Wie Spreu im Wind (eBook)

Roman. Der Segu-Zyklus (2)
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2015 | 1. Auflage
576 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30846-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wie Spreu im Wind -  Maryse Condé
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Im Jahr 1861 nimmt die muslimische Armee von El-Hadj Omar die Stadt Segu ein. Die Bewohner müssen nun dem »einzigen wahren Gott« huldigen, die animistischen Traditionen werden unterdrückt. Zur gleichen Zeit dringt von Westen die Kolonialmacht Frankreich mit einem Söldnerheer immer weiter ins Innere Afrikas vor, die Christianisierung beginnt. Wie schon ihre Väter werden die Traorés Opfer der Machtkämpfe ihrer Zeit, geraten sie und ihre Frauen in verschiedene religiöse und politische Lager. Mit der alten Ordnung zerbricht auch die Familie. In ihrem historischen Roman erzählt Maryse Condé von Segu, der einst mächtigen Stadt der Bambara am Niger, und vom Schicksal der Familie Traoré. Noch einmal beschwört sie jene prächtige, geheimnisvolle Welt herauf, die in Afrika untergegangen ist.

Maryse Condé (*1937 in Guadeloupe) studierte Literaturwissenschaften an der Sorbonne in Paris und lebte danach viele Jahre in Westafrika. Zurück in Frankreich, widmete sie sich dem literarischen Schreiben und der Wissenschaft. Nach Stationen als Universitätsdozentin in Paris, Berkeley und Maryland wechselte sie 1995 an die Columbia University in New York. Seit der Gründung 1997 hatte sie den Vorsitz des Center for French and Francophone Studies bis zu ihrer Emeritierung 2002. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem LiBeraturpreis (1988) und dem New Academy Prize für Literatur (2018). Maryse Condé lebte in New York und in Guadeloupe. Sie starb 2024 im Alter von 90 Jahren.

Maryse Condé (*1937 in Guadeloupe) studierte Literaturwissenschaften an der Sorbonne in Paris und lebte danach viele Jahre in Westafrika. Zurück in Frankreich, widmete sie sich dem literarischen Schreiben und der Wissenschaft. Nach Stationen als Universitätsdozentin in Paris, Berkeley und Maryland wechselte sie 1995 an die Columbia University in New York. Seit der Gründung 1997 hatte sie den Vorsitz des Center for French and Francophone Studies bis zu ihrer Emeritierung 2002. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. 1988 mit dem LiBeraturpreis. 2018 erhielt sie den New Academy Prize für Literatur. Maryse Condé lebt heute in New York und in Guadeloupe.

1


Mutter, warum liebst du ihn mehr als mich? Warum bist du so glücklich über seine Ankunft, dass du mich nicht mehr beachtest?«

Abdel Salam sprach mit weinerlicher Stimme und zerknüllte mit den Fingern die weiße Seide seines Kaftans. Er war fast zwölf, und dieses Gespräch war eigentlich fehl am Platz. Aber Maryem hatte dieses Kind nicht so erzogen, wie es die Zurückhaltung der Fulbe1 erforderte, und hatte auch nie seine Liebesbezeigungen unter Kontrolle halten können. Im Gegenteil. Sie brauchte sie und musste sich ihrer immer wieder vergewissern, um sich einzureden, dass ihr Leben dadurch wieder einen Sinn hatte. Sie drückte Abdel Salam ganz fest an sich und erklärte ihm zärtlich: »Ich liebe ihn nicht mehr als dich. Aber er hat so sehr gelitten! Als er so alt war wie du, ist sein Vater getötet worden. Dann hat er mit angesehen, wie sein Land in den Krieg hineingezogen wurde, und hat ein Bein verloren, als er es verteidigte. Dennoch kann er glücklich sein, dass er überlebt hat, während sein bester Freund neben ihm starb und sein Bruder verschollen ist! Er ist allein, krank an Körper und Seele. Das verstehst du doch, nicht wahr?«

Abdel Salam antwortete nicht. Das Gesicht gegen den warmen, duftenden Hals seiner Mutter gepresst, genoss er diesen Augenblick verbotenen Glücks. Bald würde er sie verlassen, zu seinen Kameraden in die Koranschule zurückkehren und unter dem strengen Blick eines Malam2 still sitzen müssen. Abdel Salam war nicht dumm. Doch wenn er Koranverse aufsagen oder seine Auffassungsgabe unter Beweis stellen sollte, legte sich Nacht über seine Gedanken und löschte sie nach und nach aus, während die Worte wie vom Wind verweht davonflogen. Dann stand er benommen da und schwieg, von den anderen ausgelacht. Maryem wiederholte: »Das verstehst du doch, nicht wahr?«

Abdel Salam nickte lustlos. Im selben Augenblick hörte man Schritte, die von den Teppichen im Nebenzimmer gedämpft wurden. Mutter und Sohn trennten sich schnell. Abdullahi trat ein. Sein Blick streifte Abdel Salam nur leicht. Und doch wusste das Kind, dass dem Vater nichts entgangen war. Weder die Tränenspuren auf seinen Wangen noch Maryems Verwirrung oder ihre durcheinandergeratenen Schleier. Abdel Salam hob seine Holztafel auf, die er auf den Boden gelegt hatte, und ging hinaus. Als Maryem und Abdullahi allein waren, sagte dieser erbost: »Wenn das so weitergeht, schicke ich ihn zu meinem Bruder nach Daura. Er bittet mich schon seit einem Jahr darum. Aus Schwäche habe ich bisher noch gezögert. Aber du gehst zu weit. Was willst du aus dem Jungen machen? Einen Weichling, der meinem Namen Schande macht?«

Maryem nahm die Zurechtweisung demütig hin. Denn sie hatte große Angst davor, ihr Mann könnte seine Drohung wahr machen und sie erneut den Ängsten aussetzen, die sie vierzehn Jahre zuvor ausgestanden hatte, als ihr erster Mann, Tiékoro, sie von ihrem Sohn Mohammed getrennt hatte. Um das zu vermeiden, war sie zu allem bereit und setzte eine Maske völliger Ergebenheit auf. Abdullahi sagte versöhnlicher: »Ich habe unserem Sohn eine bewaffnete Eskorte entgegengeschickt, damit ihm bei all diesen Maradawa3, die die Straßen unsicher machen, nichts zustößt.«

Wie aufmerksam Abdullahi doch trotz all seiner Starrheit und Sittenstrenge war! Und wie zartfühlend sein Herz sein konnte! Voller Dankbarkeit fragte sie ihn: »Wann, glaubst du, wird er bei uns sein?«

Aber obwohl sie versuchte, sich zu beherrschen, lag auch diesmal noch zu viel Leidenschaft in ihrer Frage, und Abdullahi, erneut verstimmt, entfernte sich mit den Worten: »Das weiß Allah allein!«

Als Maryem voller Verzweiflung über Tiékoros Tod und die Trennung von ihrem einzigen Sohn aus Segu zurückgekehrt war, hatte sie nur den Wunsch gehabt, ein Leben in Abgeschiedenheit und Gebet im Schutz der Mauern des Sultanpalastes von Sokoto zu führen. Doch sie war noch kein Jahr dort, als ihr Vater sie rufen ließ. Ein Mann hielt um ihre Hand an. Und was für ein Mann! Abdullahi, der Maaji4 des Emirs von Kano, der zu einem seiner jährlichen Besuche nach Sokoto gekommen war, um seiner Treuepflicht nachzukommen. Maryem war sprachlos. Ein Mann hielt um ihre Hand an? Wo hatte er sie gesehen? Etwa wenn sie in schwarze Schleier eingehüllt zu den Kultstätten eilte? Konnte sie denn noch Kinder zur Welt bringen? War sie nicht mit ihren fünfunddreißig Trockenzeiten eine alte Frau? Mit einer Mischung aus Neugier und insgeheimer Dankbarkeit hatte sie eingewilligt, diesen unerwarteten Bewerber zu treffen. Und als er vor ihr stand, groß, ein wenig gebeugt, den Blick noch vom blauen Schatten des Turbans verdunkelt, hatte sie gewusst, dass Allah ihr das Ende der Einsamkeit und des Leidens beschieden hatte. Ohne Angst hatte sie ihre Hand in die seine gelegt, die zugleich kräftig und sanft war, und war ihm zum Hügel Dalla gefolgt, auf dem sich die Stadt Kano erhebt.

Im folgenden Jahr war sie mit einem Sohn gesegnet worden. Zwei Jahre später mit einem zweiten. Aber dieser hatte die Welt nur kurz gesehen. Danach hatte sie kein Kind mehr geboren. Abdullahi hatte ihr deshalb keine Vorwürfe gemacht und sie mit der Ehre und dem Respekt behandelt, die einer ersten Frau zukommen, obwohl sie erst als vierte Frau ins Haus gekommen war. Seine anderen drei Frauen hingegen, die wie er von Fulbe-Würdenträgern abstammten, von Kampfgefährten des Reichsgründers Schehu5 Osman dan Fodio, ließen es sich nicht nehmen, bei jeder Gelegenheit daran zu erinnern, dass Maryem jahrelang in Segu, im Land der Fetischgläubigen, gelebt hatte. Dass sie dort durch die Nähe der Götzen befleckt worden war, dort Kinder zur Welt gebracht hatte, die halbe Bambara waren und deren Blut folglich mit allen möglichen Lastern behaftet war. Und dass sie sogar eine Zeit lang mit einem Abtrünnigen verheiratet gewesen war. Besonders die letzte Anschuldigung versetzte Maryem in Wut. Sie musste daran denken, wie sie vor Tagesanbruch aus dem Anwesen der Traoré in Segu geflüchtet war, sobald sie den Beschluss des Familienrats erfahren hatte, dass sie Siga zur Frau gegeben werden sollte. Hatte sie sich nicht genug Gefahren ausgesetzt, um den Pflichten ihres Glaubens gerecht zu werden? Manchmal hatte sie Lust, diesen Frauen von hoher Geburt Mörserkeulen und Kalebassen an den Kopf zu werfen. Umgeben von Sklaven, waren sie schmerzlos vom väterlichen Anwesen in das eines Ehemanns hinübergewechselt und wussten immer noch nicht, dass das Leben grausam und ungerecht sein kann. Anschließend bereute sie diese Anwandlungen, die einer Gläubigen unwürdig waren. Hat der Prophet nicht gesagt: »Gib deinem Zorn nicht nach?« Maryem ging hinaus auf den Hof, der an ihre Hütte grenzte. Sie achtete nicht auf das morgendliche Treiben, die Sklaven, die Kalebassen mit Hirsebrei trugen, die Kinder, die zur Koranschule eilten, die Frauen, die zu den Wasserhütten gingen. Sie dachte nur an ihren Sohn. Mohammed. Ihre letzte Begegnung hatte vierzehn Jahre zuvor im Anwesen von Cheiku Hamadu in Hamdallay stattgefunden. Damals war er ein kleiner Junge gewesen, der durch das fromme Leben als Bettler schwächlich geworden war! Was für ein Mann war wohl aus ihm geworden? Maryem wusste, dass man ihm ein Bein amputiert hatte und er somit in der Blüte seines Alters zum Krüppel geworden war. Für immer vorbei waren die siegreichen Kämpfe, die bewundernden Blicke und die Lobgesänge der Mädchen! O Gott, wie schwer ist es doch manchmal, dich den »Gnädigen und Barmherzigen« zu nennen! Maryem, die vom heiligen Ziel des Dschihad durchaus überzeugt war, da ihre Vorfahren den heiligen Krieg gegen die heidnischen Herrscher der Haussa-Staaten geführt hatten, hätte sich den Sieg der moslemischen Tukulor über die fetischgläubigen Bambara wünschen müssen. Und doch hasste sie El-Hadj Omar und seine Talibé6. Hatten nicht die Kugeln ihrer Gewehre, dieser teuflischen Waffen, die ihnen von den weißen Ungläubigen verkauft worden waren, das Bein ihres Sohnes durchbohrt? Die Fulbe und Bambara dagegen besaßen nur Pfeile, Säbel, Lanzen und Äxte, aufrichtige Waffen für aufrichtige Kämpfe.

Aufgrund seiner hohen Stellung wohnte Abdullahi mit seiner Familie innerhalb der Mauern des Emirpalastes von Kano, der großen Moschee gegenüber. Am Eingang stand ein schmuckloser Bau aus ockerfarbenen Lehmziegeln, in dem sich die Gräber der ersten Emire befanden, die alle Fulbe und Schüler von Osman dan Fodio gewesen waren. Sobald der Besucher durch das riesige Tor trat, vor dem die Wächter, auf ihre langen Lanzen gestützt, in gefütterten Kettenhemden standen, musste er dieser Totenstadt den Kopf zuwenden. Und dieses Gemurmel von Gebeten, vermischt mit dem Stampfen der Pferde, die von Stallknechten gehalten wurden, dem heiseren Brummen der Kamele und dem etwas düsteren Klang der kakaki, jenen langen Hörnern, die die Ankunft von hohen Gästen ankündigten, ergab eine auf harmonische Weise vielstimmige Musik, ein Symbol des pulsierenden Palastlebens. Kano gehörte zu den sieben Haussa-Städten, die von den Nachkommen der legendären Königin Daura erbaut worden waren. 1807, während des Dschihad des Fulbe-Schehu Osman dan Fodio, war Kano erobert und in das Reich eingegliedert worden, das Osman dan Fodio aufgebaut hatte. Eine mehr als fünfzig Fuß hohe Mauer wies auf den kriegerischen Ursprung der Stadt hin; diese war außerdem noch von einem Graben umgeben, der mit so dichten Dornensträuchern bepflanzt war, dass sie jeden Feind abschreckten. Zugang zur Stadt gaben dreizehn mit Metallstangen...

Erscheint lt. Verlag 10.10.2015
Übersetzer Uli Wittmann
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika • Alternativer Nobelpreis für Literatur • Christianisierung • Geschichte • Islam • Mali • New Academy »Nobelpreis für Literatur« 2018 • Niger • Segu
ISBN-10 3-293-30846-5 / 3293308465
ISBN-13 978-3-293-30846-6 / 9783293308466
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