Wo wir einst gingen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
656 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-16920-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo wir einst gingen -  Kjell Westö
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Ein lebenspraller Roman aus dem Helsinki des beginnenden 20. Jahrhunderts
Eine Stadt, in der es gärt, ist dieses Helsinki in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Auf das Trauma des finnischen Bürgerkriegs 1918, der einen Riss durch die Gesellschaft zieht, folgen die enthemmten zwanziger Jahre wie ein einziger langer Rausch. Nach den Kriegsgräueln prägen nun Jazz, Fußball, Schwindsucht, Hunger, Fotografie, Champagnerorgien, Prohibition, Tennis, Bubiköpfe und schimmelige Armeekasernen das Bild. Die unterschiedlichsten Menschen treffen sich in dieser Stadt, vereint in ihrer Sehnsucht nach Glück und Bedeutung in ihrem Leben.

Ausgezeichnet mit dem Finnischen Literaturpreis.

Kjell Westö ist einer der bekanntesten finnlandschwedischen Autoren, geboren 1961 in Helsinki, wo er heute noch lebt. Er ist vielfach preisgekrönt, u.a. mit dem Finnischen Literaturpreis für 'Wo wir einst gingen', seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt.

1


Der stille Allu


Der Zufall wollte es, dass der erste Tag von Vivan Fallenius als Hausmädchen bei den Herrschaften Gylfe in der Achtzimmerwohnung an der Boulevardsgatan auf den ersten Jahrestag der Ermordung des russischen Generalgouverneurs Bobrikoff durch den einsamen und halbtauben Beamten Eugen Schauman fiel. Der stellvertretende Amtsrichter und seine Frau, die Schauman flüchtig gekannt hatten, feierten dies mit einem stummen Champagnertoast zur Consommé. Vivan stand an der Tür zum Flur, mit Rüschen in den Haaren, sie trug einen schwarzen Rock und eine schwarze Bluse mit weißem Spitzenkragen und hatte sich darüber hinaus eine weiße Schürze umgebunden, sie wartete auf die nächste Anweisung und versuchte sich möglichst unsichtbar zu machen. Das mit Schauman und Bobrikoff interessierte sie nicht weiter, stattdessen dachte sie an den Familienbaum daheim in Degerby, an ihre Hofbirke, die während eines überraschenden Maisturms vor gut einem Monat in der Mitte umgeknickt war, und daran, wie seltsam es doch war, dass sie bereits im Januar geträumt hatte, der Baum werde sterben. Träume dieser Art hatte sie in regelmäßigen Abständen, und sie machten ihr Angst, aber inzwischen war schon zartgrün gefärbter Sommer, und sie fragte sich, warum Frau Beata Gylfe nicht die schweren Samtvorhänge aufziehen ließ. Vivan hatte es am Vormittag eigenmächtig getan; wenn die Vorhänge fort waren, sah man, wie schön das Licht auf die Boulevardsgatan fiel, und man konnte sich hinauslehnen und die jungen Linden anschauen und dem Klackern von Pferdehufen und Klappern von Wagen und Karren auf dem Kopfsteinpflaster lauschen. Vivan fand, dass die Gylfeschen Paradezimmer düster und brütend wurden, sobald die Vorhänge zugezogen waren. Sie wusste nicht, dass es dem Wunsch der reichen Stadtbewohner entsprach, wenn ihre Wohnungen so aussahen – dunkel getäfelte Möbel, Ebenholz und Mahagoni, schwarze, dekorativ bemalte Urnen und gipsweiße, auf kleinen Ziertischen ausgestellte Statuetten, üppige Topfpalmen in den Ecken, Seegemälde und glupschäugige Verwandte an den Wänden und dann die Stühle, diese quälende Vielzahl von Zierstühlen und Sesseln, die allerorten herumstanden und zur Folge hatten, dass man sich die Beine blau und wund schlug, wenn man zwischen den Möbelstücken kreuzte, um zu servieren oder abzudecken oder eine soeben abgegebene Visitenkarte zu überreichen oder was einem sonst gerade aufgetragen worden war. »Es ist gut«, sagte der stellvertretende Amtsrichter Gylfe mit Nachdruck und riss sie aus ihren Gedanken, »die gnädige Frau ruft Fräulein Vivan dann, wenn es Zeit für den Braten ist, wir haben ja die Klingel, Vivan kann zusammen mit Frau Holmström in der Küche warten.« Vivan knickste und öffnete die Tür zum Flur. Auf dem Weg zur Küche sah sie, dass der ältere der beiden Söhne des Hauses ihren Blick einzufangen suchte, aber sie gab vor, ihn nicht zu bemerken.

 

Es dauerte nicht lange, bis die beiden halbwüchsigen Jungen der Familie anfingen, sie nicht Vivan, sondern Gullvivan, Schlüsselblume, zu nennen. Anfangs sah sie darin nichts Unziemliches, denn schon daheim im Dorf hatten die jungen Männer ihr verschiedene Kosenamen gegeben und freundschaftlich benutzt. Doch wenn Magnus und Carl-Gustaf Gylfe den neuen Namen verwandten, huschte etwas über ihre glatten Gesichter, das Vivan als Geringschätzung und Hohn deutete, und manchmal schob sich Magnus, der ältere, plötzlich aus dem luxuriösen Badezimmer der Herrschaften mit Toilettenlüftung und einer Badewanne, die auf bronzenen Löwenpranken stand, und trällerte daraufhin mit leiser Stimme: Vivan, Vivan, Herz aus Gold, Vivan, Vivan, wann bist du mir hold, und seine Hose beulte sich aus, wenn sie mit pochendem Herzen und einem vollbeladenen Tablett in den Händen im dunklen Flur an ihm vorbeieilte. Die beiden Söhne des Hauses glichen in ihren Augen verhätschelten Hauskatzen, und sie spürte die Blicke der beiden auf ihrem Körper, sie spürte diese Blicke, wenn sie servierte, wenn sie die Palmen goss, wenn sie die Kleider und Bettbezüge einsammelte, um sie zur Wäscherin zu bringen, wenn sie mit klappernden Absätzen die Treppen hinabrannte, um zum Markt zu gehen und Waren einzukaufen, wenn sie von Wahlman oder Silfverberg & Wecksell wieder einmal einen teuren und voluminösen Neuzugang für Frau Gylfes Hutsammlung anschleppte. Sogar wenn sie auf dem Weg zum Abort des Dienstpersonals über den Hof schlich, spürte Vivan die Blicke der beiden Gylfe-Söhne, und es war ihr lieber, erst gar keinen Gedanken daran zu verschwenden, was die Brüder über sie sagten, sobald sie außer Hörweite war.

 

Vivans Mutter Magda war in der Stadt geboren worden und hatte in Tollander & Klärichs Tabakfabrik und als Aufwärterin im Hotel Kleineh gearbeitet, ehe sie heiratete und die Frau eines Kleinbauern in Ingå Degerby wurde. Magda wusste, dass bei weitem nicht jeder eine schwere und einförmige Arbeit ertrug, wenn es einen leichteren Weg gab. Hunderte junger Mädchen arbeiteten für einen kärglichen Lohn in den bürgerlichen Häusern und Fabriken von Helsingfors; die meisten von ihnen waren unerfahren und glaubten bereitwillig den Versprechungen in Restaurants und während anschließender nächtlicher Droschkenfahrten. Und nach Umarmungen und Enttäuschungen endete dies alles mit Nachtschichten in den berüchtigsten Straßen der Stadt und Herrenbesuchen in schneller Folge in einer gemieteten Dachkammer und den Gesundheitskontrollen der Polizei und dann, schließlich, mit der gefürchteten Seuche. Magda hatte ihrer Tochter deshalb eingeschärft, niemals vertraulichen Flüsterern mit wohlduftenden Hemdbrüsten oder verschmitzten Straßenjungen zu vertrauen, die in der Lage waren, Champagner aufzutreiben, wo es eigentlich gar keinen gab. Und am allermeisten, hatte sie erklärt, solle Vivan sich vor Männern in Acht nehmen, die ihr ewige Liebe schworen und sie zu abgelegenen Orten führen wollten.

Doch Vivan wurde von ihrer sieben Jahre älteren Kusine Sandra Söderberg zu einem Junitanz auf Byholmen gelockt, und dort begegnete sie dem Schwerarbeiter und angehenden städtischen Laternenanzünder Enok Kajander. Es war das erste Mal, dass Vivan ihren freien Abend darauf verwandte, tanzen zu gehen, und sie sah weg, als sie die Trauben von Männern sah, die entlang der Waldpfade standen und sich mit Branntwein und süßen Mischgetränken stärkten, ehe sie zum Tanzboden zurückkehrten, um jemanden aufzufordern. An ihrem nächsten freien Abend feierte sie auf Fårholmen, wo die Abstinenzlergesellschaft der Arbeiter eine musikalische Soiree veranstaltete. Einer der Programmpunkte war Enok, der mit seiner samtenen Tenorstimme schwedische und finnische Volkslieder sang. Den Juli und den halben August verbrachte Vivan mit Familie Gylfe in deren Sommervilla Miramar draußen in Kallvik, aber als sie zurückkam, dauerte es nicht lange, bis Enok wieder vor der Küchentür stand. Er habe Geld gespart, sagte er, und wolle sie ins Kinematographentheater einladen, um sich bewegte Bilder anzusehen, und er nannte sie helluni mun, meine Liebste, und Vivan errötete – das tat sie immer, wenn er Dinge auf Finnisch zu ihr sagte, ohne ihr zu erklären, was sie bedeuteten.

 

An einem Samstagabend spät im August war Tanz in der Sommerkolonie Mölylä der Sozialisten östlich der Gammelstadsfjärden. Enok und Vivan trafen sich am Broholmsufer und nahmen zusammen mit fast achtzig anderen Frauen und Männern Platz im riesigen Ruderboot »Zukunft« des Arbeitervereins. Enok war einer der Ruderer, und als das Boot unter der Långa-Brücke hindurchfuhr, sangen die Männer aus vollem Hals die Marseillaise, und die abendlichen Flaneure auf der Brücke lehnten sich neugierig über das Holzgeländer, um zu schauen, woher der Gesang kam. Vivan hatte das Gefühl, dass Enok jeden kannte und überall zu Hause war, und sie lächelte ihm von ihrem Platz auf der Achterducht aus zu, wo sie gemeinsam mit zehn anderen jungen Frauen saß, die alle ebenso festlich gekleidet waren wie sie selbst.

Draußen in Mölylä spielte die Blaskapelle des Vereins, und Vivan war in ihrer sahnefarbenen Bluse, ihrem kostbarsten Besitzstück, die Mutter Magda aus dem Seidenstoff genäht hatte, den ihr Onkel Heizer-August im Vorjahr aus Shanghai mitgebracht hatte, ehe er an Tropenfieber erkrankte und starb, das schönste Mädchen des Tanzes. Die Musik und Enok und der Mondschein ließen sie die einförmigen Arbeitsaufgaben und die enge Dienstmädchenkammer in der Boulevardsgatan vergessen. Sie bekam eine solche Lust, sich zu befreien und endlich richtig zu leben, sie spürte ihr Herz schnell und hart pochen, und als sie mit Enok tanzte, schloss sie die Augen und lag in seinen Armen und stellte sich vor, vom Scheitel bis zur Sohle in Crêpe de Chine gehüllt zu sein, obwohl der Stoff ihres Rocks schwarz und grob war. Nach Einbruch der Dunkelheit verließen sie den Tanz und das muntere Geplauder und gingen einen Waldweg hinab, auf dem ihre Bluse weiß zwischen den Schatten der Bäume schimmerte. Unten am Ufer zogen sie Schuhe und Strümpfe aus, liehen sich ein Boot und ruderten zu der kleinen Insel Lillkobben hinaus, die von den Finnen Kiimakari genannt wurde – der Name bedeutete Wollustschäre –, doch das wusste Vivan natürlich nicht. Draußen auf der Insel suchten sie ein kleines Wäldchen auf, und Enok breitete sein Jackett und seine Weste auf der Erde aus und griff ihr um die Taille und bat sie, sich zu setzen. Er trank an diesem Abend keine starken Sachen, er war die Zärtlichkeit und Höflichkeit selbst, und Vivan ließ sich auf dem angebotenen Platz nieder und dachte daran, was für eine klare Mondnacht es war und welch große und warme Hände Enok hatte und wie...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2015
Übersetzer Paul Berf
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Där vi en gang gatt
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Ehrengast Buchmesse Frankfurt 2014 • Finnland • Finnland. Cool. • Finnland, Ehrengast Buchmesse Frankfurt 2014, Finnland. Cool. • Roman • Romane
ISBN-10 3-641-16920-8 / 3641169208
ISBN-13 978-3-641-16920-6 / 9783641169206
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