Tanz des Vergessens (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
560 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-42522-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tanz des Vergessens -  Heidi Rehn
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Frühling 1919: Die junge Lou will nach dem tragischen Tod ihres Verlobten in den Wirren der Münchner Räterepublik nur noch eines: vergessen! Um ihren Schmerz zu betäuben, stürzt sie sich in das Bohème-Leben der frühen Zwanzigerjahre. Doch wie ein schwarzer Schatten hängt die Vorstellung über ihr, allen Menschen, die ihr nahestehen, Unglück zu bringen. Als sich dieser Glaube ein weiteres Mal zu bewahrheiten scheint, bleibt ihr nur noch ein letzter Ausweg ...

Heidi Rehn, Jahrgang 1966, wuchs im Mittelrheintal auf und kam zum Studium der Germanistik und Geschichte nach München. Seit vielen Jahren widmet sie sich hauptberuflich dem Schreiben. 2014 erhielt sie den 'Goldenen Homer' für den besten historischen Beziehungs- und Gesellschaftsroman. Als 'Kopfkino live' bietet sie sehr erfolgreich Romanspaziergänge durch die Münchner Innenstadt an, bei denen das fiktive Geschehen eindrucksvoll mit der realen Historie verbunden wird. Aktuelle Infos dazu auf www.heidi-rehn.de

Heidi Rehn, Jahrgang 1966, wuchs im Mittelrheintal auf und kam zum Studium der Germanistik und Geschichte nach München. Seit vielen Jahren widmet sie sich hauptberuflich dem Schreiben. 2014 erhielt sie den "Goldenen Homer" für den besten historischen Beziehungs- und Gesellschaftsroman. Als "Kopfkino live" bietet sie sehr erfolgreich Romanspaziergänge durch die Münchner Innenstadt an, bei denen das fiktive Geschehen eindrucksvoll mit der realen Historie verbunden wird. Aktuelle Infos dazu auf www.heidi-rehn.de

1


So also fühlte sich das Glück an. Lou hatte es geschafft. Die Dämonen waren besiegt, sie war zurück auf der Sonnenseite des Lebens. Endlich konnte sie vergessen. Von hinten schlang Curd ihr die Arme um die Taille, schmiegte sich eng gegen ihren Rücken und bettete das Kinn auf ihre Schulter. Ihm war in den letzten Wochen gelungen, worum sie monatelang verzweifelt gekämpft hatte: ihr wieder ein Lachen aufs Gesicht zu zaubern und das lähmende Schuldgefühl niederzuringen. Ein warmer Sonnenstrahl kitzelte sie auf der Nasenspitze. Dennoch wollte sie die Augen nicht öffnen. So groß ihr Glück im Kleinen gerade war, so wenig waren die Umstände im Großen derzeit dafür bereit.

Obwohl der Mai längst begonnen hatte, fegte seit Tagen Schneeregen durch die Stadt. Das passte zwar bestens zu den chaotischen Zuständen, die seit der Ermordung Kurt Eisners und der Ausrufung der zweiten Räterepublik in der bayerischen Hauptstadt herrschten, zum ersten Nachkriegsfrühling passte das allerdings ebenso wenig wie zu ihren Hochzeitsplänen. Seit letztem Mittwoch ging wegen des Generalstreiks gar nichts mehr, seit Donnerstag tobte der Kampf der Weißgardisten gegen die Spartakisten offen in der Stadt. Freikorpsverbände und Truppen der Reichswehr hatten einen undurchlässigen Ring um München geschlossen. Der Zugverkehr war unterbrochen, die Telefonleitungen gekappt. Kein halbwegs vernünftiger Mensch wagte sich mehr vor die Tür. Im Zweifelsfall genügte ein falsches Wort, um auf offener Straße standrechtlich erschossen zu werden. Unter diesen Umständen zum Standesamt zu gehen wäre Wahnsinn. Dabei riskierte man, zur Witwe zu werden, noch ehe der Bund fürs Leben offiziell besiegelt war. Wie viel klüger war es dagegen, sich den lieben langen Tag mit seinem Liebsten im Bett zu verkriechen und einzig der Liebe zu frönen! Das ging auch ohne Trauschein.

In Lous Bauch rumorte es. Mit ihren achtzehneinhalb Jahren war ihr der Hunger in allen Varianten vertraut. Ihre Erinnerungen reichten kaum mehr in die Jahre vor dem Krieg zurück, als noch goldene Zeiten und Überfluss geherrscht hatten. Der frühe Tod der Eltern und der überstürzte Weggang aus ihrer Heimatstadt Augsburg im letzten Herbst hatten sie ohnehin in unsichere Verhältnisse gestürzt. Curd ging es mit seinen gerade vierundzwanzig Jahren kaum besser, zumal er einige davon in den Schützengräben verbracht hatte. Lou fiel ein hervorragendes Mittel ein, um die Leere im Bauch für eine Weile zu vergessen. Sie rollte sich zurück auf den Rücken, tastete mit dem Fuß nach Curds Bein und rieb die Hüfte aufreizend an seiner. Statt ihr Begehren zu erwidern, erhob er sich aus dem Bett.

»Was ist?« Sie setzte sich auf, fuhr sich mit beiden Händen durch die kastanienfarbenen, kinnlangen Haare und blinzelte in die blendende Helligkeit. Curd stand vor dem brusthohen Gaubenfenster des engen Mansardenzimmers und versuchte, einen Blick auf die Straße zu erhaschen. Im gleißenden Sonnenschein schimmerte sein nackter, ausgemergelter Leib jungfräulich weiß. Markant unterteilten die eckigen Kniegelenke die langen Beine. Die Pobacken hatten jegliche Rundung verloren, auf dem Rücken zeichneten sich die einzelnen Wirbel spitz ab. Der Anblick dauerte Lou. Entschlossen schlug sie die Decke zurück, schwang die Beine über die Bettkante und begann, den Refrain von Walter Kollos Lied Ach Jott, wat sind die Männer dumm zu summen, um Curds Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Statt sich umzudrehen, presste er die Nase jedoch nur fester gegen die Fensterscheibe.

»Hörst du das?« Mit erhobenem Zeigefinger wandte er sich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder um.

»Da ist nichts.« Bedauernd zuckte sie mit den Schultern.

»Genau das ist es ja!« Curd kam zu ihr zurück und strahlte sie an. Seine grünbraunen Augen sprühten vor Übermut. »Da ist nichts mehr zu hören. Kein Schuss, kein Knall, kein gar nichts. Nicht einmal die Kirchenglocken läuten. Dabei ist Sonntag und außerdem der vierte Tag, an dem die Weißen versuchen, die Roten niederzuknüppeln und die Stadt zurückzuerobern.«

»Aber das heißt …«, setzte Lou an, um sofort von ihm unterbrochen zu werden: »Das heißt, es wird nicht mehr geschossen und gekämpft. Es ist vorbei, Lou! Wir können wieder auf die Straße. Lass uns feiern! Ich brauche frische Luft. Wir könnten zur Isar gehen oder in den Englischen Garten. Beim Monopteros lässt es sich wunderbar auf der Wiese tanzen.«

Neckend begann er zu singen: »Links geht der Ferdinand und rechts Luise …«

»Du sollst mich nicht Luise nennen!« Sie griff nach dem Kopfkissen, um ihm den Mund zu stopfen.

»Ist ja gut, mein Luischen, ich hör schon auf.« Frech grinsend wehrte er den Angriff ab. »Judith hat recht: Du bist eine richtig verruchte Lou, natürlich mit o und u. Wenn du nur nicht so viele Männer verschlingst wie deine berühmte Namensvetterin Lou-Andreas Salomé!«

»Lass dich überraschen.« Sie wollte ihn küssen, er aber wich ihr von neuem im letzten Moment aus.

»Wir müssen raus! Nach dem entsetzlichen Grau der letzten Tage ist mir nach frischem Grün. Bestimmt trauen sich auch die Spatzen wieder an die Luft. Lang schon habe ich keinen Vogel mehr zwitschern hören. Das Knurren unserer Mägen und das Schießen der Gewehre haben alles andere übertönt. Ach, ich freue mich so, dass es endlich vorbei ist.«

»Ist es dir völlig egal, wer gesiegt hat?« Sie musterte sein bartloses, fein gezeichnetes Gesicht, das durch die eingefallenen Wangen noch vornehmer wirkte. »Wer weiß, was uns blüht, wenn die Freikorpsler die Räteregierung zerschlagen haben?«

»Wir sind Theaterleute. Was kümmert uns die Politik? Als Österreicher muss ich mich sowieso nicht entscheiden. Ich wüsste auch gar nicht, wie. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre habe ich keine Lust mehr, mich auf eine bestimmte Seite zu schlagen. Egal, ob die Weißgardisten oder die Spartakisten gesiegt haben: Hauptsache, sie hören auf, wild um sich zu schießen! Lass uns den Frühlingstag genießen und unsere Liebe leben. Ab sofort sind wir nur noch glücklich!« Voller Übermut lief er zum Grammophon in der gegenüberliegenden Zimmerecke, wählte eine Platte aus, legte sie vorsichtig auf die Drehscheibe, kurbelte das Gerät an und setzte die Nadel auf. Erst drang nur Knistern und Rauschen an ihre Ohren, bis sich eine fröhliche Walzermelodie herauskristallisierte und das Orchester zu Paul Linckes O Frühling, wie bist du schön anhob. Sogleich begann Curd durch die enge Mansarde zu tanzen und die Melodie mitzusummen. Am Bett angelangt, verneigte er sich vor ihr. Lächelnd reichte sie ihm die Hand, erhob sich und folgte ihm ebenso splitterfasernackt wie er im Rausch des Dreivierteltakts durch die winzige Wohnung.

»Statt zum Englischen Garten könnten wir auch zum Marienplatz gehen und uns umhören, wann die Ämter wieder öffnen«, schlug sie vor, sobald er sie in einer schwungvollen Pirouette um die eigene Achse gewirbelt und exakt mit dem Schlussakkord zum Stehen gebracht hatte. »Dann können wir endlich beim Standesamt das Aufgebot bestellen. Verlobt sind wir lang genug. Jetzt wird geheiratet.«

»Du gibst wohl nie auf.« Er versetzte ihr einen kecken Nasenstüber.

»Ich erinnere dich nur an dein Versprechen.«

»Zuerst müssen wir etwas in den Magen kriegen, sonst schaffen wir den weiten Weg zum Standesamt nie, geschweige denn den zum Traualtar. Ich sterbe vor Hunger. Lass uns zum Theater in die Augustenstraße gehen. Theres Thalhammer hat mir letztens gesteckt, bei ihrem Bruder auf dem Land könne sie noch Speck und Rüben auftreiben. Wenn wir Glück haben, hat sie schon …«

»Gib zu, du kriegst kalte Füße«, unterbrach sie ihn.

»Natürlich kriege ich die. Ist das ein Wunder bei einer so zielstrebigen Braut wie dir?« Er versiegelte ihr mit einem langen Kuss den Mund.

»Um das Ganze zu beschleunigen, gehst du am besten allein in die Augustenstraße«, bestimmte sie, sobald er von ihr abließ. »Falckenberg schuldet dir noch den Lohn für deine letzten Entwürfe. Er soll dir gleich einen ganzen Sack Rüben dafür geben, schließlich hast du ihm die Skizzen für die neuen Bühnenbilder schon letzte Woche geliefert. Pasetti muss nie so lang auf seine Bezahlung warten.«

»Der ist auch fest bei den Kammerspielen angestellt.«

»Und er hat keine ungeduldige Verlobte zu Hause, die schnellstmöglich mit ihm zum Standesamt will.«

»Vielleicht ist das...

Erscheint lt. Verlag 25.6.2015
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • Bohème • Ernst • Foxtrott • Hoffoldinger • Jette • Judith • Judith Gege • Lou • München • Räterepublik • Richard • Roman • Schwabing • Starke Frauen • Wien • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-426-42522-X / 342642522X
ISBN-13 978-3-426-42522-0 / 9783426425220
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