Der Stift und das Papier (eBook)

Roman einer Passion
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2015 | 1. Auflage
384 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-16394-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Stift und das Papier -  Hanns-Josef Ortheil
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Nach dem Erscheinen seines zweiten Kindertagebuchs 'Die Berlinreise' wurde Hanns-Josef Ortheil häufig gefragt, wie er als Zwölfjähriger ein derart beeindruckendes Buch schreiben konnte. Dieser Frage ist er jetzt in dem Band 'Der Sift und das Papier' nachgegangen. Schritt für Schritt wird erzählt, wie er, begleitet und angeleitet von Vater und Mutter, sich das Schreiben beibrachte. Er beschreibt, wie er übte und wie diese Übungen langsam übergingen in kleine Schreibprojekte, die er sich selber ausdachte und verfolgte. Es ist die bewegende Geschichte eines Jungen, der lange Zeit nicht sprach und der einen eigenen Weg zum Sprechen und Schreiben suchen musste. Und es ist bei allen Widerständen, die sich in den Weg stellten, die Geschichte eines Wunderkinds, das früh ein Gefühl für das Erzählen besaß und das über eine Gabe verfügte, die alle anderen überstrahlte: beobachten zu können und das Beobachtete traumwandlerisch in die richtigen Worte zu fassen.

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Raum und Zeit 1

KURZ VOR Ende der Ferien fahre ich mit den Eltern nach Köln zurück, und wir beziehen wieder unsere dortige Wohnung. Sie besteht aus zwei Zimmern, die auf einen großen, ovalen Platz blicken, sowie aus einer Küche und einem dritten Zimmer, die auf den Innenhof schauen. Außerdem gibt es noch einen Flur, und an diesen Flur grenzen zwei kleine Kammern. In der einen stehen Haushaltsgeräte, und die andere ist eine Speisekammer.

Die beiden Zimmer zum großen Platz hin sind Wohn- und Arbeitszimmer, das Zimmer zum Hof hin ist das Schlafzimmer der Eltern. Ich selbst schlafe auf einer Couch im Wohnzimmer, die sich abends ausklappen lässt. Tagsüber aber ist sie eine richtige Couch, auf der oft die Mama sitzt, wenn sie Radio hört oder etwas liest (Fernsehen gibt es noch nicht). Das Arbeitszimmer wird sowohl von Mama als auch von Papa genutzt. An den Nachmittagen sitzt Mama an dem dunklen Schreibtisch und beschäftigt sich mit Büchern aus der Bibliothek, in der sie vormittags (wenn ich in der Schule bin) arbeitet. Und an den Abenden sitzt meist Papa an dem Schreibtisch, liest in seinen Fachzeitschriften oder schreibt etwas auf, was er für seine Tagesarbeit als Geodät braucht.

Bevor Papa mit der Schreibschule im Westerwald begonnen hat, hat niemand von uns über die Kölner Wohnung und ihre Einrichtung nachgedacht. Als wir aber in Köln zurück sind, fangen wir alle sofort an, das zu tun. Was ist los? Was ist denn inzwischen passiert?

Wir haben alle drei noch eine knappe Woche lang Ferien, in dieser Zeit wollen wir uns wieder in Köln einrichten. Papa sagt, dass er die Schreibschule natürlich mit mir fortsetzen möchte, und Mama sagt endlich einmal nichts dazu, weil sie in Köln nicht darauf besteht, dass ich draußen spielen soll. (In Köln ist ein solches Spielen nicht ungefährlich, deshalb hat sie nichts dagegen, wenn ich mich in der Wohnung aufhalte.) Auf den ersten Blick scheint es ganz einfach zu sein, die Schreibschule in der Kölner Wohnung fortzusetzen. Papa und ich – wir versuchen es im Arbeitszimmer. Und so setzen wir uns also nebeneinander hinter den dunklen Schreibtisch, räumen die Sachen darauf etwas beiseite und überlegen uns, wie wir weitermachen.

Ich aber spüre vom ersten Moment an, dass es nicht geht. Es geht nicht, weil ich an diesem Schreibtisch nicht arbeiten kann. Er ist viel zu groß und zu schwer und zu dunkel, und außerdem liegen auf ihm viele Sachen, mit denen Papa oder Mama beschäftigt sind. Platz für das Schreiben wäre höchstens in der Mitte, und zwar dort, wo der Tisch seine einzige freie Fläche hat. Diese Fläche ist aber klein, und rechts und links türmen sich die Berge der anderen Sachen. Sie stören und sie beengen mich, ich kann zwischen diesen Bergen nicht schreiben, es lenkt mich viel zu sehr ab, und außerdem ist die freie Fläche zu klein. Ich brauche eine breite, leere Fläche wie in der Jagdhütte, es muss eine Fläche sein, auf der es nichts anderes gibt, sie muss also leer und frei und breit sein, sonst kann ich nicht schreiben.

Ich erkläre Papa, warum ich auf diesem Schreibtisch nicht arbeiten kann, und Papa versteht es und nickt und denkt nach, was wir tun könnten. Sollen wir jedes Mal, wenn wir mit der Schreibschule beginnen, die ganze Schreibtischfläche leer räumen? Das wäre zu umständlich und »viel Theater«. Ich schlage vor, dass wir es trotzdem einmal versuchen und schauen, was dann geschieht, und so räumen wir die Fläche leer und nehmen uns vor, endlich mit der Schreibschule zu beginnen.

Es geht aber wieder nicht. Und warum nicht? Bisher haben Papa und ich während der Schreibschularbeiten immer leise Musik aus dem Radio oder von einer Schallplatte gehört. Das Radio und der Schallplattenspieler stehen aber nebenan im Wohnzimmer. Hier, im Arbeitszimmer, fehlen sie mir, denn ich begreife jetzt, dass ich die leise Musik (von Bach, Händel oder inzwischen auch anderen Komponisten) zum Arbeiten brauche. Der Raum, in dem ich mich konzentriere, darf nicht ganz still sein, erkläre ich Papa, denn wenn der Raum ganz still ist, dann …

»Dann ist was?«, fragt Papa, und ich sage, dass ich dann die Stille höre. Und dass die Stille so laut ist, dass ich nicht arbeiten kann. Papa schaut mich an und sagt nichts, er überlegt anscheinend und sagt schließlich, es sei unmöglich, das Radio und den Schallplattenspieler aus dem Wohnzimmer hierher zu »bugsieren« (neues Wort!), denn wir bräuchten beide Geräte vor allem im Wohnzimmer und nicht hier, im Arbeitszimmer. Er selbst arbeite ohne Musik, und auch die Mama tue das, ja, es sei sogar so, dass weder er noch die Mama mit Musik gut arbeiten könnten. »Keiner von uns beiden kann das«, sagt Papa, und er sagt es so abschließend und deutlich, als hätte er gerade etwas sehr Bedeutendes und Endgültiges gesagt.

Es ist nun einen Moment still, und wir wissen beide nicht weiter. Dann aber sagt Papa, es wäre »die Überlegung wert«, ob wir nicht noch ein zweites Radio anschaffen sollten, und zwar ein tragbares Radio. Das könnten wir im Arbeitszimmer so aufstellen, dass es nicht weiter ins Auge falle oder störe. Außerdem aber könne ich dieses Radio mit mir herumtragen und genau da aufstellen, wo ich Musik hören wolle. »Also auch draußen, wo auch immer Du willst, auf der Straße oder auf einer Parkbank, einfach überall, sogar im Zoo, vor dem Affengehege.«

Ich muss lachen, als er das sagt, denn der Gedanke, ich hätte vor, ein tragbares Radio vor dem Affengehege im Zoo aufzustellen, um den Affen Bach oder Händel vorzuspielen, ist komisch. Die Idee, ein tragbares Radio zu kaufen, gefällt mir aber sofort, und ich stelle mir wirklich gleich vor, was ich mit ihm alles anstellen und wo ich damit Musik hören könnte. Das Radioproblem wäre also gelöst. Wenn es zu einem solchen Kauf käme, bliebe nur noch das Problem mit der freien Fläche auf dem dunklen Schreibtisch.

Als die Fläche frei ist und keinerlei andere Sachen mehr darauf liegen, stört mich nämlich noch etwas anderes als nur die fehlende Musik. Mich stört zunächst, dass es nicht meine eigene Fläche zum Arbeiten ist, sondern eine, an der auch Mama und Papa arbeiten. Zum Arbeiten brauche ich aber unbedingt eine eigene Fläche, eine Fläche, die nur mir gehört und auf der ich Sachen hinlegen und liegen lassen kann, wie ich es möchte.

Es gibt aber noch etwas weiteres Störendes. Von der freien Fläche des Schreibtischs im Arbeitszimmer schaue ich auf zu den Dingen ringsum im Raum. Es gibt einen dunklen Schrank (mit vielen Akten, Schriftstücken und Büchern), und es gibt einen runden Tisch mit zwei Sesseln. Vor den beiden Fenstern (mit ihren weißen, dünnen Gardinen) stehen Blumen, und es gibt im ganzen Raum mehrere Lampen. Eine Stehlampe, eine Schreibtischlampe, eine Deckenlampe.

All das ist zu viel, denn all diese Dinge lenken mich ab. Ich will sie nicht sehen, weder die Möbel noch die Lampen, noch sonst irgendetwas. Ich kann nicht schreiben, wenn ich von all diesen Dingen umgeben bin und all diese Dinge mich anstarren. Ich schaue zurück und denke über sie nach, ich schaue minutenlang auf ein einzelnes Teil und werde müde und schläfrig, denn während ich auf dieses Teil, das mich ablenkt, schaue, geschieht in meinem Kopf nichts. Er wird vielmehr leer, er trocknet aus, mein Gehirn legt sich schlafen, die Augen fallen mir zu. Wie aber soll ich dann schreiben? Zum Schreiben brauche ich ein vollkommen waches, nein, ein hellwaches Gehirn. Es sollte ein Gehirn sein, das an überhaupt nichts anderes mehr denkt, ein Gehirn, das nur auf das Schreiben aus ist. Genau dafür aber brauche ich ein leeres Zimmer, eine leere Schreibfläche, nur eine einzige Lampe (oder Kerze) und etwas leise Musik. Das sind die Voraussetzungen für das Schreiben, ohne sie kann ich nicht schreiben.

»Herrgott noch mal«, sagt Papa, als er das hört, und dann sagt er, wir sollten eine Insel im Meer kaufen, mit einer kleinen Hütte drauf und mit einer einzigen Palme. »Warum denn nur eine?«, frage ich. Und er antwortet: »Na, die zweite würde dich ablenken.« Und ich frage weiter: »Warum aber dann überhaupt eine Palme?« Und er antwortet: »Aus ihrem Holz machen wir die Schreibtischplatte.« Wir müssen beide lachen, wie vorhin, bei Papas Erwähnung des Affengeheges im Zoo. Unser Lachen kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir das Raumproblem noch nicht gelöst haben. Papa sagt es sogar, und er hat recht: »Dann weiß ich nicht weiter, mir fällt nichts mehr ein.«

Vorerst machen wir also nicht mit der Schreibschule weiter, sondern räumen in der Wohnung auf, damit wir bald wieder alle darin gut arbeiten können. Wo aber soll ich das tun? Und wann? Plötzlich gibt es neben dem Raumproblem auch noch ein Zeitproblem. Vormittags bin ich in der Schule, da geht es nicht, nachmittags arbeitet die Mama im Arbeitszimmer und abends der Papa, da geht es also auch nicht (einmal angenommen, ich würde es doch irgendwie schaffen, in diesem Zimmer zu arbeiten).

Wo und wann und wie? Seit unserer Rückkehr nach Köln gibt es lauter große Probleme, die es zuvor nicht gab. Zuvor habe ich nämlich einfach in der Küche meine wenigen Hausaufgaben gemacht. Ich habe mich nach dem Mittagessen (wenn die Mama etwas geruht hat) an den Küchentisch gesetzt, die Schulhefte aufgeschlagen und »mehr schlecht als recht« (neue Wendung!) etwas hineingemalt. Meist war es nichts Richtiges, sondern, wie der Lehrer oft sagte, »nur Gekritzel«, höchstens einige Buchstaben habe ich bisher einigermaßen hinbekommen, die Buchstaben meines Namens, schräg und unbeholfen habe ich sie auf eine Seite gemalt … – und darüber und darunter lauter verunglückte Hasen mit verwackelten Hasenohren, als hätten diese Hasen...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2015
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Das Kind, das nicht fragte • Die Berlinreise • Die Erfindung des Lebens • Die Moselreise • eBooks • Köln • Kreatives Schreiben • Pianist • Roman • Romane • Schreiben • Universität Hildesheim • Wunderkind
ISBN-10 3-641-16394-3 / 3641163943
ISBN-13 978-3-641-16394-5 / 9783641163945
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