Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte (eBook)

Roman
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2015 | 1. Auflage
384 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-17490-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte -  SALMAN RUSHDIE
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Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)
Salman Rushdie erzählt in seinem neuen Roman eine zeitlose Liebesgeschichte in einer Welt, in der die Unvernunft regiert.

Dunia, die Fürstin des Lichts, verliebt sich in den Philosophen Ibn Rush und zeugt mit ihm viele Kinder, die in die Welt hinaus ziehen. Ibn Rush gilt als Gottesfeind, sein Gegenspieler ist der tiefgläubige islamische Philosoph Ghazali. Die Geister der beiden geraten in Streit. Der Kampf des Glaubens gegen die Vernunft beginnt und entfacht einen so furchtbaren Sturm, dass sich im Weltall ein Spalt öffnet, durch den die zerstörerischen Dschinn zu uns kommen. Die Existenz der Welt steht auf dem Spiel. Dunia entschließt sich, den Menschen zu helfen.

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

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Sehr wenig weiß man, doch viel wurde geschrieben über die wahre Natur der Dschinn, jener Wesen aus rauchlosem Feuer. Sind sie gut oder böse, teuflisch oder gütig? Diese Fragen werden heiß diskutiert. Weitgehend einig ist man sich über Folgendes: Sie sind launisch, unberechenbar und mutwillig, können sich mit hoher Geschwindigkeit fortbewegen, Größe und Gestalt wechseln, wenn es ihnen beliebt oder sie dazu genötigt werden, können Sterblichen Wünsche gewähren und haben ein grundsätzlich anderes Zeitgefühl als Menschen. Man verwechsle sie nicht mit Engeln, obgleich manche der alten Geschichten fälschlich meinen, der Teufel selbst, der gefallene Engel Luzifer, der Sohn der Morgenröte, sei der größte der Dschinn. Lange strittig waren auch ihre Wohnstätten. Einige, noch ältere Geschichten behaupten, in durchaus verleumderischer Absicht, dass die Dschinn hier unter uns auf Erden, in der sogenannten niederen Welt, in Ruinen und an vielerlei ungesunden Orten leben wie Müllhalden, Totenäckern, Abtrittsgruben, Kloaken und, wo immer möglich, Misthaufen. Diesen ehrenrührigen Äußerungen nach zu urteilen, täten wir gut daran, uns nach jedem Kontakt mit Dschinn gründlich zu waschen. Sie stinken und übertragen Krankheiten. Berühmte Kommentatoren behaupten freilich schon lange, was wir heute als gesichert ansehen: Die Dschinn leben in ihrer eigenen, von unserer durch einen Schleier getrennten Welt, und diese obere Welt, die manchmal Peristan oder Märchenland heißt, ist zwar ungeheuer groß und weit, ihre Beschaffenheit uns aber verborgen.

Die Dschinn als nicht menschlich zu bezeichnen, erübrigt sich fast, doch die Menschen haben zumindest einige Eigenschaften mit ihren sagenhaften Gegenspielern gemein. In Religionsdingen zum Beispiel gibt es unter den Dschinn Anhänger aller Glaubensrichtungen auf Erden, aber auch Ungläubige, denen die Vorstellung von Göttern und Engeln so fremd ist, wie sie selbst es den Menschen sind. Und obwohl viele Dschinn keinerlei Moral kennen, kennen zumindest einige sehr wohl den Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen dem Pfad zur rechten und dem zur linken Hand.

Manche Dschinn können fliegen, andere kriechen in Schlangengestalt über den Boden oder rennen bellend und die Reißzähne bleckend als riesige Hunde herum. Im Meer und bisweilen auch in der Luft nehmen sie gern das äußere Erscheinungsbild von Drachen an. Dschinn niederen Ranges können auf der Erde ihre Form häufig nicht lange bewahren. Diese amorphen Kreaturen schlüpfen gelegentlich durch Ohren, Nasen oder Augen in die Menschen, nehmen deren Körper eine Weile lang in Besitz und werfen ihn ab, wenn sie seiner überdrüssig sind. Leider überleben die Menschen eine solche Besetzung nicht.

Die weiblichen Dschinn, also die Dschinnya oder Dschinniri, sind noch rätselhafter, noch komplizierter und seltener zu fassen, weil sie Schattenfrauen aus feuerlosem Rauch sind. Es gibt grausame Dschinniri und Dschinniri der Liebe, vielleicht aber sind sie in Wirklichkeit identisch, und grausame Naturen werden von Liebe besänftigt, während liebende Geschöpfe durch schlechte Behandlung zu einer Brutalität angestachelt werden, die wir Sterblichen uns gar nicht vorstellen können.

Dies ist die Geschichte einer Dschinnya, einer hochrangigen Prinzessin, die Blitzprinzessin genannt wurde, weil sie über den Blitz gebot, und die einst, nach unserem Sprachgebrauch im zwölften Jahrhundert, einen sterblichen Mann liebte. Es ist auch die Geschichte ihrer vielen Nachkommen und wie sie nach langer Abwesenheit in die Welt zurückkehrt, sich noch einmal für kurze Zeit verliebt und dann in den Krieg zieht. Erzählt wird des Weiteren von anderen Dschinn, männlichen und weiblichen, fliegenden und kriechenden, guten, bösen und moralisch gleichgültigen, und von der Zeit der Krise, der aus den Fugen geratenen Zeit, welche wir die Zeit der Seltsamkeiten nennen und die zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte währte, mit anderen Worten, tausendundeine Nacht. Und ja, wir leben seit damals schon wieder weitere tausend Jahre, sind aber alle für immer durch diese Zeit verändert. Ob zum Guten oder Bösen, darüber wird unsere Zukunft entscheiden.

Im Jahre 1195 geriet der große Philosoph Ibn Ruschd, einst der Kadi oder Richter von Sevilla und seit Kurzem der Leibarzt des Kalifen Abu Jusuf Jakub in seiner Heimatstadt Córdoba an höchster Stelle in Verruf und fiel in Ungnade, weil seine freisinnigen Ideen den zunehmend mächtigen und sich wie die Pest im maurischen Spanien verbreitenden fanatischen Berbern nicht passten. Er wurde in das kleine Dorf Lucena nicht weit von Córdoba, verbannt, in ein Dorf voller Juden, die nicht mehr sagen durften, dass sie Juden waren, weil die vorherige Herrscherdynastie von al-Andalus, die der Almoraviden, sie gezwungen hatte, zum Islam überzutreten. Ibn Ruschd, der Philosoph, der seine Weltanschauung nicht mehr darlegen durfte, dessen sämtliche Schriften verboten und dessen Bücher verbrannt worden waren, fühlte sich unter den Juden, die nicht sagen durften, dass sie Juden waren, gleich zu Hause. Er war der Günstling des Kalifen aus der herrschenden Dynastie, den Almohaden, gewesen, doch Günstlinge geraten aus der Mode, und Abu Jusuf Jakub gestattete den Dogmatikern, den großen Kommentator des Aristoteles aus der Stadt zu vertreiben.

Der Philosoph, der von seiner Philosophie schweigen musste, lebte in einer engen, ungepflasterten Gasse in einem ärmlichen Haus mit kleinen Fenstern, und der Mangel an Licht bedrückte ihn schrecklich. Er richtete sich eine Arztpraxis in Lucena ein, und wegen seines Ansehens als früherer Leibarzt des Kalifen kamen auch Patienten; zusätzlich benutzte er sein ihm verbliebenes Vermögen, um in den Pferdehandel einzusteigen, und investierte in die Herstellung der großen Tonkrüge, der tinajas, in denen die Juden, die keine Juden mehr waren, Olivenöl und Wein aufbewahrten und verkauften. Nicht lange nach dem Beginn seines Exils erschien eines Tages ein Mädchen von vielleicht sechzehn Lenzen vor seiner Haustür, lächelte, klopfte aber weder an noch störte sie in irgendeiner Weise seinen Gedankengang, sondern stand einfach nur da und wartete geduldig, bis er seine Anwesenheit bemerkte und sie hereinbat. Dann erzählte sie ihm, sie sei seit Kurzem elternlos, habe keinerlei Einkommen, wolle aber nicht in einem Hurenhaus arbeiten. Es heiße Dunia, was nicht wie ein jüdischer Name klang, aber den durfte sie ohnehin nicht sagen, und weil sie des Lesens und Schreibens unkundig war, konnte sie ihn auch nicht aufschreiben. Dunia berichtete weiter, ein Angehöriger des fahrenden Volkes habe ihr den Namen vorgeschlagen, gesagt, er komme aus dem Griechischen und bedeute »die Welt«, und diese Vorstellung habe ihr gefallen. Ibn Ruschd, auch Übersetzer von Aristoteles, wollte ihr gegenüber nicht wortklauberisch sein, denn er wusste, dass »Dunia« in so vielen Sprachen »die Welt« bedeutete, dass übertriebene Genauigkeit fehl am Platze war. »Warum hast du dich nach der Welt genannt?«, fragte er sie, und sie schaute ihm in die Augen und erwiderte: »Weil aus mir eine Welt strömen wird und die, welche aus mir strömen, sich in alle Welt zerstreuen werden.«

Da er ein Mann der Vernunft war, kam er gar nicht auf die Idee, dass sie ein übernatürliches Wesen sein könne, eine Dschinnya aus dem Stamm der weiblichen Dschinn, den Dschinniri: eine vornehme Prinzessin dieses Stammes, die, fasziniert von den Menschen im Allgemeinen und den geistvollen im Besonderen, auf irdischer Abenteuersuche war. Er nahm sie als Haushälterin und Geliebte in sein bescheidenes Heim, und bei einer ihrer nächtlichen Umarmungen flüsterte sie ihm ihren »wahren« – das heißt falschen – jüdischen Namen ins Ohr, und das wurde ihr Geheimnis. Dunia, die Dschinnya, war so atemberaubend fruchtbar, wie sie es prophezeit hatte. In den folgenden zwei Jahren, acht Monaten und achtundzwanzig Tagen und Nächten wurde sie drei Mal schwanger und gebar jedes Mal eine Vielzahl von Kindern, wenigstens sieben, hatte es den Anschein, und einmal elf oder möglicherweise sogar neunzehn; die Aufzeichnungen sind weder eindeutig noch auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfbar. Alle Kinder erbten ihr besonderes Kennzeichen: Sie hatten angewachsene Ohrläppchen.

Wäre Ibn Ruschd ein Kenner des geheimnisumwehten Wissens des Okkulten gewesen, hätte er damals begriffen, dass seine Nachkommen die Sprösslinge einer nichtmenschlichen Mutter waren, doch er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um groß darüber nachzudenken. (Manchmal glauben wir, dass es ein Glück für ihn und unsere ganze Geschichte war, dass Dunia ihn wegen seines brillanten Verstandes liebte, denn er war vielleicht zu eigensüchtig, als dass man ihn um seines Wesens willen hätte lieben können.) Der Philosoph, der nicht philosophieren durfte, befürchtete, dass seine Kinder von ihm die bedauerlichen Anlagen erben würden, die ihm Reichtum und Fluch zugleich waren. »Wer dünnhäutig, weitsichtig und redselig ist«, sagte er, »fühlt zu intensiv, sieht zu klar und spricht zu freimütig. Er ist der Welt gegenüber verwundbar, während die Welt sich selbst für unverwundbar hält, er versteht ihre Wandelbarkeit, während sie meint, sie sei unwandelbar, er ahnt vor allen anderen, was kommt, er weiß, dass die barbarische Zukunft die Tore zur Gegenwart einreißt, während sich andere an die abgelebte, hohle Vergangenheit klammern. Wenn unsere Kinder Glück haben, erben sie nur deine Ohren, da sie aber leider und unleugbar auch meine sind, denken sie vermutlich zu bald zu viel und hören zu früh zu viel, und darunter Dinge, die man nicht denken oder hören darf.«

»Erzähl mir eine Geschichte«, bat Dunia oft, wenn sie zu Beginn ihres Zusammenlebens beieinanderlagen. Er...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2015
Übersetzer Sigrid Ruschmeier
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Two Years, Eight Months and Twenty-Eight Nights
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Booker-Preisträger • Dschinn • eBooks • friedenspreises des deutschen buchhandels • Liebesromane • Märchenbuch • Mitternachtskinder • Roman • Romane • Satanische Verse • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • spiegel bestseller 2015 • spiegel-bestseller 2015
ISBN-10 3-641-17490-2 / 3641174902
ISBN-13 978-3-641-17490-3 / 9783641174903
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