfahren hatte. Sie hatte sich mit dem Kind sofort auf den Weg nach Bad Pyrmont gemacht, und sie hatte meinen Vater in dem Truppenlazarett besucht und Tag und Nacht...

Erscheint lt. Verlag 30.11.2015
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20.Jahrhundert • Amerika • eBooks • EisernerVorhang • Flucht • Karibik • Kriege • Mississippi • Nachkriegszeit • NewOrleans • Roman • Romane • Söhne • USA • Väter • Vorbilder
ISBN-10 3-641-18813-X / 364118813X
ISBN-13 978-3-641-18813-9 / 9783641188139
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99