Matutin (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
215 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74153-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Matutin -  Gertrud Leutenegger
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Ein sonderbares Abenteuer, auf das sich die Erzählerin einlässt: Sie verbringt 30 Tage und 30 Nächte in einem Turm, der das Handwerk der Vogelfänger in der italienischen Schweiz vergegenwärtigen soll. Mit der Vergangenheit des Turms erwacht ihre eigene, es vergehen Tage und Nächte des Nachdenkens, der Wiederkehr von Schrecken und Verzauberungen. Doch dann taucht diese fremde Frau auf, deren Schicksal mit dem der Vögel verbunden scheint ... 'In Gertrud Leuteneggers Erinnerungsnetz fängt sich die Welt.' Frankfurter Allgemeine Zeitung

<p>Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, ver&ouml;ffentlicht seit 1975 Romane, Essays, Gedichte und Theaterst&uuml;cke; ein Werk, f&uuml;r das sie vielfach ausgezeichnet wurde. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz, heute wohnt sie in Z&uuml;rich.</p>

Erster Turmtag


Ich muß die Erde verlassen, ein Wirbelsturm reißt mich in die Luft! Wälder, Seen, Berge versinken unter mir, langsam, unaufhaltsam. Gestreckt im Flug kann ich mich nicht wehren, der Wind tost durch meinen Körper bis zu den Zehenspitzen. Was herrlich sein könnte, dieses Auffliegen in unermeßliche Lufträume, warum erfüllt es mich nun mit Entsetzen? Doch plötzlich, wie ein Echo von weit her, dringen einzelne Vogellaute zu mir. Zuerst kaum hörbar, nur ein zaghaftes Zwitschern, vorsichtige Pfeifsignale, Antwortrufe, jetzt ein immer weniger zurückgehaltenes Locken, ein unvermitteltes Jubilieren, sollte ich es denn wirklich ein letztes Mal hören? Aber das Gezwitscher reißt nicht ab, wird lauter und vielstimmiger. Ich taste mit den Händen über mein nasses Gesicht und sehe mich verwundert in einem fremden Bett liegen. Draußen dämmert es. Mein erster Turmtag bricht an.

 

Unwahrscheinlich. Man hat mich gestern auf der Stadtverwaltung, trotz einiger Bedenken, als Kustodin des Turms eingestellt. Ich verschwieg natürlich, daß ich erst am späten Morgen, nach längerer Zugfahrt, hier eingetroffen war. Wieder die Treppenstufen zum Stadtzentrum hinabzusteigen, in das Stimmengeschwirr des großen Platzes einzutauchen, hinter dem die weite Fläche des Sees glitzerte, links und rechts die beiden kegelförmigen Berge aufragten, brachte mich in die Nähe des Wahnsinns. War ich nicht immer hier geblieben? Und doch! Schon beim ersten Blick auf den See war mir nicht entgangen, daß am Ende der Bucht, wo über Jahre auf einer festverankerten Plattform ein spektakuläres Monument gestanden hatte, bis es so verwitterte, daß es zur Ruine verfiel, eine neue Holzkonstruktion durch das Laub der Platanen am Quai schimmerte, wenn auch kleiner und schlichter. Ohne selbst die Wanderung bis zum Ende der Bucht aufzunehmen, fragte ich ungeduldig mehrere Passanten, die über den Platz eilten, um Auskunft, als spürte ich eine gefährliche Beschleunigung der Angelegenheit. Ein merkwürdiges Projekt! rief schließlich ein junger Mann mit einer Aktenmappe aus, wahrscheinlich wird man es fallenlassen, er wies mit der Hand zum Stadthaus, dort im Innenhof können Sie es besichtigen.

 

Nur beim Gang auf die Toilette des angrenzenden Restaurants, die zusammen mit der lärmigen Küche im Obergeschoß liegt, hatte ich manchmal einen Blick hinuntergeworfen in diesen klassizistischen Hof, der immer verlassen schien und in dem nur die Tauben gurrten. Nun waren hier in einer Glasvitrine ein Modell und Skizzen zur neuen Attraktion auf dem Wasser ausgestellt. Zuerst fiel mir ein Hinweis auf, daß in diesen Tagen der Bewerbungstermin für das Kustodenamt ablaufe, ich betrachtete kurz die Glasvitrine, mit Erschrecken erkannte ich in dem Modell sofort den Turm, den ich während langer Jahre jeden Morgen beim Aufwachen als erstes, fern auf einer Hügelkuppe, am Horizont erkannt hatte. Es war derselbe schmale Turm, fast ohne Fenster, streng und abweisend. Ich beugte mich über die Glasvitrine, kein Zweifel! Die nördliche Fassade, mit der Eingangstür, war nach außen gewölbt, wie in einer verhaltenen Aggression, und hatte das frühere Monument auf dem Wasser gewirkt, als breite ein überlebensgroßer Mensch seine Arme aus, um jeden Eintretenden zu umfangen, so konnte diese entgegengesetzte Fassade nur abstoßen und verstören. Ob der Turm überhaupt begehbar war? Auch die Bäume fehlten nicht, welche den Turm auf der Hügelkuppe fast zudeckten und überwuchsen, ebensowenig in einiger Entfernung der doppelreihige Baumkreis, dessen fatale Bestimmung ich kannte. Genug!

 

Aber jetzt bin ich schon im Turm. Das Eisenbett muß aus einem der bankrott gegangenen Hotels der Stadt stammen. Sonst steht nichts in diesem ersten Geschoß. Der frische Geruch des Holzes mischt sich mit dem leicht fauligen des Wassers, das glucksend gegen die Plattform schlägt, denn der Turm ist, wie das frühere Monument auch, nur aus Holz. Wir waren eigentlich, sagte man mir gestern auf der Stadtverwaltung, nach den leidigen Querelen um die verrottende Konstruktion von vorher, beinahe auf dem Standpunkt, wieder die bewährten kolorierten Wasserspiele einzuführen, aber da tauchte dieses unerwartete Projekt auf, und heute auch noch Sie! In der Tat bin ich die Treppenstufen zur Stadtverwaltung nur so hinaufgesprungen und bei der Bewerbung um das Kustodenamt aufgetreten, als wäre der Turm eigens für mich konstruiert worden. Das Gefühl des endgültigen Verlusts der Welt hier muß mir eine rätselhafte Überzeugungskraft gegeben haben. Meine Ortskenntnis einerseits, mein auswärts verlegter Wohnsitz andrerseits begünstigten gewiß die Sache. Manifestationen jedenfalls, fuhr man fort, haben Sie nicht zu befürchten, dieses Projekt hat wenig gekostet, der Architekt will anonym bleiben, die Realisation ist wieder im Rahmen eines städtischen Arbeitslosenprogramms erfolgt, überdies konnte nochmals das elektronisch gesteuerte Sägewerk im alten Schlachthof benützt werden. Sie haben die Bedingungen wirklich gelesen? Die detaillierten Unterlagen? Sie werden noch Tage damit verbringen müssen!

 

Die stärksten Bedenken der Stadtverwaltung, vermute ich, rührten daher, daß man für das Kustodenamt, wenn überhaupt jemanden, eher einen jüngeren Mann erwartet hatte. Ob ich tatsächlich glaube, diese Abkapselung an einem ungewohnten Ort, zudem auf dem Wasser, zu ertragen? Die Besucher mit den Fakten des Turms bekannt machen zu können? Mit der Übernachtungsvorschrift zurechtzukommen? Dem eingeschränkten Bewegungsraum? Der rigoros eingeteilten Zeit? Nichts lieber als das! rief ich, und endlich erhob man sich auf der Stadtverwaltung. Bei der Verabschiedung sind sie geradezu galant geworden. Beinahe hätten wir etwas Wichtiges vergessen! sagte der Sekretär plötzlich und schlug mit der Hand auf den Papierberg vor ihm. Natürlich werden Sie Tag und Nacht bewacht, selbstverständlich ganz unauffällig, aber seit den jüngsten Brandanschlägen in unserer Stadt sind wir, was die Sicherheit öffentlicher Gebäude betrifft, etwas vorsichtig geworden. Dieselbe Person bringt Ihnen auch das Essen, Sie werden ja wohl in dem Turm nicht verhungern wollen?! Zum ersten Mal während dieser Unterredung muß ich einen irritierten Eindruck gemacht haben. Wahrscheinlich habe ich kurz die Augenbrauen zusammengezogen, so wie ich den Ausdruck meines Gesichts leider nie unter Kontrolle habe. Bitte, sagte der Sekretär entgegenkommend, fast erfreut, jetzt können Sie die Unterschrift auf dem Vertrag noch rückgängig machen. Ich schüttelte mit wiedergewonnener Bestimmtheit den Kopf, nein, ich wollte nur noch einmal, ohne abgelenkt zu werden, ohne die geringste Störung, im Innern dieser Welt wohnen. Darauf hat jemand von der Stadtverwaltung laut herausgelacht. Förmlich gebrüllt vor Lachen! Aber ich habe mich nicht einmal nach dem Lacher umgedreht, sondern entschieden zum Gehen gewandt.

 

Vom Bett aus kann ich, durch die Bodenluke am Ende der Treppe, ins obere Geschoß sehen. Ich werde den ganzen Tag Zeit haben für eine erste Besichtigung des Turms. Besucher stellen sich heute bestimmt noch keine ein. Doch warum nehme ich das an? Das Licht draußen scheint unmerklich düsterer geworden zu sein. Jedenfalls wird es nicht heller. Nur matt glitzert die Hülle der luftdicht verpackten Brioche, die gestern der Sekretär, nachdem man mich bei Einbruch der Nacht in den Turm geführt hatte, am Schluß auf mein Bett legte. Würde ich aufstehen, sähe ich durch den Lichtschlitz im Zwischengeschoß vielleicht bereits die transparenten Aufzüge an der Seefassade des Kasinos hinauf- und hinuntergleiten oder das grüne Kupfertürmchen der Villa im Stadtpark auf den Kronen der Bäume schwimmen. Verfärbt sich schon das Laub? Aber ich bin auf einmal so schläfrig. Es wird immer dunkler, fern grollt ein Donner. Und dann klatschen die ersten Tropfen aufs Wasser, in der nächsten Sekunde gefolgt von einem Platzregen, der mit einer Heftigkeit niederprasselt wie nur hier, erlösend, besänftigend, aus den Wohnungen am Quai hört man Stimmen durcheinanderrufen. Ich bin wieder zu Hause! Langsam wird das Rauschen des Gewitterregens leiser. Bevor ich in den letzten Morgenschlaf falle, taucht erneut das Bild vor mir auf, das gestern, während der Verhandlung mit der Stadtverwaltung, plötzlich in mir hochtrieb, erst vage, noch halb verschattet, doch unabweisbar. Ob von ihm meine Überzeugungskraft für das Kustodenamt herrührte? Ich bin fünf Jahre alt, der ganze Eßtisch reicht wieder einmal für mein Bauvorhaben nicht aus, der Tanzsaal des entstehenden Schlosses muß auf den Boden verlegt werden. Aber da fehlt mir nun ausgerechnet eines dieser blaugetönten Cellophanfensterchen, durch die richtige Lichtbahnen ins Innere meiner Säle fallen, worauf die Spielfiguren winzige Schatten werfen. Ich krieche auf dem Teppich herum, spähe unter die Möbel. Es ist Sommer und heiß, meine Mutter hat die meisten Fensterläden geschlossen, wird da überhaupt noch ein Lichtstreifen durch das Cellophanfensterchen dringen, und ohnehin bin ich müde von der stundenlangen Bauerei. Vor einem der moosgrünen Sessel, deren Füllung sich fast bis zum Boden baucht, halte ich inne und lege den Kopf auf den Arm. Wie lautlos es ist, niemand scheint im Haus zu sein. Doch schauen mich aus dem Halbdunkel unter dem Sessel nicht zwei Augen an? Zwei gelbe Augenkreise vielmehr, denn die dunklen Pupillen gehen ein in das Dämmerlicht, nur schwach zeichnet sich ein schwarzes Gefieder ab. Es muß eine Amsel sein! Sie rührt sich nicht. Als ich mich etwas näher heranziehe, schlägt sie mit den Federn ein einziges Mal gegen die Sesselfüllung, als flehe sie um Schonung. Ich bewege mich nicht mehr und beobachte sie unverwandt. Die Amsel ist jetzt...

Erscheint lt. Verlag 8.2.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 21. Jahrhundert • Abenteuer • Erinnerung • Gertrud Leutenegger • Isolation • Matutin • Nachdenken • Reflexionen • Roman • Schrecken • Schweiz • ST 4624 • ST4624 • suhrkamp taschenbuch 4624 • Turm • Verzauberung • Vögel
ISBN-10 3-518-74153-5 / 3518741535
ISBN-13 978-3-518-74153-5 / 9783518741535
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