Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler (eBook)

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2018 | 1. Auflage
108 Seiten
diaphanes AG (Verlag)
978-3-03734-537-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler -  Georges Perec
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»L'infra-ordinaire«, das unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Gewöhnlichen liegende: so lautet der Originaltitel dieser Sammlung an posthum veröffentlichten Texten Perecs. Nicht die Großereignisse, nicht die unerhörten Begebenheiten sind es, die das Leben ausmachen, sondern: ein toter Vogel. Beton, Ziegelstein, Glas. Eine Hausnummer. Wo jemand, den man flüchtig kannte, einmal gewohnt hat. Hintergrundgeräusche. Und aus den banalen Beobachtungen, belanglosen Niederschriften, pedantischen Bestandsaufnahmen kleinster Veränderungen sprießen und platzen wie stets bei Perec überraschende, schlagend allgemeine, tragikomische, poetische Wahrheiten hervor.



Georges Perec war einer der wichtigsten Vertreter der französischen Nachkriegsliteratur und Filmemacher. Als Sohn polnischer Juden musste Perec als Kind die deutsche Besetzung Frankreichs miterleben. Sein Vater fiel 1940 als Freiwilliger in der französischen Armee, seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt. Kurz vor ihrer Verhaftung konnte sie ihren Sohn mit einem Zug des Roten Kreuzes aufs Land schicken und ihm so das Leben retten. 1967 trat Perec der literarischen Bewegung Oulipo bei, die Raymond Queneau ins Leben gerufen hatte. Das Kürzel Oulipo steht für »L' Ouvroir de Littérature Potentielle«, d.h. »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Die Schriftsteller von Oulipo, die aus dem »Collège de Pataphysique«, surrealistischen Gruppierungen oder dem Kollektiv »Nicolas Bourbaki« stammten, erlegten ihren Werken bestimmte literarische oder mathematische Zwänge auf, etwa den Verzicht auf bestimmte Buchstaben. Perecs Werk »Anton Voyls Fortgang« kommt so ganz und gar ohne den Buchstaben E aus. In den 70er Jahren begann Perec ebenfalls mit Erfolg Filme zu drehen. Kurz vor seinem 46. Geburtstag starb Georges Perec an Lungenkrebs.

5 - 8 Annäherung an was? (Georges Perec)9 - 24 Die Rue Vilin (Georges Perec)25 - 56 Zweihundertdreiundvierzig Postkarten in Echtfarbendruck (Georges Perec)57 - 64 Rund um Beaubourg (Georges Perec)65 - 74 Spaziergänge in London (Georges Perec)75 - 80 Das Allerheiligste (Georges Perec)81 - 88 Versuch einer Bestandsaufnahme aller flüssigen und festen Nahrungsmittel, die ich im Verlaufe des Jahres neunzehnhundertvierundsiebzig hinuntergeschlungen habe (Georges Perec)89 - 98 Still life / Style leaf (Georges Perec)





Die Rue Vilin

1

Donnerstag, den 21. Februar 1969,

gegen 16 Uhr

 

Die Rue Vilin beginnt in Höhe der Rue des Couronnes Nr. 29, gegenüber den neuen Gebäuden, vor kurzem errichtete Sozialwohnungen, die bereits etwas Altes haben.

Auf der Rechten (gerade Hausnummern) ein Wohnhaus mit drei Mauern: eine Fassade geht auf die Rue Vilin, eine andere auf die Rue des Couronnes, die dritte, schmale, beschreibt den schwachen Winkel, den die beiden Straßen miteinander bilden; im Erdgeschoss ein Café-Restaurant mit himmelblauer, gelb verzierter Schaufensterfront.

Auf der Linken (ungerade Hausnummern) ist die Nummer 1 kürzlich neu bestochen worden. Es war, hat man mir gesagt, das Haus, in dem die Eltern meiner Mutter wohnten. In dem winzigen Eingang gibt es keine Briefkästen. Im Erdgeschoss ein Geschäft, früher einmal ein Möbelladen (die Spur der Buchstaben Möbel ist noch sichtbar), das vielleicht als Kurzwarenhandlung neu eröffnet wird, nach den Artikeln zu urteilen, die in der Schaufensterauslage zu sehen sind. Das Geschäft ist geschlossen und nicht beleuchtet.

Aus der Hausnummer 2 kommt Jazzmusik, revival (Sidney Bechet? oder eher Maxim Saury).

Auf der ungeraden Seite: ein Farbengeschäft.

Am Haus Nummer 3

kürzlich neu bestochen:

Konfektion Strickwaren

Zur guten Arbeit

Pariser Milchhandlung

Ab Nummer 3 ist an den Gebäuden nichts mehr neu bestochen.

In Nummer 5 eine chemische Reinigung

Zum Kleiderdoktor, dann: Konfektion Besnard

Gegenüber, in Nummer 4: Knopflochmacherei

In Nummer 7 ein ausgestanztes Metallschild:

 

BEERDIGUNGSINSTITUT

 

auf der Fassade

Beerdigungsinstitut Couppez und Chapuis:

der Laden macht den Eindruck, als sei er seit langem geschlossen.

Dann, noch immer auf der ungeraden Seite, ein kleiner, nicht identifizierbarer Laden.

In Nummer 9 Restaurant-Bar Marcel

In Nummer 6 Installationsgeschäft,

sanitäre Einrichtungen

In Nummer 6 Friseurgeschäft Soprani

In Nummer 9 und 11 zwei geschlossene Läden

In Nummer 11 Wäscherei Vilin

Eine Betonmauer, nach der Nummer 11, bildet die Ecke der Rue Julien-Lacroix.

In Nummer 10 Zuschneiden von Fellen

In Nummer 10 ein ehemaliges Schreib- und Kurzwarengeschäft

In Nummer 12, dem Eckhaus: H. Selibter,

Hosen aller Art

Fast am ganzen Bürgersteig entlang, ungerade Seite, stehen Autos.

 

Das (ziemlich starke) Gefälle bleibt sich über die ganze Straßenlänge hinweg deutlich gleich. Die Straße ist gepflastert. Sie wird etwa in der Mitte ihres ersten – und längsten – Teils von der Rue Julien-Lacroix gekreuzt.

An der Kreuzung (auf den geraden Seiten der beiden Straßen) ein Haus, an dem Renovierungsarbeiten vorgenommen werden, mit einem schmiedeeisernen Balkon im ersten Stock und dem zweimal wiederholten Hinweis:

 

VORSICHT TREPPE

 

Es gibt nicht die Spur einer Treppe; etwas später begreift man, dass es sich um Treppen handelt, die die Straße abschließen: Für ein Auto wird die Rue Vilin von der Rue Julien-Lacroix an zur Sackgasse.

An der Kreuzung (auf der ungeraden Seite der Rue Vilin, der geraden Seite der anderen Straße) ein Lebensmittelladen mit einem Depot für die Weine der Firma

Vins Prefontaine (wenn man einem kleinen Schild über der Tür Glauben schenken darf) und der Firma Vins du Postillon (wie es auf dem Stoff der Sonnenblende heißt).

Nummer 19, ein langgestrecktes Haus mit einem einzigen Stockwerk.

In Nummer 16 ein geschlossener Laden, der eine Metzgerei hätte sein können.

In Nummer 18 ein Hotel mit möblierten Zimmern und einer Kneipe: Hotel de Constantin

In Nummer 22 eine alte, geschlossene Kneipe ohne Lichter: man erkennt einen großen, ovalen Spiegel im Hintergrund. Darüber, im zweiten Stock, ein langer Balkon mit schmiedeeisernem Gitter, Wäsche, die trocknet. Über der Tür der Kneipe ein Schild:

Das Lokal ist sonntags geschlossen

Nummer 24 (es ist das Haus, in dem ich gelebt habe): Zuerst ein einstöckiges Gebäude mit einer (zugemauerten) Tür im Erdgeschoss; rings um die Tür noch Spuren von Farbe und darüber, noch nicht ganz verblasst, die Inschrift: DAMENSALON

Dann ein niedriges Gebäude mit einer Tür, die auf einen langen, gepflasterten Hof mit einigen Einbuchtungen geht (Treppen mit zwei oder drei Stufen). Zur Rechten ein langgestrecktes, einstöckiges Gebäude (das früher durch die zugemauerte Tür des Friseursalons auf die Straße ging) mit einer zweiseitigen Freitreppe aus Beton (in diesem Gebäude wohnten wir; der Friseursalon war der meiner Mutter).

Im Hintergrund ein formloses Gebäude. Links so etwas wie Kaninchenställe.

Ich bin nicht hineingegangen.

Ein alter Mann, der von hinten kam, ist die drei Stufen hinuntergegangen, die zu »unserer« Wohnung führten. Ein anderer alter Mann ist mit einem schweren Bündel (Wäsche?) auf dem Rücken hineingegangen. Dann, am Ende, ein kleines Mädchen.

 

Der Nummer 25 gegenüber ein Haus mit doppeltem Vorbau, der auf einen kleinen, düsteren Hof geht, und mit einem Geschäft, das geschlossen zu sein scheint, aus dem aber ein gleichmäßiges Geräusch kommt: so etwas wie Hammerschläge, aber »mechanischer« und nicht so laut; durch eine schmutzige Scheibe hindurch kann man zwar eine Nähmaschine ausmachen, aber keinen Urheber des Geräuschs.

In Nummer 27 ein geschlossenes Geschäft Das Haus des Tallith, mit noch sichtbaren hebräischen Schriftzeichen und den Wörtern Mohel, Chohet, Librairie Papeterie (Buch- und Schreibwarenhandlung), Articles de Culte (Kultartikel), Jouets (Spielsachen) auf einer Fassade von verwaschenem Blau.

An der Stelle von Nummer 29 eine frisch geweißte Bruchsteinmauer. Auf der Seite von Nummer 31 sind Spuren von Zimmern mit gelben und vergilbten Tapeten sichtbar.

Nummer 31 ist ein zum Abriss bestimmtes Haus. Die Fenster der beiden ersten Etagen sind zugemauert. In der dritten Etage hängen noch Vorhänge. Im Erdgeschoss ein verbrettertes Geschäft:

StromLicht

A. MARTIN

WicklungMotor

Allgemeine Fabrikinstallation

Nummer 33, ein zum Abriss bestimmtes Haus.

Die Straße bildet nun zur Rechten einen Winkel von etwa 30 Grad. Auf der geraden Seite hört die Straße bei Nummer 38 auf; es folgt eine schlichte, rote Backsteinbaracke, dann der Beginn einer Treppe, aus der Passage Julien-Lacroix kommend, die ebenfalls, aber etwas weiter unten als die Rue Vilin, von der Rue des Couronnes ihren Ausgang nimmt. Dann ein großes, unbebautes Grundstück mit Schotter und spärlichen Gräsern.

Auf der ungeraden Seite bildet die Straße in Höhe der Nummer 49, auf der Linken, einen zweiten Winkel von ebenfalls etwa 30 Grad: das gibt der Straße das Aussehen eines sehr langen S (wie in dem Kürzel ).

Auf der ungeraden Seite endet die Straße in Höhe der Hausnummern 53–55 in einer Treppe oder besser in drei Treppen, die ebenfalls eine doppelte Schlangenlinie andeuten (weniger die Form eines S, als die eines auf dem Kopf stehenden Fragezeichens ).

Nummer 49 ist ein gelbes Haus mit einer zweiten Etage als zinkgedecktes Mansardengeschoss. Zwei Fenster im ersten Stock. An dem einen (für mich das rechte) steht eine alte Dame, die mich beobachtet. Im Erdgeschoss gab es (früher?) ein Bauunternehmen.

Nummer 47, ein zum Abriss bestimmtes Haus mit Spuren roter Farbe auf den Mauern. Nummer 45 ein geschlossenes Geschäft und ein dreigeschossiges Wohnhaus, das einmal das

HOTEL DU MONT-BLANC

ZIMMER UND MÖBLIERTE KAMMERN

war.

Nummer 34, ein ehemaliges Wein- und Spirituosengeschäft. Überall blinde Fenster.

Im Haus Nummer 53–55 gab es ein Wein- und Kohlengeschäft Zur Bergruhe: das Gebäude ist am 5.4.1964 (das sind die Daten, die auf den Gipsverschalungen standen) in der Mitte, von oben bis unten, geborsten. Die drei Türen mit den drei Fenstern im ersten Stock wurden zugemauert.

 

Oberhalb der Treppen gelangt man zu einer kleinen Kreuzung, die links zur Rue Piat, gegenüber zur Rue des Envierges, rechts zur Rue du Transvaal führt. An der Ecke Rue des Envierges und Rue du Transvaal gibt es eine schöne, ockerfarbene Bäckerei. Gegen das Treppengeländer gelehnt, neben einer Straßenlaterne, steht ein buntscheckiges Moped in grellen Farben, die ein Raubtierfell imitieren. Zwei Algerier stützen sich einen Augenblick lang mit den Ellbogen auf. Zwei Schwarze kommen die Treppe herauf. Trotz des etwas bedeckten Wetters erblickt man ein ziemlich weites Panorama: Kirchen, hohe, neue Gebäude, das Pantheon?

Auf dem unbebauten Grundstück liefern sich zwei Kinder ein Duell mit Stangen-Schwertern.

 

Um sieben Uhr abends...

Erscheint lt. Verlag 1.1.2018
Reihe/Serie diaphanes Broschur
Übersetzer Eugen Helmlé
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alltag • Avantgarde • Avantgarde; Fragment; Gegenwartsliteratur; Oulipo • Fragment • Gegenwartsliteratur • Oulipo
ISBN-10 3-03734-537-3 / 3037345373
ISBN-13 978-3-03734-537-5 / 9783037345375
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