Brett für die Welt -  Titus Dittmann

Brett für die Welt (eBook)

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2015 | 1. Auflage
320 Seiten
Waxmann Verlag GmbH
978-3-8309-8220-3 (ISBN)
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Titus Dittmann war schon fast alles: Entenschrauber in der Sahara, Pionier im Drachenfliegen und Snowboarden, Studienrat, Entrepreneur des Jahres, Rennfahrer und fast pleite. Der Mann mit der Mütze, der das Skateboarden in Deutschland populär gemacht hat und bis heute mit seinem legendären Unternehmen TITUS Generationen von Kindern und Jugendlichen prägt, passt in keine Schublade. Offenherzig, fesselnd und selbstironisch zeichnet er seinen Lebensweg vom Westerwald bis nach Afghanistan nach. Er erzählt von selbst konstruierten Autos, Skateboard-Legende Tony Hawk und dem Glücksgefühl, nichts mehr zuverlieren zu haben. Frei nach dem Motto: »Lass dir nicht reinquatschen! Mach dein Ding! Aber übernimm auch die Verantwortung, wenn’s schiefgeht!«

Von Müttern und Menschen
Kirchen an der Sieg, 1948–1960


Kohle machen

Ein staubiger, spärlich beleuchteter Raum, vor mir ein Berg von Briketts, auf meiner Zunge der Geschmack von Ruß – das ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen. Ich hocke im Kohlenkeller unseres Hauses am Südosthang über Kirchen und freue mich wie Bolle, denn ich weiß: Für ein paar Tage habe ich eine wunderbare, selbst gestellte Aufgabe: Briketts stapeln.

Vor einer guten halben Stunde ist wie jeden Frühherbst der Kohlenhändler aus Kirchen mit seinem Laster zu uns den Hang heraufgekeucht. Mit leuchtenden Augen stand ich an der Straße, als der alte Opel Blitz aus Wehrmachtsbeständen endlich vor unserem Haus hielt, verrußte Männer Sack um Sack voller Briketts von der offenen Pritsche wuchteten und sie in unseren Kohlenschacht leerten. Es müssen so an die fünf Tonnen gewesen sein, ungefähr 5000 Briketts, unser gesamter Jahresvorrat. Ich konnte es kaum abwarten, dass die Rußmänner endlich fertig waren und ich meine Arbeit im Keller beginnen konnte. Für die nächsten drei Tage würde ich wie vom Erdboden verschluckt sein.

Den Grund dafür, dass sich Klein Eberhard – noch hat mich mein Bruder nicht ungemein erfolgreich, wenn auch ungefragt, in »Titus« umgetauft – voller Enthusiasmus die Kellertreppe hinunterstürzt, ahnen die Erwachsenen natürlich nicht. Für Oma Klara bin ich der einzige hilfsbereite »Mann« im Haus, für meine Mutter bin ich »ihr Sonnenschein« und mein Vater ist einfach nur froh, es nicht selbst machen zu müssen.

Die Wahrheit ist: Noch bevor sich der Kohlenstaub gelegt hat, flitze ich in den Keller, weil ich da unten etwas machen kann, wozu ich ansonsten fast nie die Chance habe – ganz allein zu schalten und zu walten. Keiner stört mich, keiner redet mir rein, keiner weiß alles besser, während ich austüftele, wie aus dem unordentlichen Briketthaufen ein sorgfältig geschichteter, sauber ausgerichteter Brikettstapel wird. Geduldet wird nur Opa Zimdas von nebenan, der sich einmal am Tag als verständnisvoller Berater sehen lässt, schließlich ist dieses Stapeln gar nicht so einfach: Die Briketts liegen ja so da, wie die Rußmänner sie hineingeschüttet haben, und 5000 Stück sind buchstäblich eine Menge Kohle, nicht nur für einen Fünfjährigen. Aber mich schreckt das nicht, im Gegenteil, für mich ist der Keller ein ungewohnter, kostbarer Freiraum. Und das hat viel mit Kirchen zu tun.

In den frühen 50ern in einem Ort am Fuße des Westerwalds groß zu werden ist keine ganz einfach Sache. Zum einen ist da der allgemeine Nachkriegsmief Adenauer-Deutschlands, multipliziert mit der geistigen Enge eines Ortes, der seine besten Zeiten längst hinter sich hat. Dazu kommt eine Elterngeneration, die in Weltkriegen und Wirtschaftskrisen Härte gegen sich selbst und andere gelernt hatte – und dies fast ungefiltert weitergibt. Krönung und dritte Bremse beim Großwerden für uns Kinder in Kirchen aber sind die zwei Kirchen, die dem Ort seinen Namen gegeben haben. Hier, in der Abgeschiedenheit von Sauerland und Westerwald, zwischen den Fronten des evangelischen Siegerlandes und des katholischen Rheinlandes, thronen eine evangelische und eine katholische Kirche einträchtig nebeneinander in der Ortsmitte und bilden so etwas wie eine heilige Doppelspitze, die dafür sorgt, dass Moral und Anstand im Ort nicht zu kurz kommen.

Im Gegensatz zu uns.

Zeitgeist und Religion haben uns buchstäblich in der Zange – und lassen wenig Platz für Individualität oder Selbstbewusstsein. Eigene Meinungen? Eigene Ideen? Eigener Wille? Die Antwort hörte sich immer gleich an: »Halt den Mund, wenn die Erwachsenen reden.« Und vor allem: »Werd du erst mal groß!« Beides in tausend Varianten. »Ja, wie denn?«, hätten wir zurückfragen müssen. Aber natürlich ist uns damals überhaupt nicht klar, wie systematisch uns Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein vorenthalten werden. Und selbst wenn wir gefragt hätten – die einzige handfeste Antwort wäre sowieso nur eine der damals handelsüblichen Backpfeifen gewesen.

Im Kohlenkeller gab es so etwas nicht. Im Kohlenkeller habe ich mir mein Ziel selbst gesucht, konnte meine Ideen ausprobieren, scheitern, neu starten, wieder scheitern, wieder neu starten, mein Ding durchziehen. Im Grunde war es wie skaten, nur ohne Board. Das stolze Gefühl, als ich am Ende vor dem gar nicht mal so üblen Stapel stand, war so umwerfend, dass ich es mein Leben lang immer wieder gesucht habe, egal ob ich Drachenfliegen lernte, den ersten Titus-Flip stand oder auf den Kilimandscharo gekraxelt bin. Es ist das gleiche Gefühl, das ich über 50 Jahre später in Karokh wieder spüren werde, während ich unter all den aufgeregten afghanischen Kids im Schulhof stehe und eine Skateboard-Anlage einweihe, von der viele zuvor gesagt haben, es werde sie nie geben.

Heimweg von der Sonntagsschule.

Manchmal denke ich, alles, was dazwischen passiert ist, die ganze aufregende, urkomische, unglaubliche Achterbahn meines Lebens zwischen Kirchen und Karokh, hat mich auf genau das hier vorbereitet: darauf, Kindern in einem bettelarmen, kriegsgeplagten Land ohne Chance auf Kindheit etwas zu geben, was sie groß und stark macht. So gesehen bin ich fast dankbar für all die Hürden, für jedes »Das kannst du nicht!«, das mir in den Weg gelegt worden ist. Ich habe es geschafft, diese Hürden zu überwinden, und genau deshalb kann ich diesen Kindern jetzt helfen, das Gleiche zu tun. Mit dem Skateboard.

Ich, zappelnd auf Klaras Schoß, Werner dahinter
– noch ohne Tolle, aber schon cool.

Denn Niederlagen wegstecken, im Triumph locker bleiben – das ist nicht nur der Kern von Skateboarden, diese Fähigkeit ist auch kein schlechter Anfang, wenn man ein halb zerstörtes Land wieder aufbauen will.

Und Skaten trainiert noch zwei weitere Charakterzüge, die außerhalb des Skate-Parks enorm wertvoll sind, egal ob man in Kirchen lebt oder in Karokh:

Wahnsinn und Hingabe. Der Wahnsinn, scheinbar Unmögliches anzupacken, und die Hingabe, es bis zum Schluss durchzuhalten.

Der kleine Junge damals im Kohlenkeller in Kirchen hatte von beidem schon eine Menge im Blut, bevor es Skateboards überhaupt gab: Irgendwann nachmittags klingelt es an unserer Haustür. Mein bester Freund Mischa Frost will mich wie so oft zum Spielen abholen. Schwarz bestäubt und ziemlich unwillig komme ich nach oben und bescheide ihn mit einem knappen »Eberhard hat keine Zeit. Eberhard muss arbeiten.« Dann verschwinde ich wieder nach unten, Brikettstapel austüfteln.

Groß-Mutter

Zähigkeit ist in unserer Familie fester Bestandteil des Gencodes, vor allem bei den Frauen. Oma Klara ist das beste Beispiel dafür.

Sie wurde 1914 nur acht Wochen nach Kriegsbeginn Witwe und stand plötzlich allein mit zwei Kindern da. Die Witwenrente reichte vorn und hinten nicht, also ging sie zusätzlich in den damals noch zahlreichen Villen der Kirchener Honoratioren putzen. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg dann reichte selbst das nicht mehr – und Kirchen kehrte seine besten Seiten hervor: Eines Morgens fand Klara einen Laib Brot auf der Türschwelle. Sie wusste weder, woher er kam, noch von wem – aber das war ihr in der Not auch egal. Von da an geschah das immer mal wieder, hier war es eine Flasche Milch, dort ein paar Münzen, oft genau dann, wenn die Not am größten war. Vielleicht gab es einen geheimen Wohltäter, vielleicht hatten sich auch mehrere Nachbarn zusammengetan und legten reihum etwas hin; im Grunde war das unwichtig, denn dieses Geben und Nehmen war Teil des Kirchener Lebens.

Auch Klara half, wie und wo sie nur konnte. Viele Jahre später ließ sie lange eine verarmte Familie mit zwei Kindern im Untergeschoss unseres Hauses wohnen, wo mein Vater einmal seinen Laden einrichten sollte. Diese Familie war so arm, dass Klara immer wieder auf die Miete verzichtete oder mit Lebensmitteln aushalf, wenn die Untermieter nicht mehr klarkamen. Der älteste Sohn dieser Familie hat sich später als Kirchens erster Fernsehmechaniker selbstständig gemacht. Und als irgendwann Klaras Fernsehgerät kaputt war, brachte sie es zu ihm. Es war der erste Fernseher des Dorfes gewesen und hatte lange als Kirchener »Public Viewing«-Apparat bei uns im Schaufenster gestanden. Statt eines reparierten Gerätes bekam sie aber zwei andere Dinge zurück: einen nagelneuen Fernseher ohne Rechnung und eine Bemerkung ihres alten »Untermieters«: »Frau Dittmann zahlt bei mir überhaupt nichts.«

Dührschen maachen

Meine Liebe zu Autos habe ich bestimmt auch von ihr. Weil mein Vater für seine Meisterwerkstatt einen Firmenwagen brauchte, gehörten wir zu den ersten Autobesitzern im Dorf. Klara war völlig autofrei auf dem Brühlhof groß geworden und entsprechend scharf aufs Autofahren, wollte ihren eigenen Sohn aber nicht ständig um eine Ausfahrt bitten. Und so kam es am samstäglichen Badetag immer wieder zu folgender Szene:

Mein Vater verschwindet irgendwann am frühen Nachmittag in der Badewanne, während wir das Auto putzen und polieren. Sobald Klara das Rauschen im Badezimmer hört, hängt sie sich aus dem Fenster im ersten Stock und fragt uns:

»Na, Jungs, wommern Dührschen maachen?«, was im »Kierscher« Slang so viel hieß wie: »Wollen wir eine kleine Tour machen?«

Die Antwort wartet sie meist gar nicht ab, sodass wir Augenblicke später zu dritt im Auto sitzen und mit dem stolzen, wenn auch noch führerscheinlosen Werner am Steuer durch Kirchen kurven. Manchmal erwischt uns der Dorfsheriff dabei, guckt streng und droht mit dem Finger – und alles ist in Ordnung. Passiert das allerdings zu oft nacheinander, wird sein Blick wirklich böse und wir wissen, dass es nun an der...

Erscheint lt. Verlag 1.1.2015
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-8309-8220-8 / 3830982208
ISBN-13 978-3-8309-8220-3 / 9783830982203
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