Wenn der Wind singt / Pinball 1973 (eBook)

Zwei Romane
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
272 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8850-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wenn der Wind singt / Pinball 1973 -  Haruki Murakami
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Murakamis »verlorene Romane« - seine frühen Werke auf Deutsch! >Wenn der Wind singt<, Haruki Murakamis Debüt, folgt einem namenlosen 21-jährigen Studenten, der die Semesterferien (und damit den August 1970) in seinem kleinen Heimatort verbringt. Die Zeit vertreibt er sich mit seinem besten Freund, genannt »Ratte«, einem Mädchen mit vier Fingern an der linken Hand und einem Barkeeper. Die Handlung von >Pinball 1973< setzt drei Jahre später ein. Der junge Mann lebt inzwischen in Tokio, während die »Ratte« immer noch in »J.'s Bar« darauf wartet, dass das Leben losgeht. Ein melancholischer, atmosphärisch dichter Roman, der zudem die wohl besten Flipperszenen der Literaturgeschichte enthält. Nach langem Zögern hat Haruki Murakami die Bitten seiner Lesergemeinde erhört und der Veröffentlichung dieser außerhalb Japans nie erschienenen Frühwerke zugestimmt. Zusammen mit >Wilde Schafsjagd< (DuMont 2005) bilden sie die »Trilogie der Ratte«, die erst 35 Jahren nach Erscheinen in Japan ins Deutsche übersetzt wurde. Murakamis berühmter »Boku«-Erzähler wurde hier erstmals dem Publikum vorgestellt. Eine kleine Sensation, nicht nur für eingefleischte Murakami-Fans.

HARUKI MURAKAMI, 1949 in Kyoto geboren, lebte längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. Zuletzt erschienen die Romane >Die Ermordung des Commendatore< in zwei Bänden (2018), in einer Neuübersetzung >Die Chroniken des Aufziehvogels< (2020), der Erzählband >Erste Person Singular< (2021), >Murakami T< (2022) und >Honigkuchen< (2023).

9

Es dauerte geschlagene drei Stunden, bis sie aufwachte. Und dann brauchte sie noch mindestens fünf Minuten, bis sie einigermaßen zu sich kam. Während dieser Zeit saß ich mit verschränkten Armen im Bett und beobachtete, wie die dichten Wolken am Horizont ihre Form veränderten und gen Osten zogen.

Als ich mich irgendwann herumdrehte, hatte sie den Bettbezug bis zum Hals hochgezogen und blickte ausdruckslos zu mir auf. Sie schien noch mit den Whiskey-Dämpfen in ihrem Bauch zu kämpfen.

»Wer … bist du?«

»Weißt du das nicht mehr?«

Sie schüttelte den Kopf. Ich zündete mir eine Zigarette an und bot ihr auch eine an, aber sie ignorierte die Geste.

»Erzähl’s mir.«

»Wo soll ich anfangen?«

»Am Anfang.«

Ich hatte keine Ahnung, wo der Anfang war, und wusste auch nicht, wie ich die Geschichte überzeugend erzählen sollte. Vielleicht würde es klappen, vielleicht auch nicht. Ich dachte ein paar Sekunden lang nach und legte los.

»Es war ein heißer, aber angenehmer Tag. Ich verbrachte den ganzen Nachmittag im Schwimmbad und ging dann nach Hause, wo ich ein Schläfchen machte und anschließend etwas aß. Kurz nach acht stieg ich in meinen Wagen und fuhr zur Uferstraße, parkte und schaute aufs Meer. Dabei hörte ich Radio. Das mache ich immer so.

Nach ungefähr einer halben Stunde bekam ich Lust, mich mit jemandem zu unterhalten. Wenn ich aufs Meer sehe, überkommt mich immer der Wunsch, Menschen zu sehen, und wenn ich Menschen sehe, möchte ich das Meer sehen. Es ist eigenartig.

Also beschloss ich, in Jays Bar zu gehen. Ich wollte ein Bier trinken, außerdem treffe ich dort meistens einen Freund von mir. Aber er war nicht da, also trank ich allein. Innerhalb von nur einer Stunde trank ich drei Bier.«

An dieser Stelle unterbrach ich meinen Bericht und ließ die Asche meiner Zigarette in den Aschenbecher fallen. »Hast du übrigens mal Die Katze auf dem heißen Blechdach gelesen?«

Sie gab keine Antwort und starrte – in ihr Laken gewickelt wie eine gestrandete Meerjungfrau – an die Decke. Ungerührt fuhr ich fort. »Das Stück fällt mir nämlich immer ein, wenn ich alleine trinke. In meinem Kopf macht es klick, und schon bin ich entspannt. Aber gestern lief das nicht. Ich hörte nicht mal das Klicken. Mit der Zeit bekam ich das Warten satt und rief in Rattes Wohnung an, um ihn zu fragen, ob er kommen und was mit mir trinken wolle. Aber eine Frau ging ans Telefon … Das kam mir komisch vor. Er ist nicht so ein Typ. Wenn zum Beispiel in seiner Wohnung fünfzig Frauen wären und er völlig besoffen wäre, würde er trotzdem selbst ans Telefon gehen. Verstehst du?

Ich sagte, ich hätte mich verwählt, und legte auf. Danach hatte ich irgendwie schlechte Laune. Ich weiß nicht, wieso. Also trank ich noch ein Bier. Aber meine Laune wurde nicht besser. Das war natürlich albern. Aber so war es eben. Als ich ausgetrunken hatte, rief ich Jay und zahlte. Ich dachte, ich fahre nach Hause und höre mir die Baseball-Ergebnisse im Radio an und lege mich dann ins Bett. Jay sagte, ich solle mir das Gesicht waschen. Du kannst eine Kiste Bier trinken, und er glaubt immer noch, dass du fahren kannst, solange du dir bloß das Gesicht wäschst. Mir blieb nichts anderes übrig, als ins Bad zu gehen, um es mir zu waschen. Ehrlich gesagt, hatte ich überhaupt nicht die Absicht und wollte nur so tun als ob. In der Kneipe ist nämlich meist der Abfluss verstopft. Ich hatte überhaupt keine Lust, da reinzugehen. Aber gestern Abend stand ausnahmsweise kein Wasser im Waschbecken. Stattdessen lagst du auf dem Boden.«

Sie seufzte und schloss die Augen.

»Und dann?«

»Habe ich dich aufgehoben und aus der Toilette getragen. Dann habe ich in der Kneipe gefragt, ob dich jemand kennt. Aber niemand wusste, wer du warst. Dann haben Jay und ich deine Wunde verbunden.«

»Was für eine Wunde?«

»Du hast dir wahrscheinlich den Kopf angeschlagen, als du umgefallen bist. Aber es war keine große Wunde.«

Sie nickte, zog die Hände unter dem Bettzeug hervor und betastete die Wunde auf ihrer Stirn mit den Fingerspitzen.

»Dann beriet ich mit Jay, was wir machen sollten. Am Ende beschloss ich, dich mit dem Auto nach Hause zu bringen. In deiner Tasche waren ein Portemonnaie, ein Schlüsselanhänger und eine Postkarte, die an dich adressiert war. Deine Rechnung habe ich aus deinem Portemonnaie bezahlt, dann bin ich mit dir zu der Adresse auf der Postkarte gefahren, habe die Wohnung aufgeschlossen und dich ins Bett gebracht. Das war alles. Deine Quittung ist im Portemonnaie.«

Sie holte tief Luft.

»Warum bist du geblieben?«

»?«

»Warum bist du nicht wieder abgehauen, nachdem du mich abgeliefert hattest?«

»Ein Freund von mir ist an einer Alkoholvergiftung gestorben. Er hatte eine Menge Whiskey getrunken, hat sich verabschiedet und ist munter nach Hause gegangen. Er hat sich die Zähne geputzt, den Schlafanzug angezogen und ist eingeschlafen. Am nächsten Morgen war er eiskalt und tot. Es war eine tolle Beerdigung.«

»Also hast du mich die ganze Nacht bewacht?«

»Eigentlich wollte ich gegen vier Uhr nach Hause fahren. Aber ich bin eingeschlafen. Direkt nach dem Aufwachen wollte ich auch gehen. Aber ich habe mich dagegen entschieden.«

»Warum?«

»Ich wollte dir zumindest erklären, was passiert ist.«

»Und das machst du alles nur, weil du so nett bist?«

Ich zuckte mit den Schultern und ließ die giftige Bemerkung an mir abgleiten, während ich die Wolken beobachtete.

»Habe ich … irgendwas gesagt?«

»Ja, schon.«

»Was denn?«

»Habe ich vergessen. Nichts Besonderes.«

Sie hielt die Augen geschlossen. »Und die Postkarte?«, fragte sie heiser, als hätte sie etwas im Hals.

»Die ist in deiner Tasche.«

»Hast du sie gelesen?«

»Natürlich nicht.«

»Warum nicht?«

»Warum sollte ich?«, fragte ich genervt.

Ihr Tonfall hatte etwas an sich, das mich reizte. Abgesehen davon weckte sie in mir ein Gefühl, das ich von früher kannte. Irgendetwas, das lange zurücklag. Wären wir uns unter normalen Umständen begegnet, hätten wir vielleicht eine angenehmere Zeit miteinander verbracht. Glaube ich. Allerdings wusste ich nicht, wie es war, einem Mädchen unter normalen Umständen zu begegnen.

»Wie spät ist es?«, fragte sie.

Erleichtert stand ich auf, warf einen Blick auf die Uhr auf dem Schreibtisch, holte ein Glas Wasser und ging ins Bett zurück.

»Neun.«

Sie nickte kraftlos, richtete sich auf und trank, an die Wand gelehnt, das Glas in einem Zug aus.

»Ich habe eine Menge getrunken, oder?«

»Ja, ich wäre tot umgefallen.«

»Ich liege ja auch fast im Sterben.«

Sie nahm ihre Zigaretten, die am Kopfende lagen, zündete sich eine an und stieß mit einem Seufzer den Rauch aus. Plötzlich schleuderte sie das Streichholz durch das geöffnete Fenster in Richtung Hafen. »Gib mir was zum Anziehen rüber.«

»Was denn?«

Die Zigarette zwischen den Lippen, schloss sie wieder die Augen. »Irgendwas. Frag nicht so viel.«

Ich öffnete die Tür des Schranks, der gegenüber dem Bett stand. Nach einigem Zögern entschied ich mich für ein ärmelloses blaues Kleid und gab es ihr. Ohne sich mit Unterwäsche aufzuhalten, warf sie es sich einfach über den Kopf, zog den Reißverschluss am Rücken hoch und seufzte erneut. »Ich muss gehen.«

»Wohin?«

»Zur Arbeit«, stieß sie hervor und taumelte aus dem Bett.

Auf der Bettkante sitzend, schaute ich unverwandt zu, wie sie sich das Gesicht wusch und die Haare bürstete.

Das Zimmer war aufgeräumt, alles war an seinem Platz, dennoch herrschte eine Atmosphäre von Ziellosigkeit und Resignation, die mich bedrückte.

Der sechs Tatami große Raum war mit billigen Möbeln vollgestopft. Sie stand auf dem einzigen freien Platz – er hatte in etwa die Größe eines liegenden Menschen – und entwirrte ihre Haare.

»Was arbeitest du?«

»Geht dich nichts an.«

Da hatte sie auch wieder recht.

Eine Zigarettenlänge schwieg ich. Sie kehrte mir den Rücken zu und massierte mit den Fingerspitzen die schwarzen Ringe unter ihren Augen.

»Wie spät?«, fragte sie noch einmal.

»Zehn Minuten später als vorhin.«

»Ich habe es eilig. Du solltest dich auch schnell anziehen und nach Hause fahren«, sagte sie, während sie sich Deo unter die Arme sprühte. »Du hast doch sicher ein Zuhause?«

»Klar«, sagte ich, zog mein T-Shirt über den Kopf und ließ, auf dem Bett sitzend, meinen Blick erneut aus dem Fenster schweifen. »Wo musst du hin?«

»Zum Hafen. Warum?«

»Ich fahre dich. Dann kommst du nicht zu spät.«

Die Bürste in der Hand, sah sie mich an, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Weinen würde ihr guttun, dachte ich. Aber sie weinte dann doch nicht. »Also merk dir eins. Ich habe zu viel getrunken und war blau. Wenn also irgendwas Blödes passiert ist, bin ich selbst dafür verantwortlich«, sagte sie und klopfte sich dabei auf eine dienstliche Art mit dem Stiel der Bürste in die Hand. Schweigend wartete ich, dass sie weitersprach. »Oder?«

»Ich denke schon.«

»Aber ein Typ, der mit einem bewusstlosen Mädchen schläft, das ist … das Allerletzte.«

»Aber ich habe überhaupt nichts gemacht.«

Sie schwieg kurz, als würde sie aufwallende Gefühle unterdrücken. »Und wieso war ich dann nackt?«

»Du hast dich selbst ausgezogen.«

»Nicht sehr glaubwürdig.«

Sie warf die Bürste aufs Bett und stopfte das Portemonnaie, einen Lippenstift, ein Mittel gegen Kopfschmerzen und irgendwelchen Kleinkram in ihre Umhängetasche....

Erscheint lt. Verlag 20.5.2015
Übersetzer Ursula Gräfe
Sprache deutsch
Original-Titel Originaltitel: Kaze no uta o kike/1973-nen o pinboru
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte BOKU • Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki • Flipper • Gegenwartsliteratur • Haruki Murakamis Debüt • Haruki Murakamis Frühwerke • Japan • Tokio • Tokyo • Trilogie der Ratte • Von Männern, die keine Frauen haben • Wilde Schafsjagd
ISBN-10 3-8321-8850-9 / 3832188509
ISBN-13 978-3-8321-8850-4 / 9783832188504
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