Ein Kind zur Zeit (eBook)

(Autor)

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2015 | 2. Auflage
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60636-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Kind zur Zeit -  Ian McEwan
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Eines Tages wird für Stephen und Julie der schlimmste Alptraum aller Eltern Wirklichkeit: ihre dreijährige Tochter verschwindet spurlos. Ein Roman über eine Welt, in der Bettler Lizenzen haben und Eltern darüber aufgeklärt werden, daß Kindsein eine Krankheit ist. Aber auch eine subtile Ergründung von Zeit, Zeitlosigkeit, Veränderung und Alter.

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg ?Abbitte? ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt ?Am Strand? (mit Saoirse Ronan) und ?Kindeswohl? (mit Emma Thompson). Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille.

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg ›Abbitte‹ ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt kamen ›Am Strand‹ (mit Saoirse Ronan) und ›Kindeswohl‹ (mit Emma Thompson) in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille.

[7] Eins

»…und jenen Eltern, die allzu lange durch den blassen Relativismus selbsternannter Kindererziehungsexperten irregeleitet wurden…«

Autorisierter Leitfaden zur Kindererziehung
Her Majesty’s Stationary Office (HMSO)

Förderung öffentlichen Nahverkehrs wurde von der Regierung und der Mehrheit der von ihr Regierten seit langem als Beschneidung der persönlichen Freiheit angesehen. Zweimal täglich brachen zur Stoßzeit die verschiedenen Netze zusammen, und Stephen fand, er kam zu Fuß schneller von seiner Wohnung nach Whitehall, als wenn er ein Taxi nahm. Es war Ende Mai, und die Temperatur ging kurz vor halb zehn schon auf fünfundzwanzig Grad. Er näherte sich der Vauxhall Bridge, vorbei an den Zweier- und Dreierreihen im Stau bebender Autos, jedes nur mit seinem Fahrer besetzt. Das persönliche Freiheitsstreben hörte sich eher resigniert als passioniert an. Beringte Finger trommelten geduldig auf den Rinnen heißer Blechdächer, weißärmelige Ellbogen ragten aus offenen Fenstern. Zeitungen waren auf Lenkrädern ausgebreitet. Stephen schritt schnell durch die Menge, durch Lärmschichten plärrender Autoradios – Dudelmusik, dynamische Frühstücksmoderationen, Nachrichtenfetzen, Verkehrs-»Warnungen«. Soweit die Fahrer nicht lasen, hörten sie teilnahmslos zu. Das stetige Vorwärtsdrängen des Fußvolks mußte ihnen ein Gefühl [8] relativer Bewegung vermitteln: eines langsamen Rückwärtsgleitens.

Während Stephen im Zickzack überholte, hielt er wie immer, wenn auch kaum noch bewußt, Ausschau nach Kindern, einem fünfjährigen Mädchen. Es war mehr als eine Gewohnheit, denn Gewohnheiten kann man ablegen. Es war eine tiefe Neigung, seinem Wesen durch Erfahrung aufgeprägt. Es war nicht in erster Linie ein Suchen, wie es das früher einmal gewesen war, zwanghaft und lange Zeit. Zwei Jahre später waren davon nur noch Rudimente übrig; es war jetzt ein Sehnen, ein trockener Hunger. Eine biologische Uhr, leidenschaftslos in ihrer Unaufhaltsamkeit, ließ seine Tochter wachsen, erweiterte und komplizierte ihren einfachen Wortschatz, machte sie kräftiger, ihre Bewegungen sicherer. Die Uhr, unermüdlich wie ein Herz, hielt Wort mit einem immerwährenden Konjunktiv: Sie würde malen, zu lesen anfangen, einen Milchzahn verlieren. Sie wäre ein vertrauter Anblick, eine Selbstverständlichkeit. Es schien, als könne die Vielzahl der Anlässe diesen Konjunktiv verschleißen, die dünne, halbdurchsichtige Wand, deren feines Gespinst aus Zeit und Möglichkeit zwischen ihm und ihr stand: Sie ist aus der Schule gekommen und müde, ihr Zahn liegt unterm Kissen, sie sucht ihren Daddy.

Jedes fünfjährige Mädchen – Jungen aber auch – nährte den Fortbestand ihrer Existenz. In Läden, auf Spielplätzen, bei Freunden suchte er unfehlbar Kate in anderen Kindern, übersah er nicht die allmählichen Veränderungen, die zuwachsenden Fähigkeiten, fühlte er stets die ungenutzte Energie der Wochen und Monate, der Zeit, die eigentlich die ihre war. Kates Wachsen war zum Wesen der Zeit selbst [9] geworden. Ihr Scheinwachstum, Produkt obsessiven Leides, war nicht nur unausweichlich – nichts vermochte die unermüdliche Uhr anzuhalten –, es war auch notwendig. Ohne den Traum von ihrer fortbestehenden Existenz wäre er verloren gewesen, die Zeit stehengeblieben. Er war Vater eines unsichtbaren Kindes.

Aber hier auf der Millbank gab es nur Exkinder, die sich zur Arbeit schleppten. Weiter vorn, knapp vor dem Parliament Square, sah er eine Gruppe konzessionierter Bettler. Im Parlaments- und Regierungsviertel oder auch nur in Sichtweite des Platzes waren sie nicht zugelassen. Ein paar wenige aber nutzten den Zusammenfluß der Pendlerströme. Er sah ihre blitzenden Abzeichen aus einigen hundert Meter Entfernung. Dies war ihr Wetter, und sie trugen ihre Freiheit keck zu Schau. Die Brotverdiener mußten ausweichen. Ein Dutzend Bettler graste beide Straßenseiten ab, näherte sich ihm stetig gegen den Strom. Jetzt beobachtete Stephen ein Kind, kein fünfjähriges, sondern ein spindeldürres, etwa zehnjähriges Mädchen. Sie hatte ihn schon auf einige Entfernung erspäht. Sie ging mit schlafwandlerischer Langsamkeit, die amtliche schwarze Schale vor sich ausgestreckt. Vor ihr teilte sich der Strom der Büroangestellten und floß hinter ihr wieder zusammen. Im Näherkommen blieb ihr Blick auf Stephen geheftet. Er fühlte sich wie immer im Dilemma. Gab er Geld, verhalf er dem Programm der Regierung zum Erfolg. Nichts zu geben bedurfte entschlossener Abwendung von privater Not. Einen Ausweg gab es nicht. Es ist die Kunst schlechter Regierung, das Seil zwischen offizieller Politik und persönlichem Empfinden, dem Gefühl für das Richtige, zu kappen. [10] Neuerdings überließ er die Entscheidung dem Zufall. Hatte er Kleingeld in der Tasche, so gab er es. Hatte er keins, gab er nichts. Scheine gab er nie.

Die Kleine war gebräunt von sonnigen Tagen auf der Straße. Sie trug eine schmuddelige gelbe Baumwollbluse und das Haar ganz kurz. Vielleicht war sie entlaust worden. Als der Abstand kleiner wurde, sah er, daß sie hübsch war, sommersprossig und keck, mit spitzem Kinn. Sie war kaum noch fünf Meter entfernt, als sie plötzlich nach vorn schoß und einen noch feucht glänzenden Kaugummi vom Pflaster aufhob. Sie steckte ihn in den Mund und begann zu kauen. Trotzig warf sie den kleinen Kopf zurück, als sie wieder in seine Richtung blickte.

Jetzt stand sie vor ihm, die amtliche Bettelschale in der ausgestreckten Hand. Sie hatte ihn schon vor Minuten erwählt, solche Tricks beherrschten sie. Bestürzt fischte er in seiner Tasche nach einer Fünfpfundnote. Sie sah mit unbewegtem Gesicht zu, wie er sie auf den Münzen ablegte.

Kaum war seine Hand wieder weg, schnappte sie sich den Schein, knüllte ihn fest in ihrer Faust zusammen und sagte: »Alter Wichser.« Schon versuchte sie sich an ihm vorbeizudrücken.

Stephen packte die harte, schmale Schulter. »Was hast du da gesagt?«

Das Mädchen riß sich im Umdrehen los. Ihre Augen waren klein geworden, ihre Stimme kratzig. »Danke, Mister, hab ich gesagt.« Erst als sie außer Reichweite war, rief sie ihm nach: »Reicher Stinker!«

Stephen zeigte ihr vorwurfsvoll seine leeren Hände. Er lächelte mit geschlossenen Lippen, um zu zeigen, daß er [11] gegen die Kränkung immun war. Doch das Mädchen schlafwandelte schon weiter die Straße hinunter. Eine volle Minute lang schaute er ihr nach, bis er sie in der Menge aus den Augen verlor. Sie sah sich nicht um.

Die Offizielle Kommission für Kindererziehung, bekannt als des Premierministers Lieblingskind, hatte vierzehn Unterausschüsse gezeugt, deren Aufgabe es war, dem Muttergremium Empfehlungen zu unterbreiten. Ihre eigentliche Funktion, so hieß es zynisch, war die Befriedigung der unvereinbaren Wunschvorstellungen ungezählter Interessengruppen – Zucker- und Fast-food-Lobbys, Bekleidungs-, Spielwaren-, Babynahrungs- und Feuerwerksindustrie, Wohlfahrtsverbände, Frauenorganisationen, Bürgerinitiativen für fußgängerkontrollierte Überwege –, die von allen Seiten Druck ausübten. Wenige aus den meinungsbildenden Schichten verweigerten ihre Dienste. Nach allgemeiner Übereinkunft war das Land von lauter falschen Leuten bevölkert. Man hatte seine festen Vorstellungen von einer wünschenswerten Gesellschaft und was mit Kindern anzustellen sei, um eine solche für die Zukunft zu bewerkstelligen. Jedermann saß in irgendeinem Unterausschuß. Sogar Stephen Lewis, seines Zeichens Kinderbuchautor, saß in einem und verdankte dies allein dem Einfluß seines Freundes Charles Darke, der, nachdem die Ausschüsse ihre Arbeit aufgenommen hatten, sogleich zurücktrat. Stephen saß im Unterausschuß für Lesen und Schreiben, der unter dem tückischen Lord Parmenter tagte. Während der ganzen dürren Monate dieses Sommers, der sich als der letzte richtige Sommer dieses Jahrhunderts [12] erweisen sollte, erschien Stephen allwöchentlich zu den Sitzungen in einem düsteren Zimmer in Whitehall, wo dem Vernehmen nach 1944 die nächtlichen Bombenangriffe auf Deutschland geplant worden waren. Zu anderen Zeiten in seinem Leben hätte er viel zum Thema Lesen und Schreiben zu sagen gehabt, aber in diesen Sitzungen legte er am liebsten die Arme auf den großen polierten Tisch, neigte zum Zeichen respektvoller Aufmerksamkeit den Kopf und sagte nichts. Er war in diesen Tagen sehr viel allein. Ein Zimmer voller Leute hemmte indessen seine Selbstbetrachtungen nicht, wie er gehofft hatte, sondern förderte sie eher und gab ihnen ein Gerüst.

Meist dachte er an Frau und Tochter und was er mit sich anfangen sollte. Oder er rätselte über Darkes plötzlichen Abschied aus dem politischen Leben. Ihm gegenüber befand sich ein großes Fenster, durch das selbst im Hochsommer nie ein Sonnenstrahl hereindrang. Davor umrahmte ein kurzgeschorenes Rasenrechteck einen Hof, Platz für ein halbes Dutzend ministerieller Limousinen. Dienstfreie Chauffeure lungerten rauchend dort herum und schauten desinteressiert zu dem Ausschuß herein. Stephen hing seinen Erinnerungen und Tagträumen nach, was war und was hätte sein können. Oder hingen sie ihm nach? Manchmal hielt er zwanghafte imaginäre Reden, Anklagen voll Bitterkeit und Trauer, jedesmal in einer sorgsam redigierten Neufassung. Derweil hörte er mit einem halben Ohr dem Fortgang der Sitzung zu. Der Ausschuß teilte sich in die Theoretiker einerseits, die alles Denken schon lange vorher besorgt hatten oder besorgen ließen, und die...

Erscheint lt. Verlag 25.2.2015
Übersetzer Otto Bayer
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alkohol • Eltern • England • Englische Literatur • Entführung • Kind • Kindesentführung • Spannung • Trauer • Vater • Veränderung • Verlust • Verschwinden
ISBN-10 3-257-60636-2 / 3257606362
ISBN-13 978-3-257-60636-2 / 9783257606362
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