Das Leben ist keine Kunst (eBook)

Geschichten von Künstlerpech und Lebenskünstlern
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
256 Seiten
Manhattan (Verlag)
978-3-641-15046-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Leben ist keine Kunst -  Wladimir Kaminer
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Was verbindet eine Putzfrau mit einem abgehalfterten Superstar, einem Kneipenwirt, einem Regenmacher, einem Maler oder Wladimir Kaminers Mutter? Wie all die anderen unvergesslichen Menschen in diesem Buch zeigen sie, wie sich das Leben und die Kunst zu hinreißenden Geschichten verbinden. Geschichten von höchster Komik, aber auch von grandiosem Scheitern. Was übrigens die Putzfrau betrifft: Ihr Fazit einer Don-Carlos-Premiere an der Berliner Staatsoper ist so unvergesslich wie die Oper selbst: 'Eine schöne Aufführung, wenn auch unaufgeräumt, die Kostüme der Sänger ungebügelt, die Dekoration staubig und das Theater im Ganzen schlecht geputzt ...'

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands.

50 Cent und die Toilettenfrau

Menschen handeln häufig nach Gefühl, aus dem Bauch heraus. Sie können sich dabei einbilden, streng nach Vernunft, gar nach Kalkül, vorzugehen. Sie glauben, alles durchgerechnet und im Griff zu haben. Doch hinter jedem Kalkül steckt immer eine Illusion, ein Traum, ein Missverständnis. Aufgrund von solchen Illusionen werden Kriege geführt, Friedensverträge geschlossen, die UNO trommelt ihre Blauhelme zusammen, Menschen treffen sich, Menschen verlieren sich. Und wer bringt alles wieder in Ordnung? Wer biegt den gekrümmten Stahl gerade? Wer näht die Löcher wieder zu? Jemand, den wir nicht kennen. Ich sage nur, im Hintergrund jedes Weltgeschehens steckt immer irgendeine bescheidene Person. Zum Beispiel eine Toilettenfrau aus Sachsen, die alle Strippen in der Hand hält.

Hierzu ein Beispiel: Mein alter Freund Tony gehört zu der kleinen Gruppe der ehemaligen Bürger der DDR, die von der Wende profitiert haben. In seinem früheren Leben kellnerte Tony in seiner Heimatstadt in einem sozialistischen Restaurant. 1990 fing er als Erster an, Bier und Würstchen im Stadion zu verkaufen. Damit zog er durch Sachsen und Thüringen und das mit großem Erfolg. Tony hatte die brillante Idee, seine Würstchen in »Hot Dogs« umzutaufen. In Sachsen hatte es zwar schon immer gute Würste gegeben, aber keine »Hot Dogs«. Tony wurden die Dinger buchstäblich aus der Hand gerissen. Er stellte mehrere Imbissbuden quer durch die neuen Bundesländer auf, eröffnete das erste Irish Pub, das erste Steakrestaurant, mehrere Cocktailbars und zuletzt einen großen Club mit eigener Brauerei.

Er war erst 35, aber manchmal überfiel ihn schon die Langeweile. Er suchte neue Herausforderungen und Abenteuer. Er flog für drei Tage nach Afrika auf Safari, dann nach Rio zum Karneval, wo er eine Brasilianerin kennenlernte, die er nach Sachsen abschleppte. Die Brasilianerin hörte auf den Namen Sabine, war zwei Meter groß, sachsenfeindlich und eifersüchtig wie ein Othello auf Speed. Sabine beschwerte sich bei jeder Gelegenheit über das schlechte Wetter und die langweiligen Männer in Deutschland. Im Jahr darauf packte sie all seine Geschenke zusammen und flog nach Brasilien zurück. Für Tony war das ein harter Schlag. Er gab seiner Stadt und seinen muffigen Mitbürgern die Schuld an Sabines Rückzug. Er hatte die Nase gestrichen voll davon, in einem Provinznest zu leben, aber umziehen wollte er auch nicht. Tony beschloss, seiner Heimatstadt ein neues Image zu verpassen, Weltstars einzuladen, große Konzerte zu veranstalten, die Jugendkultur voranzutreiben, es richtig krachen zu lassen und dann vielleicht noch einmal Sabine einzuladen.

Als Erstes lud er den amerikanischen Rapper 50 Cent ein, der gerade eine Tour durch Europa plante. Es war ein glücklicher Zufall. Für 50 Cent ging in Amerika die Sonne des Erfolgs langsam unter, er kam in den zahlreichen Hitparaden nicht mehr vor, galt aber noch immer als Superstar. Es war für ihn genau die richtige Zeit, Europa zu entdecken. Aus dem Vertrag mit 50 Cent, in dem allein die »Bedürfnisse des Künstlers« drei Seiten lang waren, ging deutlich hervor, dass Bescheidenheit nicht zu dessen Tugenden zählte. Zu den Bedürfnissen des Rappers gehörten eine weiße Limousine, fünf Kisten Champagner und 200 000 Dollar bar auf die Hand. Gebongt, schrieb Tony an die Agentur des Rappers und bekam damit die Ehre, als erster Veranstalter von 50 Cent in Sachsen in die Annalen der Musikgeschichte einzugehen.

Finanziell war dieses Konzert ein absehbares Desaster, das wusste mein Freund von Anfang an. Die Sachsen sind sowieso keine Rapper, die Revolution liegt ihnen nicht im Blut. Sie mögen eher Kuschelrock mit ostdeutschem Hintergrund. Doch selbst wenn die Puhdys spielten, kamen gerade mal tausend Leute in der Sportarena zusammen. Aller Anfang ist schwer, dachte Tony. Er besorgte das Bargeld und die Limousine, gewann sogar »Rotkäppchen Sekt« als Partner. Die Firma wollte bei den jungen Leuten für ihre prickelnden Produkte Werbung machen und sponserte für die Veranstaltung zehn Kisten »Käppchen Lux Superior«, das Edelste, was sie anzubieten hatte. Dazu noch zehn Kisten des Mixgetränks »Rotkäppchen vs. Wolf«, eine Mischung aus Sekt und Tequila. Das Teufelszeug sollte als Begrüßungsdrink verteilt werden.

Tony war mit der Vorbereitung des Konzerts voll ausgelastet. Vor lauter Aufregung hatte er Sabine schon fast vergessen. Zum verabredeten Termin landete 50 Cent mit einer gecharterten Maschine in Tonys Heimatstadt und trat in der Sportarena auf. Das Konzert war besser besucht als eines der Puhdys, obwohl auch nicht ausverkauft. Tony steckte dem Rapper noch 2000 Euro in die Tasche, damit er nach dem Konzert zu der eigens für ihn arrangierten Afterwork-Party in Tonys Club käme. Dort stellte er dem Rapper sein Team vor – den Programmdirektor, den Finanzdirektor, den Gastronomen, den Sicherheitschef … Alle schüttelten dem Musiker die Hand und wollten sich mit ihm fotografieren.

Nichts davon wusste Susi, die Toilettenfrau, die in der unteren Etage mit ihrem Tellerchen und kleinem Fernsehgerät im Durchgang zu den Toiletten saß. Susi hatte ein Glasauge und war in der Stadt eine Legende – auf jeden Fall viel bekannter als der amerikanische Gast. Nicht jeder traute sich, in Tonys Club auf die Toilette zu gehen, denn Susi war eine überaus gewissenhafte Toilettenfrau. Sie liebte Ordnung und Sauberkeit und forderte dasselbe auch von ihren Besuchern. Wenn sich jemand ihrer Meinung nach falsch benahm, zum Beispiel absichtlich danebenpinkelte, dann verpasste Susi ihm schon mal locker einen Tritt in den Hintern. Sie hatte einmal bei einer Harley-Davidson-Party einem Rocker die Lederjacke mit einer Schere auf dem Rücken zerschnitten, als er sie umarmen wollte, und einen schwäbischen Geschäftsmann biss sie in den Finger, als er ihr aus Spaß das Kleingeld vom Teller klauen wollte. Manche Gäste hatten im Laden sogar Toilettenverbot. Die Teenies hatten bei ihren Partys Angst aufs Klo zu gehen, sie pinkelten sich lieber in die Hose, als sich von dem »Glasauge« erwischen zu lassen.

Für viele im Club war es ein Rätsel, warum Tony diese völlig durchgeknallte Rentnerin überhaupt beschäftigte. Nur die wenigen Eingeweihten wussten Bescheid. Im früheren Leben in der sozialistischen DDR, als Tony noch kein cooler Clubbesitzer war, sondern ein kleiner Junge mit einem Schlüsselbund um den Hals, der bei seiner Mutter lebte, wohnte Susi ihnen gegenüber auf demselben Flur im Erdgeschoss eines großen Mehrfamilienhauses. Tonys Mutter arbeitete in der Kantine eines Betriebes, und oft, wenn die Leitung des Betriebes etwas zu feiern hatte, musste sie Überstunden machen. Tony hatte keine Lust, währenddessen allein in der Wohnung zu sitzen, und ging zu Susi. Sie hatte bei einem Betriebsunfall ein Auge verloren, bekam eine Invalidenrente, sah nicht schön aus und hatte deswegen nie einen Mann abbekommen. Tony und Susi aßen zusammen und spielten zusammen Lotto. Susi kuckte sogar das Sandmännchen mit, aber nur wenn Tony seine Hausaufgaben erledigt hatte, denn Ordnung musste sein, und Susi war eine sehr gewissenhafte Frau.

Dann kamen die neuen Zeiten, Tonys Mutter starb, und er wurde zum obercoolen Clubbesitzer. Susi langweilte sich zu Hause, bat Tony um eine Anstellung und bekam von ihm diese Arbeitsstelle vor der Toilettentür seines Clubs zugewiesen. Susi erledigte ihren Job mit großer Hingabe und genoss bei den Mitarbeitern große Autorität. Es war klar, eher würde Tony den Programmdirektor rausschmeißen, den Finanzdirektor oder den Koch – Susi wäre unter allen Umständen geblieben.

Die Party erreichte gegen drei Uhr nachts ihren Höhepunkt. Der amerikanische Gast trank fleißig, pendelte von Tisch zu Tisch, und unweigerlich näherte sich der Augenblick, da ihm klar wurde, dass er dringend auf die Toilette musste. Susi schaute gerade eine Filmwiederholung im Ersten Programm, als ein schwarzer Mann mit einer großen Sektflasche sich vor ihr aufbaute. Männer, die mit Flaschen auf die Toilette gehen, hatte Susi noch nie leiden können. Doch der Mann war ein Fremder und handelte möglicherweise aus Unwissenheit falsch. Sie streckte ihre Hand aus, um dem nächtlichen Gast die Flasche abzunehmen, und sagte »50 Cent«. Ich habe vergessen zu erwähnen, dass das Toilettengeld in diesem Laden willkürlich von Susi auf 50 Cent pro Person festgelegt worden war. So viel war ihr die Reinigung und Instandhaltung der Räume wert.

Der Rapper war von diesem Empfang ziemlich beeindruckt. Er hielt sich zwar für einen ganz Großen, hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass seine Popularität so weit reichen würde. Spontan beschloss er, der Frau einen Gefallen zu tun. Er nahm ihren Kugelschreiber vom Tisch, um ihr auf ihren Kittel ein Autogramm zu kritzeln. Zehn Minuten später klopfte der Leiter des Sicherheitsdienstes an Tonys Bürotür, als der gerade den schönen Mädchen aus der 50-Cent-Begleitgruppe seine Afrika-Trophäen zeigte: Antilopenschädel und einen Tigerzahn, für teures Geld in einem Souvenirladen unter dem Tresen gekauft. Der Sicherheitschef meldete verlegen, dass es zu einer Schlägerei auf der Toilette gekommen sei – Susi gegen 50 Cent.

Sie gingen zusammen nach unten und halfen dem Sänger wieder auf die Beine, sein Gesicht war zerkratzt.

»Was ist passiert, Susi?«, fragte Tony.

»Er wollte nicht zahlen«, antwortete sie.

Tony und der Sicherheitschef gaben dem Rapper prophylaktisch eine Kopfnuss, trugen ihn an die frische Luft und steckten ihn in seine Limousine.

So ging sein erstes und letztes Konzert in Ostdeutschland zu Ende. Bald darauf verabschiedete er sich gänzlich von der Bühne und wurde Produzent. Und egal was passiert, er geht...

Erscheint lt. Verlag 8.9.2015
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Absurde Alltagsgeschichten • Alltagskomik • eBooks • Kunst • Künstler • Lebenskünstler • Pechvögel • Spaß
ISBN-10 3-641-15046-9 / 3641150469
ISBN-13 978-3-641-15046-4 / 9783641150464
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