Kennen Sie diesen Mann? (eBook)

Roman
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2015 | 1. Auflage
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-15451-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kennen Sie diesen Mann? -  Carl Frode Tiller
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David hat sein Gedächtnis verloren. Er weiß nicht mehr, wer er ist. In einer Zeitungsanzeige fordert er Verwandte und Bekannte auf, ihm einen Brief zu schreiben, um ihm seine Erinnerungen zurückzugeben. Und er bekommt Antworten auf seine Fragen. Aber will er die wirklich hören? Denn sie sind ganz unterschiedlicher Art und nicht immer schön. Sein Jugendfreund Jon, ein Musiker, der gerade den Halt zu verlieren scheint, meldet sich. Sein Stiefvater Arvid, ein Pfarrer, der auf den Tod wartet. Und seine Jugendliebe Silje, eine Frau mittleren Alters, die möglicherweise gerade im Begriff ist, aus ihrer Ehe auszusteigen. Die Briefe geben ihnen allen die unerwartete Chance, von ihrem eigenen Leben zu erzählen, während sie zugleich Davids Geschichte einkreisen. Aber wer ist David wirklich?

Carl Frode Tiller, geboren 1970, ist ein norwegischer Autor, Historiker, Musiker und Komponist, der seine Bücher auf Nynorsk schreibt. Er gilt als Meister der psychologischen Zwischentöne. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und in 16 Sprachen übersetzt. »Wer du heute bist« ist nach »Kennen Sie diesen Mann?« der zweite Teil der Trilogie um den gedächtnislosen David.

Saltdalen, 4. Juli 2006. Auf Tournee.

Wir fahren langsam ins Zentrum, falls man hier überhaupt von einem »Zentrum« sprechen kann, ein kleiner Verkehrskreisel mit ein paar Häusern drum herum. Ich lehne mich auf dem Sitz vor, sehe mich um, kein Mensch weit und breit, alles tot, still, so gut wie keine Geschäfte, nur eine Kneipe, die ist geschlossen, und ein Lebensmittelladen mit verhängten Fenstern. Verdammt, sollen wir hier etwa spielen? Sieht grad nicht so aus, als würde hier überhaupt jemand wohnen, ist mir ohnehin ein Rätsel, wer hier leben will, wer sich das antut. Ich lehne mich wieder zurück, lasse das Seitenfenster herunter und lege den Ellbogen auf den Türrahmen. Kühle, frische Luft schmiegt sich an mein Gesicht, angenehme Luft. Ich lege den Kopf in den Nacken und schließe die Augen, atme durch die Nase ein, so viele Gerüche liegen in der Luft, wenn es geregnet hat, dieser Geruch nach nasser Erde, nach Flieder. Ich öffne die Augen, beuge mich wieder vor. Verdammt, ist das hier eine gottverlassene Gegend, wie ausgestorben, kein Mensch zu sehen und auch fast kein Laut zu hören, bis auf unseren Motor. Und das Geräusch von Autoreifen, die über regennassen Asphalt rollen. Verstehe überhaupt nicht, wer an so einen Ort zieht.

»Hätten wir vor dem Auftritt noch ein bisschen mehr Zeit, würde ich glatt angeln gehen«, sagt Anders. »Es soll hier einen guten Lachsfluss geben.«

Drehe mich zu ihm um und grinse. Aber offensichtlich meint er es ernst, er sitzt auf der Rückbank und zeigt mit dem Kopf nach rechts. Ich recke den Hals und schaue in die Richtung. In einem Fenster auf der anderen Straßenseite hängt ein Pappschild, »Verkauf von Angelscheinen« steht darauf, schwarzer Edding und leicht nach rechts geneigte Schreibschrift. Drehe mich wieder um und schaue durch die Windschutzscheibe.

»Na ja«, sage ich. »Wenn man mal von Inzucht absieht, kann man hier bestimmt nur jagen und angeln und so.«

Schaue nach hinten und grinse ihn an. Aber Anders hat sich weggedreht und meine Bemerkung wohl nicht mitbekommen. Ich sehe wieder nach vorn.

»Und Sport, natürlich«, füge ich hinzu. »Skifahren und so! Aber keinen Mannschaftssport, für einen Mannschaftssport gibt’s hier bestimmt nicht genug Leute.«

Eine Weile sagt keiner von uns ein Wort.

Lars biegt nach rechts auf eine Straße, die hinunter zum Kai führt. Ich erhasche einen Blick auf das blauglänzende Meer, ein paar Möwen kreisen über einem grünen Container. Aber kein Schwein zu sehen, alles tot, verdammt, es ist mitten am Tag, und alles ist menschenleer. Beuge mich ein wenig vor und schaue von einer Seite zur anderen, grinse und schüttele den Kopf.

»Scheiße, Mann!«, sage ich, warte einen Moment, schüttele wieder den Kopf. »Sieht ganz so aus, als stünde der Zentrumspartei noch eine große Aufgabe bevor, wenn sie ihr Ziel erreichen wollen, ein lebendiges Landleben.« Warte wieder einen Moment, dann schaue ich zu Lars hinüber und schüttele ungläubig den Kopf. »Wenn du jetzt irgendwo ein Banjo und Volksmusik hörst, gibst du Gas!«, sage ich, lache kurz. Aber er lacht nicht mit, sitzt bloß da, beide Hände am Steuer, und starrt vor sich hin, kann sein, dass er »Beim Sterben ist jeder der Erste« nicht gesehen hat, für Lars gibt’s ja nur die Musik, der interessiert sich nicht die Bohne für Filme, jedenfalls nicht für solche.

»Scheiße, Mann«, murmele ich. »Bin ich froh, dass ich hier nicht wohne.«

Einen Moment lang sagt niemand ein Wort.

»Hier also auch nicht?«, fragt Lars leise und ohne mich anzuschauen.

»Kein Schwein auf der Straße«, sage ich.

»Nein«, sagt er kurz.

Ich sehe ihn wieder an, sage nichts, warte einen Moment. Was ist denn mit ihm los, verdammt. Er klingt so ernst. Sieht so ernst aus. Sein Gesicht ist so angespannt. Und er starrt vor sich hin. Ich warte ein paar Sekunden, wende den Blick nicht von ihm ab.

»Hast du was?«, frage ich. Er antwortet nicht, sitzt da mit steifen Armen, beide Hände am Lenkrad, stiert vor sich hin. Im Auto ist es mucksmäuschenstill, niemand sagt was. Was ist denn los? Lars ist doch normalerweise nicht so, ist fast immer gut drauf.

»Hast du was?«, frage ich noch einmal.

»Ich?«, fährt er mich an und schiebt den Kopf zugleich einen Zentimeter vor.

Völlige Stille.

Starre ihn verblüfft an.

»Ich hab es einfach langsam satt, dass du so negativ bist«, sagt er.

»Negativ?«, murmele ich.

»Ja, negativ«, sagt er, starrt unverwandt vor sich hin, wartet kurz, schluckt. »Egal, wo wir hinkommen, alle Orte sind Käffer«, sagt er. »Egal, was wir essen, es schmeckt zum Kotzen, alle, die wir treffen, sind Idioten.«

Sitze nur da und starre ihn an, bringe kein Wort heraus, was faselt er da, ich und negativ? Ich warte einen Moment, weiß nicht, was ich sagen soll, denn davon war noch nie die Rede, das kam völlig unerwartet, dass ich negativ bin, bin ich negativ? Ich warte einen Moment, dann drehe ich mich zu Anders um. Er schaut aus dem Fenster, drückt die Stirn gegen die Scheibe, tut so, als würde er mich nicht sehen, hat offensichtlich nichts mitgekriegt. Plötzlich wird mir klar, dass sie darüber gesprochen haben, dass sie sich darüber unterhalten haben und sich einig sind, dass ich immer nur alles runtermache. Und jetzt spüre ich, wie mein Herz schneller schlägt, wie der Puls abgeht. Ich starre Anders an und merke, dass sich mein Mund wie von selbst öffnet, sitze da mit offenem Mund, gaffe ihn an. Ich mache den Mund wieder zu. Schlucke einmal und noch einmal. Drehe mich wieder zu Lars um, schaue ihn an.

»Es ist echt anstrengend mit dir«, sagt er. »Verdammt anstrengend! Die ganze Tournee war anstrengend!«

Er sitzt da und starrt durch die Windschutzscheibe, das Gesicht angespannt und weiß, und er schluckt in regelmäßigen Abständen. Ich starre ihn unverwandt an. Bringe kein Wort heraus, weiß nicht, was ich sagen soll. Das hier kam so plötzlich, damit hatte ich nicht gerechnet, dass sie mich negativ finden, dass sie es anstrengend finden, mit mir zu reisen.

»Es ging schon beschissen los und ist dann immer schlimmer geworden«, sagt Lars. Dann räuspert er sich, sieht mich nach wie vor nicht an. »Ich glaube, du ahnst gar nicht, wie viel Kraft uns das kostet, dich einigermaßen bei Laune zu halten. Du läufst durch die Gegend und lästerst über alles und jeden, du machst alles runter, was sich zwischen Himmel und Erde bewegt. Kapierst du gar nicht, wie anstrengend das für uns ist, wenn wir mit dir zusammen sind?«

Ich höre mir an, was er sagt, und mir ist klar, dass er sich die Sätze zurechtgelegt hat, höre es an der Art, wie er spricht. Höre auch, dass er es ernst meint, es mag so klingen, als käme es ihm gerade in den Sinn, aber er meint es wirklich ernst. Ich starre ihn weiter fassungslos an. Warte einen Moment. Weiß nicht, was ich sagen soll. Darf auf keinen Fall wild drauflosreden, muss aufpassen, was ich sage. Denn das hier muss ich abkönnen, ich muss erwachsen genug sein, um derlei Kritik einzustecken, darf auf keinen Fall unsachlich werden und auf ihn losgehen. Aber das Ganze kam ziemlich unerwartet, darauf war ich nicht vorbereitet gewesen, sie hatten ja bisher über meine Sprüche gelacht, hatten über meine Schwarzseherei und meine abfälligen Bemerkungen ihre Witze gemacht. Oft habe ich mich sogar für schwarzseherischer und pessimistischer ausgegeben, als ich es eigentlich bin, war spöttisch und sarkastisch, um sie zum Lachen zu bringen, habe die ganze Zeit geglaubt, es sollte so sein, sie wären genauso gern mit mir zusammen wie ich mit ihnen, sie würden mich genauso mögen wie ich sie. Ich war der Meinung, dass ich noch nie so gut in eine Band gepasst habe wie in diese, sowohl musikalisch wie auch von den Leuten. Auch wenn ich so viel älter bin als sie.

Einen Moment ist es still. Langsam wende ich mich von Lars ab, stütze den Kopf in die rechte Hand und starre durch das offene Fenster, nehme die andere Hand hoch und kratze mich mit dem Mittelfinger an der Nase. Und dann fange ich plötzlich an zu heulen. Einfach so, als würde in mir ein Damm brechen, von dem ich nichts geahnt habe, Tränen schießen aus meinen Augen, laufen kalt über meine Wangen. Ich drehe den Kopf noch ein Stück weiter nach rechts. Wische die Tränen weg, schlucke. Scheiße, was ist das denn jetzt, ich sitze da und flenne, was ist bloß mit mir los, verdammt noch mal, ich habe weiß Gott wie lange schon nicht mehr geheult, und jetzt sitze ich da und flenne, flenne wegen einer solchen Bagatelle, weil sie behaupten, ich sei negativ, was ist bloß mit mir los, verdammt, ich mache mich ja lächerlich. Es dauert ein paar Sekunden, dann fange ich plötzlich an zu lachen, einfach so, fange lauthals an zu lachen, wiehere vor Lachen, versuche darüber zu lachen, dass alles so lächerlich ist, eine lächerliche Bagatelle, und ich versuche, lachend meine Tränen zu verscheuchen, aber es gelingt mir nicht. Die Tränen hören nicht auf, und ich sitze da und lache und weine im Wechsel, wie ein hysterisches Weibsbild, es hört sich total gestört an, als würde ich den Verstand verlieren, und die anderen sagen kein Wort, kapieren anscheinend nicht, was mich gerade reitet, denn das bin nicht ich, das ist so untypisch für mich wie nur irgend was, und jetzt muss ich mich zusammenreißen, so geht es nicht. Ich wische mir mit dem Finger die Nase trocken und schniefe. Beiße die Zähne zusammen und höre auf zu lachen. Huste ein wenig, räuspere mich. Lache nicht länger, kann aber auch nicht aufhören zu heulen, heule leise, meine Lippen sind tränennass, der Salzgeschmack bitzelt auf der Zunge.

Es ist...

Erscheint lt. Verlag 31.8.2015
Übersetzer Ina Kronenberger
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Innsirkling 1
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amnesie • eBooks • Erinnerung • Gedächtnisverlust • Identität • Norwegen • Roman • Romane • Selbstfindung • Suche • Vergangenheit
ISBN-10 3-641-15451-0 / 3641154510
ISBN-13 978-3-641-15451-6 / 9783641154516
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