Morgenschwimmer (eBook)

Irische Geschichten
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
224 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-16802-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Morgenschwimmer -  Gerard Donovan
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Manchmal braucht es nicht viel, um das Leben vollkommen aus den Angeln zu heben
In diesen 13 Erzählungen schreibt der Ire Gerard Donovan zum ersten Mal über sein Heimatland, und er erweist sich als scharfer Beobachter der menschlichen Seele und des modernen Irlands. Wie in seinem Erfolgsroman »Winter in Maine« erzählt Donovan von Menschen, die mit einem Mal etwas Ungewöhnliches über sich selbst und ihr Leben begreifen und lernen müssen, mit dieser blitzartigen Erkenntnis zu leben. Und er schreibt von Menschen, die in ihrer Heimat heimatlos werden, die den Bezug zur Vergangenheit verlieren und unter dem Verlust der Menschlichkeit leiden.

Drei Freunde schwimmen jeden Morgen in der Bucht von Galway, aber eines Tages hört einer von ihnen in der Umkleidekabine zufällig mit, wie sich die beiden anderen fragen, ob er wohl weiß, dass ihn seine Frau betrügt. Ein Mann fährt mit seiner Frau von Dublin nach Galway zu den Schwiegereltern, und als er eine Werbetafel für eine Lebensversicherung sieht, fragt er seine Frau, wie lange sie mit einer neuen Beziehung warten würde, wenn er einmal stirbt - seine Frau sagt ihm mehr, als ihm lieb ist. Eine Frau entdeckt nach dem Tod ihres Mannes, dass er in einem anderen Ort ein komplettes zweites Leben mit Familie geführt hat; sie kann gar nicht verstehen, dass sie nie etwas gemerkt hat. Ein Archäologenpärchen findet in einer Ausgrabungsstätte, über die ein Parkplatz für ein Einkaufszentrum gebaut werden soll, das dreitausend Jahre alte Skelett eines Mädchens, und die Frau weiß plötzlich, was die Abtreibung, von der der Mann nichts mitbekommen hat, für sie bedeutet ...

Gerard Donovan wurde 1959 in Wexford, Irland, geboren und lebt heute im Staat New York. Er studierte Philosophie, Germanistik und klassische Gitarre, veröffentlichte Gedichtbände, Shortstorys und Romane. Sein erster Roman »Ein bitterkalter Nachmittag« wurde mit dem Kerry Group Irish Fiction Award ausgezeichnet und stand auf der Longlist des Man Booker Prize. Sein Roman »Winter in Maine« war ein internationaler Bestseller.

Morgenschwimmer


In der ersten Maiwoche, bevor das Wasser in der Bucht von Galway ein mildes Sommerblau annahm, fuhren Eric Hartman und John Berry zu Jims Haus und erzählten ihm, sie seien an diesem Morgen um acht schwimmen gegangen, beim Sprungturm am Ende der Promenade in Salthill. Die drei Männer waren zusammen aufgewachsen und lebten noch immer in derselben Stadt, obwohl es in den letzten Jahren nur noch selten vorgekommen war, dass die beiden sich bei Jim oder, wie sie es ausdrückten, Jim sich bei ihnen hatte sehen lassen.

Es war noch immer früh am Morgen, und Jim ging im Pyjama und mit schief aufgesetzter Brille in die Küche und trug die gefüllten Teetassen zum weißen Tisch.

Eric sagte: Komm doch mit, dann sind wir zu dritt.

John sagte: Ja, das Wasser ist kalt, der Beton ist kalt, aber wenn man einmal drin ist, ist es gar nicht so übel.

Sonst sagten sie nichts mehr, und Jim saß vor seiner Tasse. Er kratzte sich den Kopf, noch warm vom Kissen, von dem er sich so hastig erhoben hatte, als es klingelte. Es war fünf oder sechs Wochen her, dass er einen der beiden gesehen hatte. Aber so ging das eben, sogar mit Jugendfreunden: Früher oder später kommt immer ein anderes Leben mitsamt seinem Gepäck, auch noch in späteren Jahren.

Jim sagte: Kaltes Wasser ist nicht so mein Ding, aber ich habe gehört, dass die Bucht im Januar wärmer ist als im Sommer, durch den Golfstrom von Mexiko.

Du und deine Fakten, sagte Eric. Also, bist du dabei?

Jim schaute auf den Boden zwischen seinen Füßen und sah den Turm. Es war kalt dort; der Turm und das Betonhäuschen standen am Ende der Promenade, man war den Elementen ausgeliefert, ohne jeden Schutz vor dem starken Wind von der Bucht her. Und der einsame Weg zum kalten Sprung in eisiges Wasser lockte jeden Morgen einsame Menschen dorthin. Als Kind hatte er zugeschaut, wie die knochigen alten Schwimmer ins Wasser sprangen, um den Sockel des Turms herumschwammen und dann bibbernd zu ihren Handtüchern rannten, die sie über das Geländer gehängt hatten. Einer sprang immer, nass, wie er war, auf sein schwarzes Fahrrad und fuhr heim, ohne sich umzuziehen, kaufte sich unterwegs sogar noch eine Zeitung. Vielleicht wollte er um dieser Erinnerungen willen den beiden anderen sagen, dass er mitmachen werde, vielleicht hatte auch die Einsamkeit, die ihn neuerdings am Morgen überfiel, Woche für Woche ein bisschen länger angehalten.

So kam es, dass die drei um acht Uhr morgens, viermal die Woche, den ganzen Sommer hindurch und noch bis tief in den Herbst hinein, im Wasser des Atlantiks schwammen, schnelle rosa Arme in der aufgewühlten dunklen See.

 

Heute war Jim zwanzig Minuten zu früh dran. Das Wasser war schiefergrau, und ein böiger Wind schien das Sonnenlicht von den Felsbrocken rings um den Turm zu fegen. Er hatte nicht gut geschlafen, und als er am Meer entlangfuhr, sah er von den Aran-Inseln Regenschauer herantreiben und wusste, dass er keine Lust haben würde, auf die beiden anderen zu warten. Aus dem Spaß war Routine geworden, das war ihm klar, aber in letzter Zeit ging es ihren Gesprächen wie der in seiner Uhr gefangenen Zeit. Sie kamen immer wieder an einen Punkt, wo sie schon einmal gewesen waren. Er stellte das Auto ein Stück weiter vorn auf der Promenade ab als sonst und ging das Stück zu Fuß, um sich aufzuwärmen. Weil der Novembersonnenaufgang das Stück klaren Himmel gefunden hatte, wollte er schwimmen, solange die Sonne ihm noch auf die Haut scheinen konnte, auch wenn es eine Sonne ohne Wärme war, Hauptsache Sonne, denn diese Jahreszeit war erbarmungslos: Man stürzte sich hinein und brachte es hinter sich. Doch wenn er durchhielt, einfach weitermachte, würde er sich im Frühling vielleicht anders fühlen.

Er zog sich aus bis auf die Badehose, die er schon anhatte, und tappte vorsichtig über die Steine zum Wasser, fand eine tangfreie Stelle, ging in die Knie und sprang hinein. Die Kälte legte sich ihm wie ein Schraubstock um Kopf und Brust und hüllte Eis um seinen Körper, als er ganz in die grüne Stille eintauchte und die Augen dem Salz und dem wehenden Tang öffnete, dem Ballett dicker Ranken in einer langsamen Strömung. Er schlug mit den Armen, drehte den Hals, stieg an die Oberfläche und strampelte mit den Beinen, bis inmitten der Taubheit ein Körnchen Wärme glühte. Er beschrieb einen engen Kreis um den Turm und hievte sich auf einen Felsen, keuchend und unverständliches Zeug brabbelnd, nur um die schneidende Kälte abzuwehren. Ein Windstoß schickte ihm noch Gischt von den Felsen hinterher, als er sich seine Tasche schnappte und in das Badehäuschen lief, um sich umzuziehen. Er wärmte sich mit dem Gedanken an das trockene Handtuch, die Sonne, zum zweiten Mal heute, die auf der Rückfahrt auf dem Armaturenbrett leuchten würde, die heiße Dusche mit Wasser aus der Leitung.

In dem Häuschen nahm er das Handtuch und ging in die einzige Umkleidekabine, obwohl außer ihm niemand da war. Jim legte Wert auf dieses Quäntchen Privatsphäre. Er wickelte sich die Enden des Handtuchs um die Fäuste und zog es auf seinem Rücken hin und her, während er unwillkürlich die Zehen spreizte, damit sie den feuchten Beton nicht berührten, trocknete sich Brust und Beine ab und sah die blauen Venenspuren unter der Haut. Er warf das Handtuch hin und griff nach seiner Unterhose. Das war das Gute an dem rauen Beton hier: Man hatte keine Lust, lange zu verweilen und nachzudenken.

Er trocknete sich gerade die Füße ab, als jemand an der Tür des Häuschens seinen Namen aussprach.

Weißt du noch, was Jim gesagt hat? Im Juli war das, glaube ich.

Was denn?

Jim lächelte, als er die Stimmen seiner Freunde erkannte. Er zog mit dem Handtuch an den Zehen seines linken Fußes.

John sagte: Sei mal still, ist das Jims Auto da vorn?

Ich seh mal nach, sagte Eric. Nein, er ist nicht da.

Jim hatte schon die Hand an der Kabinentür, wollte sie aufmachen und ihnen sagen, dass er schon im Wasser gewesen war, doch dann rief John: Wisst ihr was, das wird der schönste Tag unseres Lebens!

Eric lachte. Nicht so laut! Er kann jeden Moment hier sein.

Jim hielt inne. Hatte er das wirklich einmal gesagt? Er hatte es gesagt. Besser, er zog sich die Hosen an, bevor er die Kabine verließ.

Steht da draußen auf den Felsen, sagte John, und erzählt uns was vom schönsten Tag unseres Lebens. Was sollte das eigentlich?

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut rauszuplatzen, sagte Eric. Steht da in der nassen Badehose, reckt die Arme in die Luft und sagt: Schaut nur, das klare Wasser, die Sonne in den Wolken, und dann sagt er –

Nein, nicht –

Mein Gott, Jungs, ist es nicht herrlich, am Leben zu sein!

In der Kabine zog sich Jim die Hose an. Die übrigen Sachen waren in der Plastiktüte außerhalb der Kabine. Er konnte jetzt nicht gut hinausgehen und Hemd und Socken holen. Seine Freunde redeten über ihn, es wäre ihnen peinlich gewesen. Und ihm auch.

John kam wieder zu Atem. Am liebsten hätte ich gesagt: Der schönste Tag? Wir gehen schwimmen, Jim. Und was machst du?

Wär mir ja egal, aber er war’s doch, dem die Puste ausgegangen ist, sagte Eric. Will unbedingt hundert Meter weit rausschwimmen und schafft’s kaum zurück. Kann von Glück sagen, dass er nicht vollends aufs Meer rausgetrieben wurde. Er denkt, er ist immer noch ein junger Kerl.

In der Kabine musste Jim lächeln. Sie sprachen hinter seinem Rücken über ihn, und er belauschte sie dabei. Er würde noch eine Minute warten, bevor er die Katze aus dem Sack ließ. Hinterher würden sie alle in der Kneipe darüber lachen und sich auf die Schulter klopfen. Wer bekommt schon zu hören, was seine Freunde über ihn sagen?

Während er mucksmäuschenstill in der Kabine wartete, dachte Jim an den Tag, an dem er so weit hinausgeschwommen war. Es war Hochsommer, und er hatte sich kühn genug gefühlt, etwas Neues zu erforschen, Grenzen zu verschieben, den Kreis zu den größeren Wellen hin zu erweitern und hilflos und mutig dem vielen Wasser zu trotzen. Er hatte es satt, den immer gleichen Weg einzuhalten, den seine Freunde durch die Wellen bahnten. Er fasste den Entschluss erst in dem Moment, als er hineinsprang, und konnte es deshalb den anderen beiden nicht sagen, die immer nebeneinander ein Stück hinter ihm schwammen. Er machte einen Bogen nach links und war in kürzester Zeit schon so weit draußen, dass der Turm um eine Handbreit geschrumpft und seine Freunde nur noch halb so groß waren, weiter, als er eigentlich vorgehabt hatte. Wie müde er wurde! Er sagte nichts, erst als der Krampf an seiner Wade zerrte, hätte er den anderen gern etwas zugerufen, aber womöglich hätten sie ihn ausgelacht oder den Ruf aus einer unerwarteten Richtung nicht gehört, weit links, wo sonst niemand schwamm, und deshalb trat er Wasser, um wieder zu Atem zu kommen, und sah zu, wie seine Freunde den Turm umrundeten und auf die Felsen kletterten. Dann spürte er den ersten Sog einer anderen Strömung, die ihn noch ein Stück weiter hinausschob, eine gleichgültige Hand, die ihn ins Offene hinausstieß, ins unbekannte Meer, außerhalb der magnetischen Anziehung des Turms. Panik erfasste ihn. Unter ihm gähnte die See. Mit hektischen Bewegungen kämpfte er sich parallel zur Küste weiter, bis der Sog nachließ und er wieder Richtung Strand schwimmen konnte und fünfzig Meter weiter vorn aus den Wellen stieg. Vorsichtig suchte er sich einen Weg über die scharfkantigen Felsen zurück zu dem Badehäuschen, berauscht von der Sonne und der Erleichterung darüber, dass er festen Boden unter den Füßen hatte, und als er beim Turm anlangte, waren die beiden anderen schon im Häuschen, doch seine Erleichterung hatte sich in unbändige Freude verwandelt. Er stand...

Erscheint lt. Verlag 9.2.2015
Übersetzer Rudolf Hermstein
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Country of the Grand (vormals Young Irelanders)
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abtreibung • eBooks • Erzählungen • Freunde • Geschichten • Heimat • Irland
ISBN-10 3-641-16802-3 / 3641168023
ISBN-13 978-3-641-16802-5 / 9783641168025
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