Das Meisterstück (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
320 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-15995-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Meisterstück -  Anna Enquist
Systemvoraussetzungen
7,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Noch drei Tage, dann hat der Maler Johan Steenkamer seine große Ausstellung. In der Familie macht sich Aufregung breit: sogar Vater Charles Steenkamer, selbst erfolgloser Maler, der die Söhne nach dem Krieg verließ, wird nach 50 Jahren aus Amerika zurück erwartet. Nur Oskar, Johans unterlegener Bruder, nimmt sich fest vor, wegzubleiben. Doch dann findet er im Magazin des Museums zufällig ein altes Bild seines Vaters Charles, das einem Werk des Bruders auffällig gleicht. Er beschließt, es mit in die Ausstellung zu bringen ...

Anna Enquist wurde 1945 in Amsterdam geboren, ist ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete lange Jahre als Psychoanalytikerin. Seit 1991 veröffentlicht sie Gedichte, Romane und Erzählungen. Ihre Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in fünfzehn Sprachen übersetzt. Anna Enquist lebt in Amsterdam.

Dienstbarkeit


Die Goldfische haben ihre Jungen aufgefressen. Im warmen, windstillen Sommer waren sie tagelang mit Laichen beschäftigt. Der kleine mit den schwarzen Flecken im Gesicht setzte der großen Behäbigen unermüdlich nach und stieß ihr wie besessen gegen den angeschwollenen Hinterleib, bis sie ihre Eier zwischen den Wasserpflanzen von sich gab. Er stob spritzend darüber hinweg – eine Paarung auf Distanz, bei der zwar viele Elemente des Aktes vorhanden sind, jedoch voneinander losgelöst und in sinnlose Rituale verkehrt, in Arbeit, die im Zuge der Fortpflanzung verrichtet werden muß, sobald die Wassertemperatur steigt und der Wind sich legt.

Denkt der Schwarze je: O du süßes, behäbiges Geschöpf mit deinen runden Flanken, du bist die Liebe meines Lebens, ich will dich, ich will dich? Er will Eier, er will besamen, damit die befruchteten Eizellen in dem kleinen Reich aus Eichenholzdauben als weiße Miniaturperlen an den Wasserpflanzen haftenbleiben.

Lisa hockt neben der Tonne und schaut. Im Innern der kleinen Perlen vollzieht sich die Zellteilung in rasendem Tempo, bis die Fische stark genug sind, um sich aus dem zähen Häutchen zu befreien. Zu Dutzenden treiben sie durch das warme Wasser.

Sie werden nicht vom Elternpaar versorgt, das kein Paar mehr ist, sondern schlürfen selbst unaufhörlich Wasser mit unsichtbarem Futter in sich hinein. Sie fressen das Element, in dem sie leben, wie schon im Ei. Wenn sie das Pech haben, ihren Eltern ins Gehege zu kommen, stülpen diese das Maul zu einem fingerdicken Trichter vor, in den tote Mücken, Birkensamen und kleine Fische gesogen werden. Die Birkensamen spuckt die Behäbige beiläufig wieder aus.

Ich hätte sie beschützen müssen, sagt Lisa. Vorige Woche wimmelte es noch von Fischen, durchsichtigen, einen Zentimeter langen Tierchen mit einem Vorder- und einem Hinterteil, einer Fahrtrichtung und einem dunklen Kern im Leib. Und jetzt ist es still. Verdammt, hätte ich sie doch in die Salatschüssel getan, gefüttert, wohlbehütet großgezogen!

In Wahrheit hat sie keine Lust dazu. In Wahrheit mag sie, die mühsam, zähneknirschend, wider Willen zu akzeptieren gelernt hat, daß das Leben ist, wie es ist, sich keine Gedanken wegen ihrer Goldfische machen. Morgens, bevor ihr Arbeitstag beginnt, und abends, wenn sie ihn hinter sich hat, sitzt sie eine Weile an der Tonne, um fasziniert in das grausame Universum zu schauen. Manchmal ist sie versucht, den Fischen eine faire Chance zu geben (aber wem hilft man damit, und wozu?), indem sie zum Beispiel bei strengem Frost mit dem Beil einen Spalt ins Eis hackt, aber ebensooft hat sie das Eis Eis sein lassen, und im Frühjahr trieben dann die verfärbten kleinen Kadaver reglos an der Wasseroberfläche. Einmal war ein leuchtend orangefarbener Fisch völlig im Eis eingeschlossen wie in einem kitschigen gläsernen Briefbeschwerer, taute aber im Frühjahr wieder auf, bewegte träge und ungelenk den Schwanz und pumpte mit den Kiemen. Siehst du, sagt Lisa, es geht, Überleben im Eis.

Lisa wohnt rund zehn Kilometer außerhalb der Stadt in einem von Pendlern in Besitz genommenen Dorf. Vormittags praktiziert sie zu Hause, nachmittags arbeitet sie in der Psychiatrischen Universitätsklinik. Sie hält Seminare für angehende Fachärzte ab, unterrichtet Pflegepersonal und ist in bescheidenem Umfang an der Patientenversorgung beteiligt. Das Haus, in dem sie wohnt, ist ein altes Patrizierhaus, zu beiden Seiten der graublauen Eingangstür absolut symmetrisch. Hinter dem Haus erstreckt sich der Obstgarten (Apfel- und Pflaumenbäume) bis hinunter zum Fluß. Die Tonne mit den Fischen steht neben der Küchentür.

Auf der Vorderseite links die Praxis: Lisas Arbeitszimmer mit großen Fenstern nach zwei Seiten. Unterhalb der Treppe, hinter einem Wandschirm, ist ein bescheidenes Wartezimmer eingerichtet. Selten, daß dort jemand sitzt, denn Lisa gestattet sich zwischen ihren Terminen eine Viertelstunde Pause, und die Patienten aus der Stadt warten meist in ihren am Straßenrand geparkten Autos.

 

Eine Stunde frei wegen eines erkrankten Patienten – Radfahren! Kein Wind, mildes Spätsommerwetter, keine Parkplatzsucherei vor der Klinik. Am Fluß entlang, wo versteckt unter ihren grünen Schirmen die Angler sitzen, durch den Stadtpark und die breite Geschäftsstraße zur Klinik. Lisa hat teure Jeans und einen noch teureren cremeweißen Pullover an. Im letzten Moment hat sie ihre Tennisschuhe noch gegen blaue Stiefeletten ausgetauscht. Sie ist eine schöne Frau, der die Jahre nichts haben anhaben können. Sie kleidet sich gut, aber unauffällig.

Lisa ist fünfundvierzig und menstruiert noch etwa dreimal im Jahr.

Als sie ihre Tasche für die Arbeit packt, läutet das Telefon. »Hannaston?«

Lisa experimentiert damit, sich am Telefon immer wieder anders zu melden. Früher hat sie bedenkenlos ihren Vornamen genannt, gefolgt von verschiedenen Nachnamen (Blech, Bleeker, wieder Blech, Hannaston). Seit sie vierzig ist, findet sie, daß sie es anders machen müßte – aber wie? Ein Mann kann sich und sogar seine Freunde beim Nachnamen nennen, ohne ungehobelt zu erscheinen. Eine Frau nicht. Aber sich selbst als »Frau Hannaston« zu melden, findet sie zickig, »Doktor Hannaston« klingt, als wolle sie sich aufspielen, und einfach nur »Hallo« ist unhöflich. Sie nennt ihren Nachnamen in fragendem, fast entschuldigendem Ton.

»Lisa, hier ist Johan. Schön, daß ich dich erreiche. Mußt du heute nicht zu deinen Irren?«

»Ich bin gerade im Begriff zu gehen.«

An der Pinnwand über dem Telefon hängt eine Einladung zur Eröffnung von Johans Ausstellung: Johan Steenkamer, Ölgemälde, Radierungen, Aquarelle, Vernissage Sonntag von vier bis sechs im Städtischen Museum. Sie sind herzlich eingeladen. Dunkler Anzug. Dunkler Anzug? Ja, dunkler Anzug. Sponsoren: Staatsfonds für Bildende Kunst, die Post, Holzhandel Nicolaas Bijl.

Ein Foto von Johan im Halbprofil: markante Nase, unnatürlich zusammengekniffener Mund, Augen von jemandem, der zum Zeitpunkt der Aufnahme intensiv an sich selbst denkt. Schulterpartie in dunklem Anzug, der ihm gut steht.

»Hör zu, wir gehen hinterher mit der Familie essen. Alma möchte das so. Das ist zwar alles etwas neumodisch, aber es müßte machbar sein.«

Die Familie, das ist zuallererst Johans Mutter Alma, die Anstifterin; dann Johans Bruder Oscar und die Söhne Peter und Paul. Ist Johans Freundin Zina das Neumodische?

»Kommt Ellen auch?«

»Alma hat sie angerufen. Sie hat zugesagt.«

Ellen, die Mutter seiner Söhne, an einem Tisch mit der neuen Frau.

»Ich komme gern, Johan«, sagt Lisa. Sie will ihre Freundin in dieser Situation nicht allein lassen, und die komplizierten Familienverhältnisse üben eine gewisse Faszination auf sie aus.

»Und Lawrence, den will ich auch dabeihaben, ist er schon zurück?«

»Er ist gerade erst nach England gefahren und kommt nicht vor Ende nächster Woche zurück. Wenn die Kinder wieder zur Schule müssen.«

»Ich möchte aber gern alle dabeihaben. Was macht er in England, hat er einen Auftrag?«

»Nein, noch nicht. Er macht vielleicht für seinen Vater einen Entwurf für den Ausbau des Hotels. Und besucht einfach die Familie. Ich muß weg, Johan, danke für die Einladung.«

Johan klingt bei der Verabschiedung leicht verärgert.

 

Beim Radfahren läßt sich gut nachdenken. Zu Fuß fängt man schnell an zu träumen, aber das Quentchen Aufmerksamkeit, das man beim Radfahren braucht, sorgt für die nötige Hinwendung zur Realität. Agieren. Lisa hat Lawrence’ Fahrrad genommen, auch auf die Gefahr hin, binnen einer Stunde ein taubes Gefühl zwischen den Beinen zu haben; dafür hat das Rad eine Gangschaltung. Sie tritt in die Pedale, surrt zwischen den dicken Alleebäumen über den grauen Asphalt und schaltet in die größte Übersetzung. Die Straße nähert sich dem Fluß: verblühter Bärenklau, müde Haubentaucher auf dem Wasser.

Eigenartig, daß sie Freunde sind, Johan und Lawrence. Worüber sie sich wohl unterhalten? Malerei? Die Zukunft der dörflichen Architektur? Bestimmt nicht über Eltern oder Besuche bei der Familie.

 

Lawrence stammt aus York. Seine Eltern besitzen ein großes Hotel an der Ostküste Englands. Gigantische Fensterfronten gewähren Aussicht auf das Meer; die traditionellen Räumlichkeiten, die Engländer offenbar zu ihrem Wohlbefinden benötigen (Lounge, Dining Room, Tea Room, Morning Room), haben die Ausmaße von halben Fußballplätzen. Die wirtschaftliche Talfahrt hat die Zahl der Gäste dezimiert. Wer jetzt noch kommt, ist reich und alt und tut es aus Gewohnheit. Auf einer Tür in einem der langen, krankenhausähnlichen Gänge steht »Emergency Room«. Dahinter wird in einem schmalen Schrank eine Tragbahre versteckt. Lisa durfte während eines Aufenthalts bei ihren Schwiegereltern miterleben, wie ein betagter Gast nach dem Abendessen das Zeitliche segnete (blaurot, Schaum vor dem Mund, Yorkshire Pudding) und von Koch und Empfangsdame im Laufschritt zum Hinterausgang gefahren wurde, wo diskret der von Lawrence’ Mutter eilends herbeigerufene Krankenwagen wartete. Im Dining Room dauerte es ein Weilchen, bis die Stimmung wiederhergestellt war.

Eine Anzeigenkampagne in Amerika brachte noch mehr ältere Gäste, die obendrein im Morning Room Gin trinken wollten. Die Schließung drohte. Lawrence’ Mutter erwog kurzzeitig, ein richtiges Altersheim daraus zu machen, schreckte aber vor Szenen wie der mit der Tragbahre zurück.

Opa England, wie Lisas Kinder Kay und Ashley sagen, hatte schließlich einen rettenden Einfall und schloß eine ganze Reihe von Verträgen mit Firmen, die ihrem Personal einen...

Erscheint lt. Verlag 27.11.2014
Übersetzer Hanni Ehlers
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Het meesterstuk
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aufmerksamkeit • Ausstellung • Bestätigung • Betrug • Druck • eBooks • Familie • Gegenwartsliteratur • Gesellschaft • Konkurrenz • Kunst • Liebe • Maler • Neid • Niederlande • Roman • Romane • Sehnsucht • Skandal • Zuwendung
ISBN-10 3-641-15995-4 / 3641159954
ISBN-13 978-3-641-15995-5 / 9783641159955
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99