Regenbogentänzer (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-42424-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Regenbogentänzer -  Nicole Walter
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Was ist es, das das Leben lebenswert macht? Für den alten Alfons sind es seine Saalflugzeuge, so zart und zerbrechlich, dass sie eigentlich nur in geschlossenen Räumen fliegen können. Milena kann ihn gerade noch daran hindern, sich von einer Brücke in die Isar zu stürzen, als sein Flugzeug eine Bruchlandung erleidet und im Fluss unterzugehen droht. Dabei würde sie selbst gern springen, jetzt, wo ihre Karriere als Tänzerin vorbei ist. Stattdessen bringt sie Alfons zurück in das Regenbogenhaus. Und lernt dort wundervolle Menschen kennen: Menschen, die allein nicht in der Welt zurechtkommen und die doch wissen, was das Leben lebenswert macht.

Nicole Walter hat Sprachen in München studiert und dann als Werbetexterin und freie Journalistin gearbeitet. Seit 1994 schreibt sie überaus erfolgreich Drehbücher für Fernsehserien und -filme und zählt heute zu den erfolgreichsten und gefragtesten Drehbuchautorinnen Deutschlands. Ihr Debütroman 'Das Leben drehen' war ein Bestseller.

Nicole Walter hat Sprachen in München studiert und dann als Werbetexterin und freie Journalistin gearbeitet. Seit 1994 schreibt sie überaus erfolgreich Drehbücher für Fernsehserien und -filme und zählt heute zu den erfolgreichsten und gefragtesten Drehbuchautorinnen Deutschlands. Ihr Debütroman "Das Leben drehen" war ein Bestseller.

1


Milena, hast du die Hausaufgaben fertig?«

»Milena, Tisch abräumen!«

»Milena, hör auf, durch die Wohnung zu tanzen, tu endlich was! Was Vernünftiges!«

»Milena … !!!!«

Sie lief so schnell sich ihre Beine bewegen konnten. Fort vom öden Alltag hin zu ihrem Traum. Sie fühlte sich geborgen in ihm, sicher. Wie in dem alten Fahrstuhl des Mietshauses, in dem sie mit ihrer Familie wohnte. Manchmal, wenn sie einen Ort ganz für sich haben wollte, stellte Milena den Schalter auf Stopp, hockte sich auf den Boden des Fahrstuhls und redete mit ihm wie mit einem guten Freund. Der Fahrstuhl hörte zu. Er war der Einzige, der ihr wirklich zuhörte und sie verstand. Wenn sie dann genug erzählt und er ihr lang genug zugehört hatte, stellte sie den Schalter wieder auf Go, und er fuhr sie hinauf an den Ort, an dem sie ihrem Traum ganz nahe kam. War der Fahrstuhl allerdings kaputt, musste sie die Treppe nehmen. Lief Stufe um Stufe bis hinauf in den achten Stock und blieb vor der schweren Eisentür stehen.

Die Eisentür. Ihr Tor zur Freiheit. Milena stemmte sich gegen die Tür, sie hatte noch wenig Kraft und die Tür ließ sich nur schwer öffnen, und dann war er da – ihr Traum. Und der Himmel.

Milenas Herz klopfte bis zum Hals. Sie wollte hineinspringen in das endlose Blau. Sich tragen lassen und dann die Arme ausbreiten und – fliegen.

Weit über die Dächer der grauen Hochhaussiedlung, diesem Ring aus Beton, in dem nicht nur Blätter, sondern gelegentlich auch Müllbeutel in den wenigen Bäumen hingen. Sie wollte raus, raus aus der Wohnung, die sie mit dem Vater, der Mutter und dem jüngeren Bruder Maxi teilte. Aus ihrer Wohnung, in der nie etwas Neues gekauft wurde, solange das Alte nicht kaputt war, raus aus diesem Leben, das so kleinkariert war wie ihr Mathematikheft, in dem nur selten eine Rechnung aufging.

Wozu brauchte sie Noten? Sie hatte die Klangbilder im Kopf. Immer. Auch wenn es um sie herum vollkommen still war.

»Milena aufräumen, hast du die Hausaufgaben fertig? Deck den Tisch!« Nein! Nicht jetzt. Nicht in diesem Augenblick.

Ihr Puls schlug den Takt. Ihr Körper begann zu musizieren. Sehnen, Muskeln, Gelenke wurden zum inneren Orchester. Zuerst die Streicher, zart. Die Füße begannen zu wippen. Die Fenster der Hochhauswaben gegenüber nahmen ihre Logenplätze ein. Jetzt der Paukenschlag. Mit Schwung hob sie das rechte Bein, die auf den winzigen Balkons zum Trocknen aufgehängten Wäschereihen flatterten ihr begeistert entgegen. Die vielen Parabolantennen verneigten sich. Brava, Milena Müller, brava! Sie schwang das Bein über den rostigen Rahmen eines achtlos dahingeworfenen Liegestuhls mit voller Kraft senkrecht nach oben. Drehte eine Pirouette, hielt sich an der Lehne eines alten Holzstuhls fest, verfing sich fast in dem Schlabberpulli, in dem ihr magerer Körper unterzugehen drohte. Drehte noch eine Pirouette, noch eine, immer weiter auf den Rand des Daches zu. Doch das war ihr gleichgültig. Sie war elf und wollte tanzen. Mit und über den Wolken. Tanzen. Nichts als tanzen. Immer nur tanzen …

 

»Frau Müller?«

»Ja?«

»Ich habe Sie gerade nach Ihrer Ausbildung gefragt.«

»Stage School Hamburg.«

Ihr seid Puppen. Die Fäden gehen durch die Wirbelsäule und sind an Ellbogen und Knien befestigt. Das hatte ihnen Tom, Lehrer für Jazzdance, schon am ersten Tag mit auf den Weg gegeben.

»Stage School Hamburg.« Die Frau von der Arbeitsagentur sah sie an. Ihre Augen verrieten die Resignation, ihre ganze Haltung strahlte das aus. »Ich meine, haben Sie noch etwas anderes gelernt, Frau Müller, außer … nur … tanzen und singen?«

Nur tanzen und singen.

Starlight Express, Grease, Westside Story, Phantom of the Opera – sie hatte alles getanzt, was es im Musicalsektor zu tanzen gab. Und jetzt saß sie da, an diesem Ort, an dem Milena nie hatte sein, vor einem Menschen, mit dem sie nie etwas hatte zu tun haben wollen, fand sich in einer Rolle, die sie nie hatte spielen wollen. Frustrierte Arbeitssuchende im Jobcenter. Sie fühlte sich fremd. War herausgerutscht, nicht nur aus dem ihr so vertrauten Leben, sondern auch aus sich selbst. So saß sie da, neben sich, die Tänzerin und ihr Schatten. Ihr seid Puppen. Die Fäden gehen durch die Wirbelsäule und sind an Ellbogen und Knien befestigt. Die Puppe und die Puppenspielerin; sie zog an den Fäden und sorgte dafür, dass Milena reagierte und antwortete: »Nein, ich habe nichts anderes gelernt. Nichts …«

»Um Himmels willen, mach was Richtiges, Kind!« Mit aller Kraft hatten sich die Eltern gegen ihren großen Traum gestemmt. »Eine Ausbildung. Etwas Sicheres.«

»Mama, Papa, ich will, ich muss tanzen!«

»Es gibt Tänzer, die sitzen mit dreißig im Rollstuhl.«

»Bitte, Mama, ich muss …«

Milena liebte ihre Mutter. Die feinen Bewegungen, mit denen sie immer alles exakt zurechtrückte, weil alles seinen Platz hatte. Jedes Ding und jeder Mensch. Fand der Mensch seinen Platz nicht, wurde er unglücklich, davon war ihre Mutter zutiefst überzeugt.

Sie hatte ihren Platz gefunden, neben dem Vater, einem Fachangestellten im Öffentlichen Dienst. Sie war etwas größer als er und trug deshalb nie hohe Absätze, obwohl sie mit glänzenden Augen vor jedem Schuhladen stehen blieb.

»Kauf sie dir doch, Mama!«

»Dein Vater mag nicht, wenn ich größer bin als er.«

»Du liebst Schuhe mit hohen Absätzen.«

»Ich liebe deinen Vater.«

Milena hatte nie verstanden, dass man für einen anderen auf etwas verzichtete, das man haben wollte. Ihre Mutter aber ging weiter. Aufrecht. Wie eine Königin. Sie musste sich ihre Haltung nicht hart an der Stange erarbeiten, ihre Haltung war angeboren. Sie arbeitete für einen ambulanten Pflegedienst, blieb meist länger bei ihren Patienten, als es der Minutentakt vorschrieb. Den Ärger, den sie deshalb mit der Pflegedienstleitung bekam, nahm sie in Kauf.

Von dem, was ihre Tochter wollte, hatte sie allerdings wenig Ahnung. Davon war Milena überzeugt – bis zu jenem Abend Ende November, an dem das Dach endlich den Teppich vor ihr ausrollte, der ihr gebührte; nicht rot, sondern weiß.

Der erste Schnee. Milena betrat das Dach und sank ein. Andere wären entsetzt vor der Nässe zurückgewichen, die durch das Tuch ihrer Ballerinas kroch und jeden Millimeter ihrer Haut bis zu den Knöcheln benetzte. In Milena jedoch löste sie wohliges Schaudern aus. Der Verkehrslärm drang gedämpft zu ihr herauf, die Lichter hinter den Fenstern wurden zu Scheinwerfern, hundertfach, das Grau der Hochhäuser in ein dunkles Nichts zurückdrängend. Es war kalt, es schneite, an den Dachrinnen hingen Stalaktiten aus Eis, und all das formte sich in Milena zu einer einzigartigen Melodie, wie alles zur Melodie wurde, was sie sah, hörte, empfand.

»Milena, mach die Musik leiser. Milena, musst du immer tanzen, kannst du nicht gehen wie ein normaler Mensch?«

Sie fühlte den Rhythmus, wurde zur Solistin inmitten einer Schar von Gruppentänzern im Flockenkostüm. Sie spürte weder ihre nassen Füße noch den Schweiß auf ihrer mittlerweile klamm gewordenen Haut. Der Atem mit seinen Sprechblasen war ein weiterer Teil der Inszenierung, und der Schnee zeichnete die Choreographie ihrer neu erdachten Schrittfolgen auf. Und dann sah sie ihre Mutter. Sie stand einfach da, ohne Jacke, ohne Mantel in einem viel zu dünnen Kleid, Gänsehaut, und die Arme trotzdem nicht wärmend um den Leib geschlungen. Sie hingen einfach so da, fast hilflos von ihren Schultern. Viel später hatte Milena ihre Mutter gefragt, was sie in diesem Moment empfunden hatte, und ihre Mutter hatte geantwortet: »Ich hab einfach nur gewusst, wer du wirklich bist und wohin du gehörst.«

Warum ihre Mutter ihr ausgerechnet an diesem Tag aufs Dach gefolgt war, Milena hatte sie nie danach gefragt. Vielleicht hatte sie angenommen, ihre Tochter treffe sich dort mit Jungs, rauche heimlich oder treibe sonst etwas, das man mit elf möglicherweise so trieb. Aber sie sah Milena tanzen.

Ihre Eltern redeten die ganze Nacht. Am Morgen, als Wind und noch mehr Schnee längst alle Tanzschritte bedeckt und verweht hatten, erlaubte ihr der Vater, die Ballettschule zu besuchen. Die Mutter ging putzen, um das nötige Geld dafür aufzutreiben, ihr...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2015
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alphonse Pénaud • Frauenschicksal • Lebensinhalt • Leistungsdruck • Milena Müller • Phil Friedmann • psychisch Behinderte • Regenbogenhaus • Roman • Saalflugzeug • Seelische Erkrankung • Selbstfindung • Sinnsuche • Tänzerin
ISBN-10 3-426-42424-X / 342642424X
ISBN-13 978-3-426-42424-7 / 9783426424247
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