Der Mann, der Hunde liebte (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
736 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30483-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Mann, der Hunde liebte -  Leonardo Padura
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
»Tötet ihn nicht! Dieser Mann muss reden«, rief der schwer verwundete Trotzki seinen Leibwächtern zu, als sie sich auf den Mann stürzten, der Trotzki mit einem Eispickel niedergeschlagen hatte. Leonardo Padura bringt ihn zum Sprechen. Ein rätselhafter Mann, der mit seinen beiden Windhunden am Strand spazieren geht, erzählt dem kubanischen Schriftsteller Iván die Geschichte des Trotzki-Mörders Ramón Mercader. Paduras vielschichtiger Roman führt uns an verschiedenste Schauplätze der Weltrevolution: ins Bürgerkriegsspanien, nach Moskau während der stalinistischen Schauprozesse, ins Prag von 1968, nach Kuba. In atemberaubender Prosa erweckt er die Protagonisten zu neuem Leben, zeigt sie in ihrer Bereitschaft zur völligen Selbstaufgabe zugunsten einer Ideologie - und zieht die Bilanz der gescheiterten Utopien eines Jahrhunderts.

Leonardo Padura, geboren 1955 in Havanna, zählt zu den meistgelesenen kubanischen Autoren. Sein Werk umfasst Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus Das Havanna-Quartett. Im Jahr 2012 wurde ihm der kubanische Nationalpreis für Literatur zugesprochen, 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur, 2023 den Pepe Carvalho Preis. Leonardo Padura lebt in Havanna.

Leonardo Padura, geboren 1955 in Havanna, zählt zu den meistgelesenen kubanischen Autoren. Sein Werk umfasst Romane, Erzählbände, literaturwissenschaftliche Studien sowie Reportagen. International bekannt wurde er mit seinem Kriminalromanzyklus Das Havanna-Quartett. Im Jahr 2012 wurde ihm der kubanische Nationalpreis für Literatur zugesprochen, 2015 erhielt er den spanischen Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur, 2023 den Pepe Carvalho Preis. Leonardo Padura lebt in Havanna.

1


Havanna, 2004

Ruhe in Frieden«, waren die letzten Worte des Priesters.

Wenn dieser aus dem Munde des Geistlichen so furchtbar theatralisch klingende, abgenutzte Satz jemals einen Sinn gehabt hat, dann in diesem Augenblick, als die Leichenträger Anas Sarg mit gleichgültiger Routine in das offene Grab hinabließen. Die Gewissheit, dass das Leben schlimmer als jede Hölle sein kann und sich mit diesem Akt aller Ballast von Angst und Schmerz für immer in Luft auflöst, ließ mich erleichtert aufatmen, und ich fragte mich, ob ich meine Frau um diesen letzten Weg in die ewige Stille nicht irgendwie beneidete; denn tot sein, vollkommen und endgültig tot, ist für viele Menschen wahrscheinlich die höchste Gnade jenes Gottes, den Ana mir in den letzten Jahren ihres dahinwelkenden Lebens nahezubringen versuchte, allerdings mit mäßigem Erfolg.

Die Totengräber schoben die Steinplatte über das Grab und machten sich nun daran, die Blumenkränze der Freunde auf die Platte zu legen. Ich drehte mich um und entfernte mich langsam, um dem endlosen Schulterklopfen und den Mitleidsblicken zu entgehen, zu denen man sich offenbar verpflichtet fühlt. Denn in solchen Momenten ist jedes Wort zu viel. Lediglich die abgedroschene Formel des Pfarrers ergab einen Sinn, und über den wollte ich nachdenken. Ruhe und Frieden, das hatte Ana nun endlich gefunden, und auch ich sehnte mich jetzt danach.

Als ich mich in meinen Pontiac setzte, um auf Daniel zu warten, war ich einer Ohnmacht nahe. Wenn mein Freund mich nicht bald von hier fortbringen würde, würde ich gewiss nie wieder einen Weg zurück ins Leben finden. Die Septembersonne knallte auf das Wagendach, doch ich sah mich außerstande, auszusteigen und mich an einen schattigen Ort zu begeben. Ich konnte die Augen nicht mehr aufhalten und versuchte, gegen das Schwindelgefühl anzukämpfen. Die Strapazen hatten mich völlig erschöpft. Ich verglühte in dem Kunststoffsitz, und säuerlich riechender Schweiß lief mir über Augenlider und Wangen. Er sammelte sich in meinen Achselhöhlen, rann mir über Hals, Arme und Rücken und verwandelte sich in einen warmen Bach, der über die Beine in die Schuhe strömte. Ich überlegte mir, ob dieser Schweißausbruch und die totale Erschöpfung nicht der Anfang meines molekularen Zerfalls waren oder zumindest eines Infarkts, der mich in den nächsten Minuten umbringen würde. Beides schienen mir einfache, ja, sogar wünschenswerte, wenn auch, offen gestanden, egoistische und ungerechte Lösungen zu sein: Ich hatte kein Recht, mich einfach davonzustehlen und meinen Freunden noch ein zweites Begräbnis zuzumuten.

»Gehts dir nicht gut, Iván?« Danys Stimme ließ mich hochschrecken. »Du schwitzt ja wie eine Sau …«

»Ich muss hier weg, verdammt …«

»Keine Panik, Alter, wir fahren sofort los. Ich steck den Trägern nur noch schnell ein paar Pesos zu«, sagte mein Freund, und der Realitätssinn, der aus seinen Worten sprach, erschien mir in dieser Situation einigermaßen befremdend, wenn nicht abwegig.

Ich schloss wieder die Augen und rührte mich nicht. Schweißgebadet verharrte ich, bis der Wagen angelassen wurde und sich in Bewegung setzte. Erst als die kühlende Luft durch das offene Seitenfenster drang, hob ich die Lider. Als wir vom Friedhofsgelände fuhren, sah ich aus den Augenwinkeln noch die letzten Grabreihen und Mausoleen, die von der Sonne, der Witterung und dem Vergessen angefressen und so mausetot waren wie ihre Bewohner. Und wieder einmal fragte ich mich, keine Ahnung, wieso gerade jetzt und hier, warum irgendwelche Wissenschaftler ausgerechnet meinen Namen ausgewählt hatten, um den heranziehenden Tropensturm, den neunten in diesem Jahr, zu taufen.

Ich hatte mir abgewöhnt (besser gesagt, es wurde mir auf nicht immer freundliche Art und Weise abgewöhnt), an Zufälle zu glauben, für die Meteorologen gab es jedoch offenbar gute Gründe, jenen Sturm »Iván« zu nennen, denn bisher war dieser männliche Vorname, der mit dem neunten Buchstaben des Alphabets beginnt, noch nie verwendet worden. Die Unheil verkündende Wolkenbildung, die sich später zu »Iván« entwickeln sollte, war über den Kapverden entstanden, und in wenigen Tagen würde Iván, zu einem ausgewachsenen Hurrikan geworden, in die Karibik einfallen und seinen alles verschlingenden Rachen öffnen … Sie werden bald verstehen, warum ich Grund zur Annahme habe, nur ein böser Winkelzug des Schicksals könne jenem Zyklon, einem der verheerendsten in der Geschichte, meinen Namen gegeben haben, und das genau zu einem Zeitpunkt, als sich ein anderer Hurrikan anschickte, mein Leben heimzusuchen.

Ana und ich wussten schon seit langer, vielleicht zu langer Zeit, dass ihr Tod unausweichlich war, doch wir hatten uns durch die vielen Jahre, die wir uns mit ihren verschiedenen Krankheiten herumschlugen, daran gewöhnt, damit zu leben. Die Ankündigung, dass aus ihrer Osteoporose (wahrscheinlich bedingt durch den allgemeinen Vitaminmangel in der härtesten Phase der Krise der Neunziger) Knochenkrebs geworden war, hatte uns mit der Tatsache ihres baldigen Endes konfrontiert und mich dann überzeugt, dass nur eine perfide Heimsuchung des Schicksals meiner Frau ausgerechnet ein solches Leiden auferlegt haben konnte.

Seit Jahresanfang hatte sich Anas Gesundheitszustand rapide verschlechtert, und Mitte Juli, drei Monate nach der endgültigen Diagnose, begann ihr letzter aussichtsloser Kampf gegen den Tod. Anas Schwester Gisela kam zwar häufig zu uns, um zu helfen, dennoch musste ich Urlaub nehmen, um meine Frau zu pflegen; und wenn wir jene Monate überstanden, dann nur dank des Beistands von Freunden wie Dany, Anselmo und Frank, einem Arzt. Sie besuchten uns regelmäßig in unserer kleinen Wohnung im Stadtviertel Lawton und versorgten uns mit Lebensmitteln aus ihren bescheidenen Beständen, die sie auf den verschlungensten Wegen organisierten. Auch bot Dany wiederholt an, sich mit mir an Anas Krankenbett abzuwechseln, doch ich lehnte ab; denn zu den wenigen Dingen, die durch das Teilen nur noch mehr belasten, gehören der Schmerz und das Unglück.

Das Leben in unseren vier Wänden war so armselig und bedrückend, wie man es sich nur vorstellen kann; doch das Schlimmste daran war zu sehen, mit welch enormer Kraft Anas geschundener Körper sich an das Leben klammerte, auch gegen den ausdrücklichen Wunsch seiner Bewohnerin.

In den ersten Septembertagen, als der Hurrikan Iván den Atlantik überquerte und mit voller Wucht über die Insel Grenada herfiel, hatte Ana eine unerwartete Phase der Klarheit, und ihre Schmerzen ließen, ganz gegen jede Voraussage des Arztes, nach. Da wir auf ihren eigenen Wunsch hin eine Einweisung ins Krankenhaus abgelehnt hatten, übernahmen es eine Pflegerin aus der Nachbarschaft und unser Freund Frank, ihr die Infusionen zu setzen und das Morphium zu verabreichen, das sie in einen unruhigen Dämmerzustand versetzte. Diese Reaktion sei das Endstadium, machte mich Frank aufmerksam und empfahl mir, die Infusionen abzusetzen und die Sterbende nur zu füttern, falls sie danach verlange. Und wenn sie sich nicht über Schmerzen beklage, solle ich ihr auch kein Morphium mehr geben, riet er mir, um ihr noch ein paar Tage bei klarem Verstand zu schenken. In der Folgezeit, ganz so als wäre ihr Leben zur Normalität zurückgekehrt, begann Ana, mit all ihren gebrochenen Knochen, sich wieder für ihre Umgebung zu interessieren. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Fernseher oder lauschte dem Radio und verfolgte wie besessen die Richtungswechsel des Hurrikans, der seinen Todestanz aufführte und bereits über Grenada hinweggefegt war und mehr als zwanzig Tote zurückgelassen hatte. Ana begann, mir Vorträge zu halten über die Charakteristika dieses Zyklons: Er gehöre zu den schlimmsten seit meteorologischen Aufzeichnungsbeginns, und seine außergewöhnliche Heftigkeit sei eine Folge des globalen Klimawandels, der die menschliche Spezies ausrotten könne, wenn nicht umgehend die notwendigen Maßnahmen ergriffen würden, sagte sie voller Überzeugung. Zu sehen, wie meine todkranke Frau sich um die Zukunft anderer sorgte, bereitete mir zusätzlichen Kummer.

Während sich der Tropensturm mit der unverkennbaren Absicht, danach über den Osten Kubas herzufallen, zunächst Jamaika näherte, wurde Ana von einer Art meteorologischer Erregung erfasst. Sie steigerte sich in einen permanenten Alarmzustand, und die Anspannung verließ sie nur dann, wenn der Schlaf sie für zwei oder drei Stunden übermannte. Ihr Interesse richtete sich ausschließlich auf die Route von Iván, auf die Anzahl der Toten, die er auf seinem Weg zurückließ (einen in Trinidad, fünf in Venezuela, einen in Kolumbien, fünf weitere in der Dominikanischen Republik, fünfzehn in Jamaika, zählte sie, wobei sie ihre deformierten Finger zu Hilfe nahm), und vor allem auf die Zerstörungen, die er anrichten würde, wenn er an einem der von den Fachleuten errechneten möglichen Punkte Kuba erreicht. Was Ana erlebte, war so etwas wie eine kosmische Verbundenheit angesichts der symbiotischen Vereinigung zweier Organismen, die sich im Laufe der nächsten Tage selbst vertilgen würden, und ich begann zu grübeln, ob Krankheit und Morphium ihr nicht den Verstand geraubt hatten. Wenn der Hurrikan nicht bald über uns hinwegfegte und Ana sich nicht beruhigte, würde ich am Ende derjenige sein, der den Verstand verlor.

Die kritischste Phase für Ana wie natürlich für jeden Bewohner der Insel begann, als Iván sich...

Erscheint lt. Verlag 6.11.2015
Übersetzer Hans-Joachim Hartstein
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Frida Kahlo • Geschichte • Josef Stalin • Karibik • Kommunismus • Kuba • Lateinamerika • Leo Trotzki • Ramón Mercader • Revolution • Sowjetunion • Spanien • Spanischer Bürgerkrieg • Stalinismus • Trotzki • Trotzkismus
ISBN-10 3-293-30483-4 / 3293304834
ISBN-13 978-3-293-30483-3 / 9783293304833
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 4,0 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99