Eine Jugend (eBook)

Roman
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2014 | 1. Auflage
187 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73657-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Jugend -  Patrick Modiano
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Odile und Louis sind ein glückliches Paar, mit Tochter und Sohn leben sie in den Hochsavoyen, wo sie seit zwölf Jahren ein Kinderheim führen. Odile ist gerade 35 geworden. Jetzt erst sind die beiden in der Lage, sich an ihre Jugend zu erinnern, die sie in Paris verbrachten, wo sie zwielichtigen Geschäften nachgingen: Odile wurde von einem Polizisten als Lockvogel benutzt, und zusammen mit Louis brachte sie illegal Geld nach England für den Garagenbesitzer, für den Louis als Bote arbeitete. Aber sie haben rechtzeitig erkannt, wann es an der Zeit ist, sich nicht mehr in den Dienst anderer zu stellen ...

<p>Patrick Jean Modiano wurde am 30.7.1945 in Boulogne-Billancourt als Sohn einer flämischen Schauspielerin und eines jüdischen Emigranten orientalischer Abstammung geboren. Sein Vater lebte während der deutschen Besatzungszeit im Untergrund und schlug sich mit Schwarzmarktgeschäften durch. Modiano erlebte eine chaotische Nachkriegskindheit: häufige Abwesenheit der Mutter, früher Tod des Bruders und Trennung der Eltern. Modiano widmete sich schon früh dem Schreiben und bereits mit 21 Jahren beendete er seinen ersten Roman. Seitdem publizierte er zahlreiche Romane, Kinderbücher sowie Theaterstücke und Drehbücher. 2014 ist Modiano mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden. Der Autor lebt in Paris.</p>

 
 
 
Die Kinder spielen im Garten, und bald ist es Zeit für die tägliche Schachpartie.

– Morgen früh wird ihm der Gips abgenommen, sagt Odile.

Sie und Louis sitzen auf der Terrasse des Chalets und schauen von weitem ihrer Tochter und ihrem Sohn zu, die mit den drei Viterdo-Kindern über den Rasen laufen. Der fünfjährige Sohn hat den linken Arm eingegipst, was ihn aber nicht zu stören scheint.

– Wie lange trägt er den Gips? fragt Louis.

– Fast einen Monat.

Er war von einer Schaukel gefallen, und erst nach einer Woche stellte sich heraus, daß er sich etwas gebrochen hatte.

– Ich nehme ein Bad, sagt Odile.

Sie geht hinauf in die erste Etage. Wenn sie zurückkommt, werden sie mit der Schachpartie anfangen. Er hört, wie das Badewasser einläuft.

Die Talstation der Seilbahn auf der anderen Straßenseite, hinter den Tannen, gleicht einem Kurort-Bahnhof. Die Seilbahn soll eine der ältesten in ganz Frankreich sein. Louis folgt ihr mit den Blicken. Langsam überwindet sie die Steigung des Foraz. Das kräftige Rot der Kabine hebt sich ab vom sommerlichen Berggrün. Die Kinder sind zwischen den Tannen durchgeschlüpft und fahren auf dem schattigen runden Platz beim Liftgebäude Rad.

Gestern hat Louis von der Fassade des Chalets das Holzschild mit der weißen Aufschrift SUNNY HOME entfernt. Es liegt auf dem Boden, vor der Glastür. Vor zwölf Jahren, als sie das Chalet kauften und es in ein Kinderheim umwandelten, wußten sie nicht so recht, wie sie es nennen sollten. Odile neigte zu einer landesüblichen Bezeichnung wie Zwergenheim oder Schelmenburg, doch Louis meinte, etwas Englisches sei eleganter und auch besser für das Geschäft. Schließlich hatten sie sich für Sunny Home entschieden.

Er nimmt das Holzschild in die Hand. Später wird er es in eine Schublade legen. Er empfindet Erleichterung. Kein Kinderheim mehr; vom heutigen Tag an haben sie das Chalet ganz für sich. Er wird die Baracke hinten im Garten zu einem Restaurant-Teesalon umbauen, für die Leute, wenn sie im Winter auf die Seilbahn warten.

Nach und nach steigt unten vom Talgrund und vom Garten die Dunkelheit auf, zugleich mit den Schreien und dem Gelächter der Kinder, die jetzt Verstecken spielen. Morgen ist der dreiundzwanzigste Juni, Odiles fünfunddreißigster Geburtstag. Und einen Monat später wird auch er fünfunddreißig sein. Zu Odiles Geburtstag hat er die Viterdos mit ihren Kindern eingeladen, sowie Allard, den ehemaligen Schiläufer, der ein kleines Sportgeschäft führt.

Die rote Seilbahn, nun auf der Talfahrt, verschwindet hinter einem Tannenhügel, taucht wieder auf und setzt, in ihrer stetig-stillen Art, ihren Weg fort. Bis neun Uhr am Abend wird man sie bergan und bergab fahren sehen. Beim letzten Mal wird sie nur noch ein großes leuchtendes Insekt über dem Abhang des Foraz sein.

 

– Tapfer, der Kleine …

Der Arzt tätschelte dem Kind die Wange. Am meisten aufgeregt war Odile. Der Arzt hatte gerade mit Hilfe eines Geräts, dessen Rasanz an eine Kreissäge erinnerte, den von Odile mit Blumen bemalten Gips aufgetrennt. Und der Arm war zum Vorschein gekommen, unversehrt. Die Haut war weder verschrumpelt noch ausgebleicht, wie Odile es doch befürchtet hatte. Das Kind bewegte den Arm, bog ihn sacht ab, beinahe ungläubig, ein aufmerksames Lächeln im Gesicht.

– Jetzt kannst du ihn noch einmal brechen, hatte der Arzt gesagt.

Sie hatte ihm vor dem Heimweg ein Eis versprochen, und so saßen sie auf einer Caféterrasse am See, einander gegenüber. Das Kind hatte sich für ein Pistazien-Erdbeer-Eis entschieden.

– Bist du froh, den Gips los zu sein?

Er antwortete ihr nicht. Er aß sein Eis, mit einem ernsten, eifrigen Gesicht.

Sie schaut ihn an und fragt sich, ob er sich später an den geblümten Gips erinnern würde. Seine erste Kindheitserinnerung? Er kneift in der Sonne die Augen zusammen. Der Nebel über dem See verschwindet, und es ist ihr fünfunddreißigster Geburtstag. Und bald wird auch Louis fünfunddreißig sein. Was kann man in diesem Alter noch erleben? Sie stellt sich diese Frage, indem sie an die unversehrte Haut denkt, an den Arm, der gerade erst aus dem Gips zum Vorschein gekommen ist, so als sei er selbst es, der diese ihn umschließende Hülse gebrochen habe. Kommt es manchmal vor, daß das Leben mit fünfunddreißig neu anfängt? Schwierige Frage – die sie zum Lächeln bringt. Vielleicht weiß Louis eine Antwort. Sie persönlich meint eher: Nein. Es ist, als erreiche man eine Stauzone, und das Tretboot gleite ganz von allein über einen See, vergleichbar dem, der sich im Augenblick vor ihr ausbreitet. Und die Kinder werden größer. Sie werden weggehen.

Eine Wimper am Lidrand stört sie, und sie nimmt aus ihrer Tasche eine leere Puderdose, die sie einzig wegen des kleinen Rundspiegels bei sich hat. Es gelingt ihr nicht, die Wimper zu entfernen. Sie erforscht ihr Gesicht. Es hat sich nicht verändert. Mit zwanzig hatte sie das gleiche Gesicht. Zwar gab es die winzigen Falten im Mundwinkel noch nicht, aber sonst hat sich nichts geändert … Und auch Louis hat sich nicht geändert. Er war damals höchstens ein bißchen dünner …

– Alles Gute zum Geburtstag, Mama.

Er hat sich beim Sprechen ein wenig verhaspelt, und zeigt zugleich einen gewissen Stolz. Sie küßt ihn. Wie seltsam wäre es doch, kennten die Kinder die Eltern, so wie diese waren vor ihrer Geburt – als sie noch keine Eltern, sondern einfach sie selber waren … Ihre, der jetzigen Mutter, eigene Kindheit, bei der Großmutter in Paris, in der Rue Charles-Cros, da, wo die Autobusse abfuhren … Ein bißchen weiter weg das graue Gebäude des Tourelles-Schwimmbeckens, das Kino und der abschüssige Boulevard Sérurier. Mit ein bißchen Phantasie verlief da an einem Nebel-Sonnen-Morgen eine Steiluferstraße, die hinunterführte zum Meer.

– Es ist Zeit zu gehen …

Auf der Fahrt hinauf zum Chalet, ihren Sohn neben sich, summte Odile gedankenlos vor sich hin. Dann fiel ihr auf, daß es sich um die ersten Takte einer Operette handelte. Zu ihrer großen Überraschung hatte sie in einem Genfer Antiquariat die Platte gefunden. Es war eine Operette, welche Rosen von Hawai hieß …

 

Sie sitzen auf der grünen Bank vor dem Seilbahngebäude, und ihr Sohn fährt auf dem Rundplatz Rad. Es ist ein Rad mit Stützrädern. Odile hat sich ausgestreckt und liest, den Kopf an Louis' Knie, eine Filmrevue.

Das Kind durchquert die Sonnenflecken, einen nach dem andern, und beginnt dann, was er die »große Tour« nennt. Von Zeit zu Zeit hält er und hebt einen Kiefernzapfen auf. Der Seilbahn-Angestellte raucht draußen auf der Schwelle eine Zigarette und gleicht mit seiner blauen Mütze und Jacke einem Bahnhofsvorstand.

– Viel Betrieb? fragt Louis.

– Nein, heute nicht …

Was tut's? Die rote Kabine wird sich zum vorgesehenen Zeitpunkt auf den Weg machen, streng nach Fahrplan.

– Erstaunlich, bei dem schönen Wetter, sagt der Angestellte.

– Die Ferien haben noch nicht so recht angefangen, sagt Louis. Sie werden sehen, in zwei Wochen …

Das Kind umkreist den runden Platz und tritt immer stärker in die Pedale. Odile hat die Sonnenbrille aufgesetzt und blättert in der Zeitschrift, wobei sie wegen des Winds die Blätter festhält.

 

Im Schlaf hört er Kindergeschrei, das sich nähert, sich entfernt und sich wieder nähert, und er erlebt es wie abgestuftes Licht, wie eine Abfolge von Schatten und Sonne. Doch er träumt immer den gleichen Traum. Er sitzt da ganz oben in einem leeren Radrennstadion. und schaut seinem über das Lenkrad gekrümmten Vater zu, wie der auf der Piste langsam seine Runden dreht.

Jemand ruft ihn, und er öffnet die Augen. Vor ihm steht seine Tochter und lächelt ihn an. Sie ist fast so groß wie Odile.

– Papa … Die Besucher werden gleich kommen …

Sie trägt ein rotes Kleid, was Louis überrascht. Sie ist dreizehn. Noch benommen von seinem Traum, staunt er darüber, daß seine Tochter so groß ist.

– Papa …

Sie lächelt ihn vorwurfsvoll an, nimmt seine Hand und versucht, ihn vom Sofa emporzuziehen. Louis sträubt sich. Dann aber läßt er es geschehen, richtet sich auf und küßt sie auf die Stirn. Er geht hinaus auf die Terrasse. Es ist noch nicht Nacht, und hinter der Tannenreihe bemerkt er eine Gruppe von Leuten, die auf dem Weg herauf zum Chalet sind. Er erkennt die ernste Stimme Allards und das Lachen von Martine Viterdo. Unten gleitet die rote Seilbahn langsam den Abhang des Foraz entlang, ein Käfer im Gras.

 

Im Salon sind alle Lampen ausgeschaltet. Louis, Odile, Viterdo, dessen Frau, Allard und die Kinder warten rund um den Tisch. Louis' Tochter kommt aus der Küche, mit der Torte, auf der acht Kerzen brennen: drei für die Jahrzehnte, fünf für die zusätzlichen Jahre. Sie geht auf die andern zu, und man singt:

– Happy Birthday to you …

Sie stellt das Tablett in die Tischmitte. Odile wird nacheinander von allen geküßt.

– Nun, fragt Viterdo, wie ist Ihnen zumute mit fünfunddreißig?

– Man nähert sich dem Großmutteralter, antwortet Odile.

– Reden Sie keinen Unsinn, Odile.

– Blas die Kerzen aus, Mama …

Odile beugt sich über die Torte und bläst.

– Alle aus!

Man applaudiert, und die Lichter werden wieder angeschaltet.

– Ein Lied! Ein Lied!

– Odile wird euch das Chanson des rues singen, sagt Louis.

– Nein,...

Erscheint lt. Verlag 10.11.2014
Übersetzer Peter Handke
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Une jeunesse, 1981
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Beziehung • Familie • Frankreich • Illegalität • Jugend • Kinderheim • Kriminalität • Liebe • Paar • Paris • Patrick Modiano • Roman • Savoyen • ST 4615 • ST4615 • suhrkamp taschenbuch 4615
ISBN-10 3-518-73657-4 / 3518736574
ISBN-13 978-3-518-73657-9 / 9783518736579
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