Denken/Ordnen (eBook)

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2018 | 1. Auflage
176 Seiten
diaphanes AG (Verlag)
978-3-03734-551-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Denken/Ordnen -  Georges Perec
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In »Denken/Ordnen«, seinem letzten Buch, forscht Georges Perec den kleinen Privat-Bürokratien nach, die jeder Einzelne entwickelt, um die Dinge der Welt zu versammeln, zu zerlegen und zum Verschwinden zu bringen: Anleitungen, Übungen, Listen, Methoden; seitenweise Kochrezepte (aber nur für Seezunge, Kalbsbries und Kaninchen!), verschiedene Arten, ein Bücherregal zu ordnen; Überlegungen über die Unmöglichkeit des Aufräumens und über die verschiedenen Arten körperlichen Aufenthalts beim Lesen (auf der Toilette, auf Reisen, beim Essen, im Bett ...) - und nicht zuletzt einige Seiten wunderbare Betrachtungen über Brillen, die für jeden, der selbst davon betroffen ist, fortan unerlässlich sein werden. Und das alles ist, wie stets bei Perec, nicht nur ungeheuer anregend, sondern zutiefst komisch und traurig zugleich.



Georges Perec war einer der wichtigsten Vertreter der französischen Nachkriegsliteratur und Filmemacher. Als Sohn polnischer Juden musste Perec als Kind die deutsche Besetzung Frankreichs miterleben. Sein Vater fiel 1940 als Freiwilliger in der französischen Armee, seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt. Kurz vor ihrer Verhaftung konnte sie ihren Sohn mit einem Zug des Roten Kreuzes aufs Land schicken und ihm so das Leben retten. 1967 trat Perec der literarischen Bewegung Oulipo bei, die Raymond Queneau ins Leben gerufen hatte. Das Kürzel Oulipo steht für »L' Ouvroir de Littérature Potentielle«, d.h. »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Die Schriftsteller von Oulipo, die aus dem »Collège de Pataphysique«, surrealistischen Gruppierungen oder dem Kollektiv »Nicolas Bourbaki« stammten, erlegten ihren Werken bestimmte literarische oder mathematische Zwänge auf, etwa den Verzicht auf bestimmte Buchstaben. Perecs Werk »Anton Voyls Fortgang« kommt so ganz und gar ohne den Buchstaben E aus. In den 70er Jahren begann Perec ebenfalls mit Erfolg Filme zu drehen. Kurz vor seinem 46. Geburtstag starb Georges Perec an Lungenkrebs.

7 - 10 Anmerkungen über das, was ich suche (Georges Perec)11 - 14 Über einige Anwendungen des Verbs »wohnen« (Georges Perec)15 - 20 Anmerkungen hinsichtlich der Gegenstände, die auf meinem Schreibtisch liegen (Georges Perec)21 - 28 Drei wiedergefundene Zimmer (Georges Perec)29 - 40 Kurze Anmerkungen über die Kunst und die Art und Weise, seine Bücher zu ordnen (Georges Perec)41 - 54 Zwölf Seitenblicke (Georges Perec)55 - 66 Orte einer List (Georges Perec)67 - 82 Ich erinnere mich an Malet & Isaac (Georges Perec)83 - 102 81 Kochkarten für Anfänger (Georges Perec)103 - 120 Lesen: sozio-physiologischer Abriss (Georges Perec)121 - 124 Die Schwierigkeit, sich eine ideale Stadt vorzustellen (Georges Perec)125 - 140 Betrachtungen über die Brillen (Georges Perec)141 - 166 »Denken/Ordnen« (Georges Perec)






Anmerkungen
hinsichtlich der Gegenstände,
die auf meinem Schreibtisch liegen

Auf meinem Schreibtisch liegen viele Gegenstände. Der älteste ist sicherlich mein Füllhalter; der neueste ist ein kleiner Aschenbecher, den ich letzte Woche gekauft habe; er ist aus weißer Keramik, und das Schmuckbild stellt das Denkmal der Märtyrer von Beirut dar (ich nehme an, die aus dem Krieg 1914, noch nicht die aus dem Krieg, der gerade ausbricht).

Ich verbringe täglich mehrere Stunden an meinem Schreibtisch. Manchmal wünschte ich mir, er wäre so leer wie nur möglich. Meistens ist es mir jedoch lieber, dass er fast maßlos überladen ist; der Tisch selber besteht aus einer ein Meter vierzig langen und zweiundsiebzig Zentimeter breiten Glasplatte, die auf Metallböcken liegt. Seine Stabilität ist weit davon entfernt, vollkommen zu sein, und genau besehen ist es gar nicht schlecht, dass er beladen oder sogar überladen ist: Das Gewicht der Gegenstände, das er aushalten muss, trägt dazu bei, ihn im Lot zu halten.

Ich räume meinen Schreibtisch noch ziemlich oft auf. Das Aufräumen besteht darin, dass ich alle Gegenstände anderswo hinlege, um ihnen dann einem nach dem anderen wieder ihren alten Platz zu geben. Ich wische die Glasplatte mit einem (manchmal mit einem Spezialmittel getränkten) Lappen ab und mache dann dasselbe mit jedem einzelnen Gegenstand. Das Problem besteht nun darin, zu entscheiden, ob dieser oder jener Gegenstand auf den Schreibtisch gehört oder nicht (wenn nicht, muss ich einen anderen Platz für ihn finden, was aber in der Regel nicht schwierig ist).

Diese neue Raumordnung geschieht selten aufs Geratewohl. Sie entspricht in den meisten Fällen dem Anfang oder dem Ende einer bestimmten Arbeit; sie erfolgt an jenen unsicheren Tagen, an denen ich nicht genau weiß, ob ich mich in eine neue Arbeit stürze, und an denen ich mich ausschließlich an diese Abkapselungstätigkeiten klammere: aufräumen, sortieren, Ordnung schaffen. In diesen Augenblicken träume ich von einer jungfräulichen, intakten Arbeitsfläche: jedes Ding an seinem Platz, nichts Überflüssiges, nichts, das übersteht, alle Bleistifte schön gespitzt (doch warum muss ich mehrere Bleistifte haben? Auf einen einzigen Blick sehe ich sechs!), alle Papiere aufeinandergestapelt oder, noch besser, überhaupt keine Papiere, nur ein Heft, das auf einer weißen Seite aufgeschlagen ist (der Mythos der tadellos glatten Schreibtische der Generaldirektoren: Ich habe einmal einen gesehen, der eine kleine Stahlfestung war, vollgepackt mit elektronischen oder angeblich elektronischen Apparaten, die auftauchten oder verschwanden, wenn man die Tasten eines Superarmaturenbrettes bediente …).

Später, wenn es mit meiner Arbeit vorangeht oder wenn sie auf der Stelle tritt, ist mein Schreibtisch wieder mit Gegenständen überladen, die manchmal nur der Zufall zusammenbringt (Heckenschere, Zollstock) oder die von einer lediglich vorübergehenden Notwendigkeit sind (Kaffeetasse). Einige bleiben lediglich für ein paar Minuten darauf, andere für einige Tage, andere wiederum, die eher zufällig hier gelandet sind, werden sich auf Dauer einrichten. Es handelt sich nicht ausschließlich um Gegenstände, die direkt mit der Schreibarbeit zu tun haben (Papier, Schreibwarenartikel, Bücher); andere sind mit täglichen (rauchen) oder periodischen (schnupfen, zeichnen, Bonbons lutschen, Patiencen legen, Kreuzworträtsel lösen) Praktiken verbunden, mit vielleicht abergläubischen Manien (einen kleinen Taschenkalender austüfteln), oder sie lassen sich keiner besonderen Funktion zuordnen, höchstens vielleicht Erinnerungen oder taktilen oder visuellen Vergnügungen oder einfach nur dem Gefallen an Nippes (Schachteln, Steine, Kiesel, getrocknete Disteln).

 

Im Großen und Ganzen könnte ich sagen, dass die Gegenstände, die auf meinem Schreibtisch liegen, nur deshalb dort liegen, weil mir daran liegt, dass sie dort liegen. Das hat nicht allein mit ihrer Funktion und nicht allein mit meiner Nachlässigkeit zu tun: So gibt es zum Beispiel keine Leimtube auf meinem Schreibtisch; sie befindet sich in einem kleinen Möbelstück mit Schubladen an den Seiten; ich habe sie vor einem Augenblick dorthin zurückgelegt, nachdem ich sie benutzt hatte; ich hätte sie auf meinem Schreibtisch liegen lassen können, aber ich habe sie fast mechanisch weggeräumt (ich sage »fast«, weil ich beim Beschreiben dessen, was auf meinem Schreibtisch liegt, stärker auf die Bewegungen achte, die ich dort mache). So gibt es Gegenstände, die für meine Arbeit zwar nützlich sind, aber nicht oder nicht immer auf meinem Schreibtisch liegen (Leim, Schere, Klebeband, Tintenflasche, Heftmaschine), andere, die nicht unmittelbar nützlich sind (Briefsiegel) oder die für andere Dinge nützlich sind (Nagelfeile) oder die überhaupt nicht nützlich sind (Ammoniten) und die dennoch da liegen.

In gewisser Weise werden diese Gegenstände ausgesucht, werden anderen vorgezogen. Es ist zum Beispiel klar, dass immer ein Aschenbecher auf meinem Schreibtisch stehen wird (es sei denn, ich hörte auf zu rauchen), aber es wird nicht immer derselbe Aschenbecher sein. In der Regel bleibt derselbe Aschenbecher ziemlich lange stehen; eines Tages stelle ich ihn dann aufgrund von Kriterien, die näher zu untersuchen vielleicht nicht uninteressant sein dürfte, anderswo hin (zum Beispiel neben den Tisch, auf dem ich Schreibmaschine schreibe, oder neben das Brett, auf dem meine Wörterbücher stehen, oder auf ein Regal oder in einen anderen Raum), und ein anderer Aschenbecher wird ihn verdrängen (eine eindeutige Entkräftung dessen, was ich gerade gesagt habe: genau in diesem Augenblick stehen drei Aschenbecher auf meinem Schreibtisch, das heißt zwei, die übrigens leer sind, zu viel; der eine ist der mit dem Denkmal der Märtyrer, eine Neuanschaffung aus allerjüngster Zeit; der andere, mit einer bezaubernden Ansicht der Dächer von Ingolstadt, ist gerade erst zusammengeleimt worden; derjenige, der zur Zeit benutzt wird, hat einen Korpus aus schwarzem Kunststoff und einen weißen, durchlöcherten Metalldeckel. Beim Anschauen und Beschreiben stelle ich übrigens fest, dass sie nicht zu meinen augenblicklichen Favoriten gehören: das Denkmal der Märtyrer ist wirklich zu klein, um etwas anderes zu sein als ein Aschenbecher beim Essen, Ingolstadt ist sehr zerbrechlich, und was den schwarzen mit dem Deckel angeht, so brennen die Zigaretten, die ich hineinwerfe, endlos weiter …).

 

Eine Lampe, eine Zigarettendose, eine Distel, ein Rauchverzehrer, eine Pappschachtel, die kleine, bunte Karteikarten enthält, ein großes Tintenfass aus Pappmaché mit Hornverzierungen, ein Bleistifthalter aus Glas, mehrere Steine, drei Schachteln aus gedrechseltem Holz, ein Wecker, ein Schubladenkalender, ein Bleiklumpen, eine große Zigarrenkiste (ohne Zigarren, aber voller kleiner Gegenstände), eine Stahlspirale, in die man unbeantwortete Briefe stecken kann, der Griff eines Dolches aus poliertem Stein, Register, Hefte, fliegende Blätter, mannigfaltige Instrumente oder Schreibutensilien, ein großes Löschkissen, mehrere Bücher, ein Glas voller Bleistifte, eine kleine Dose aus vergoldetem Holz (nichts scheint einfacher zu sein, als eine Liste aufzustellen, in Wirklichkeit ist es viel komplizierter, als es aussieht: man vergisst immer etwas, man ist versucht, usw. zu schreiben, aber eine Bestandsaufnahme ist es ja gerade dann, wenn man nicht usw. schreibt. Die zeitgenössische Literatur hat, bis auf ganz seltene Ausnahmen (Butor), die Kunst des Aufzählens vergessen: die Listen Rabelais’, die Linné’sche Aufzählung der Fische in Zwanzig Meilen unter den Meeren, die Aufzählung aller Geographen, die Australien erforscht haben, in Die Kinder des Kapitäns Grant …).

Bereits seit mehreren Jahren beabsichtige ich, eine Geschichte einiger der Gegenstände zu schreiben, die auf meinem Schreibtisch liegen; ich habe vor bald drei Jahren den Anfang davon geschrieben; als ich ihn jetzt wieder las, stellte ich fest, dass von
den sieben Gegenständen, über die ich schrieb, vier immer noch auf meinem Schreibtisch liegen (dabei bin ich inzwischen umgezogen); zwei sind ausgewechselt worden: ein Löschkissen, das ich durch ein anderes Löschkissen ersetzt habe (sie gleichen sich zwar sehr, doch das zweite ist größer), und ein Wecker mit Batterien (von dem ich bereits angemerkt habe, dass sein gewöhnlicher Platz auf meinem Nachttisch war, wo er heute steht), der von einem anderen, aufziehbaren Wecker ersetzt worden ist; der dritte Gegenstand ist von meinem Schreibtisch verschwunden: es ist ein Kubus aus Plexiglas, bestehend aus acht so miteinander verbundenen Kuben, dass er sich in eine sehr große Vielzahl von Formen verwandeln kann; ich habe ihn von François Le Lionnais geschenkt bekommen; er steht in einem anderen Zimmer, auf einer Heizungsablage, neben mehreren anderen Geduldspielen und Puzzles (eines dieser Geduldspiele steht auf meinem Schreibtisch; es ist ein doppeltes Tangram, das heißt zweimal sieben Teile aus weißem und schwarzem Kunststoff, die dazu dienen, eine nahezu unendliche Anzahl geometrischer Figuren zu bilden).

Vorher hatte ich keinen Schreibtisch, ich will damit sagen, es gab keinen Tisch eigens zum Schreiben. Auch heute kommt es noch ziemlich oft vor, dass ich in einem Café schreibe; doch zu Hause ist es äußerst selten, dass ich anderswo arbeite (schreibe) als an meinem Schreibtisch (zum Beispiel schreibe ich gewissermaßen nie im Bett), und mein Schreibtisch dient zu nichts anderem als zum Schreiben (und wieder einmal zeigt es sich, beim Schreiben dieser Wörter, dass auch das nicht ganz stimmt: zwei- oder dreimal im Jahr, wenn ich...

Erscheint lt. Verlag 1.1.2018
Reihe/Serie diaphanes Broschur
Übersetzer Eugen Helmlé
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Absurdes • Avantgarde • Avantgarde; Gegenwartsliteratur; Liste; Literatur; Ordnungssysteme; Oulipo • Gegenwartsliteratur • Liste • Literatur • Ordnungssysteme • Oulipo
ISBN-10 3-03734-551-9 / 3037345519
ISBN-13 978-3-03734-551-1 / 9783037345511
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