Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt (eBook)

Roman

(Autor)

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2014 | 1. Auflage
512 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30854-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt -  Sven Regener
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»Regener ist noch nie so gut gewesen - lakonisch wie immer, aber mit zarter Melancholie. Herzzerreißend schön.« Elke Heidenreich. Als Karl Schmidt, Opfer eines depressiven Nervenzusammenbruchs am Tag der Maueröffnung, nach Jahren der Versenkung von alten Kumpels zufällig in Hamburg als Bewohner einer drogentherapeutischen Einrichtung wiedergefunden wird, ist das der Anfang einer seltsamen Zusammenarbeit: Die alten Freunde, mittlerweile zu Ruhm und Reichtum gelangt, wollen mit ihrem Plattenlabel auf einer Tour durch Deutschland den Rave der Neunzigerjahre mit dem Hippiegeist der Sechziger versöhnen und brauchen dazu einen, der immer nüchtern bleiben muss. Das kommt Karl Schmidt gerade recht, denn der hat keine Lust mehr, sich in einer Parallelwelt aus Drogen-WG, Hilfshausmeisterjob und gruppendynamischen Wochenendausflügen zu verschanzen.Und so beginnt eine Reise durch ein Land und eine Zeit im Umbruch, unternommen von einer Handvoll Techno-Freaks, betreut von einem psychisch labilen Ex-Künstler, für den dies der Weg zurück in ein unabhängiges Leben sein soll.

Sven Regener ist Musiker (Element of Crime) und Schriftsteller. Seine Romane Herr Lehmann (2001), Neue Vahr Süd (2004), Der kleine Bruder (2008), Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt (2013), Wiener Straße (2017) und Glitterschnitter (2021) waren allesamt Bestseller. Sie wurden verfilmt und in viele Sprachen übersetzt.

Sven Regener ist Musiker (Element of Crime) und Schriftsteller. Seine Romane Herr Lehmann (2001), Neue Vahr Süd (2004), Der kleine Bruder (2008), Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt (2013), Wiener Straße (2017) und Glitterschnitter (2021) waren allesamt Bestseller. Sie wurden verfilmt und in viele Sprachen übersetzt.

1. Teil Altona


1. La Romantica


Ich sah Raimund Schulte lange bevor er mich sah. Ich hatte gerade Paranoia und die Tür fest im Blick, weil Werner nicht wollte, dass wir ins Eiscafé gingen, und ich hatte die Pillen abgesetzt und Angst davor, dass Werner beim nächsten Plenum aus einem Eisbecher »Monteverdi« ein großes Ding machen würde, da hätte ich kaum für mich garantieren können ohne Pillen. Aber Werner kam nicht und auch nicht Klaus-Dieter, der mich sofort aus Angst davor, von mir an Werner verpetzt zu werden, an Werner verpetzt hätte, der arme Willi. Stattdessen kam Raimund Schulte rein und sah sich um wie einer, dem der Laden gehört. Daran erkannte ich ihn sofort, obwohl er eine Vollglatze hatte statt der nach hinten gekämmten Kokserfrisur, die bis Ende der achtziger Jahre sein ganzer Stolz gewesen war. Damals hatte ich ihn aus den Augen verloren, so will ich das jetzt mal nennen, und jetzt war es Mitte der Neunziger und ich saß in Hamburg-Altona im Eiscafé »La Romantica« mit einem Eisbecher »Monteverdi« ohne Eierlikör und ohne Maraschino-Kirsche und war paranoiamäßig so sehr auf entweder Werner oder Klaus-Dieter gepolt, dass ich, als ich Raimund Schulte sah, gar nicht erst auf die Idee kam, mich hinter dem Eisbecher zu verstecken, wie ich es bei Werner oder Klaus-Dieter sofort getan hätte, im Gegenteil, ich glotzte ihn unverhohlen an, und dann sah er mich und kam zu mir rüber.

»Charlie? Bist du das?«

Ich hatte den Namen Charlie seit Jahren nicht mehr gehört und war auf eine Begegnung mit Raimund Schulte auch sonst nicht vorbereitet, und ich hätte gerne »Nein« gesagt, aber ich kriegte so schnell kein Wort raus.

»Charlie … Charlie …«

»Schmidt.«

»Schmidt, klar, Charlie Schmidt, ich bin nicht gut mit Nachnamen, aber das weißt du ja, Charlie!«

Er sah sich wieder im Laden um und trommelte dabei mit den Fingern auf die Stehtischplatte, an der ich auf meinem Hocker hockte mit dem Eisbecher »Monteverdi« und dem langen Löffel und der Zigarette, an der ich schon einige Zeit zu ziehen vergessen hatte.

»Was machst du denn in Hamburg? Ich dachte, sie hätten dich damals nach Bielefeld gebracht«, sagte er schließlich.

»Wer hat das denn gesagt?«

»Wurde so geredet. Weil du da herkommst. Oder deine Eltern da wohnen oder was!«

»Meine Mutter wohnt in Hamburg.«

»Ach so. Logisch. Kommen die hier eigentlich auch an den Tisch und bringen einem was?«

»Ja, aber du musst am Tresen bestellen.«

»Ach so.«

Er ging weg und ich bekam etwas Bedenkzeit und die hatte ich auch bitter nötig, denn ich war nicht vorbereitet und Vorbereitung war alles, da hatte Werner recht, das war einer von Werners Überlebenstipps, »Vorbereitet sein ist alles!«, das kam bei ihm noch vor »Nur dahin gehen, wo ihr’s im Griff habt!« und »Einmal ist jedesmal, nur keinmal ist keinmal!« und was er sonst noch so an Altonaer Drogen-WG-Bauernregeln auf der Pfanne hatte. Aber Werner war nicht hier und eine Weisheit für den Fall, dass ein alter Bekannter aus einer anderen Stadt und einem anderen Leben einen wiederentdeckte, hatte ich von ihm noch nicht gehört, höchstens »Zur Not weglaufen!«, das passte natürlich immer, aber zum Weglaufen war es zu spät.

»Grottige Gastro, mein lieber Schwan«, sagte Raimund, als er mit einem Bier zurückkam. »Bin eigentlich nur hier, weil ich noch fast eine Stunde auf meinen Zug nach Berlin warten muss, was ist das überhaupt für ’ne Gegend?«

»Das ist Altona.«

»Schon klar, der Bahnhof heißt ja Hamburg-Altona, aber was ist das denn für ’ne Gegend??!!«

»Weiß ich nicht, ich wohn hier.«

»Ja, bei deiner Mutter, irgendwie stark! Ich könnte das nicht mehr!«

»Nein, nicht bei meiner Mutter! Ich wohne nicht bei meiner Mutter!«

»Ach so, ist ja auch egal.« Er blickte sich zufrieden um und nuckelte an seiner Bierflasche.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich schließlich.

»Ich war im Studio, bei Big Boom, da mastern wir jetzt immer, die sind hier um die Ecke.«

»Wer ist wir?«

»Kratzbombe, das Label. Oder BummBumm, wir haben ja mehrere Label, eigentlich ist BummBumm natürlich das Label und Kratzbombe nur das Sublabel, aber das jetzt war für Kratzbombe, das mach ich, bei BummBumm ist meist Ferdi am Start.«

Ich musste wohl etwas doof aus der Wäsche geschaut haben.

»Wie lange bist du jetzt weg?«, sagte er.

»Seit Ende neunundachtzig.«

»O Mann«, sagte Raimund Schulte in einem mitleidigen Ton, »klar, so lange ist das schon her, kein Wunder, dann hast du ja alles verpasst!«

»Natürlich habe ich alles verpasst«, platzte es aus mir heraus, bevor ich richtig nachdenken konnte, das ging noch nicht so schnell damals, ich hatte das noch nicht so gut im Griff, den Ärger, den Zorn, die ganze Gefühlssause, »was denkst du denn?! Das war doch die Idee davon, ich bin ja nicht hierhergekommen, weil hier der Bär steppt, das ist Hamburg-Altona, Mann, hier kommt man her, um …« – mir fehlten die Worte, ja, warum kam man hierher? Um zu überleben? Das klang mir zu dramatisch. Um zu wohnen? Als ob es woanders keine Drogen-WGs gäbe, als ob nicht eigentlich sogar eine Drogen-WG in der Nähe des Altonaer Bahnhofs eine ziemlich dumme Idee war, »… um alles zu verpassen«, brachte ich schließlich den freudlosen Satz zu Ende.

»Ja, ja, schon gut«, sagte Raimund. »Ich hol mir noch ein Bier, du auch eins?«

»Kaffee. Filterkaffee, groß, schwarz.« Ich hatte keine Lust mehr zu reden. Und ich hatte keine Lust mehr auf den Eisbecher. Ich wollte aber auch nicht gehen. Dass es ausgerechnet Raimund sein musste, der mich hier aufspürte! Hätte es nicht Frankie sein können oder sonst jemand Nettes, Heidi oder Isabella oder wegen mir auch Erwin Kächele oder wie sie alle geheißen hatten, jedenfalls jemand von der warmen Seite, denn meine Vergangenheit hatte zwei Seiten gehabt, eine warme und eine kalte, so sah ich das damals, so wie es warme und kalte Drogen gab, Klaus-Dieter, der alte Multitox, hatte mir das mal erklärt, kalt Speed, warm Heroin oder so, »die warmen sind gefährlicher«, hatte er noch gesagt, aber als ich ihn gefragt hatte, ob Alkohol zu den warmen oder den kalten gehört, hatte er »beides« gesagt, der alte Quatschkopf.

Raimund kam wieder und stellte mir einen Kaffee hin, es war der falsche Kaffee, eine verlängerte Plörre aus dem Espressovollautomaten, ein Quatschkaffee, den man als solchen gleich an den vielen sinnlosen Schaumbläschen erkannte, die darauf herumschwammen. Raimund hatte recht, das Eiscafé »La Romantica« war grottig, ein Musterbeispiel für die Talentlosigkeit der Altonaer Gastronomie, die einen irgendwie immer an Schultheateraufführungen erinnerte.

»Wahrscheinlich darfst du überhaupt kein Bier«, sagte Raimund und prostete mir dabei zu. Er schluckte und schluckte, während ich pro forma die Kaffeetasse hob und gleich wieder abstellte. Draußen hatte es zu regnen begonnen und durch die Tür, die der Letzte, der gegangen war, offen gelassen hatte, drang das Wischgeräusch von Autoreifen auf nasser Straße herein.

»Muss hart sein«, sagte er, und plötzlich erinnerte ich mich, warum ich ihn immer so gern gehabt hatte: Bei Raimund Schulte wurde nicht drumherum geredet, bei ihm war immer alles eins zu eins, keine Hintergedanken, keine Anspielungen, kein Subtext, keine Metaphern, keine Rücksichten. Natürlich war das kalt, aber auch toll.

»Nicht so schlimm«, sagte ich. »Solange man rauchen kann, geht’s.«

»Rauchen hab ich mir abgewöhnt«, sagte er, »aber kein Bier, das ist hart. Darfst du denn kiffen? Ich dachte, das war bei dir wegen dem Koks gewesen oder Speed oder was?«

»Schwer zu sagen«, sagte ich. »Ich darf gar nichts mehr.«

»Aber ihr kriegt doch immer so Pillen«, ließ Raimund nicht locker. »Was gibt’s denn da so?«

»Kommt drauf an, was man hat«, sagte ich.

»Was hast du denn gekriegt?«

»Die waren nicht so toll«, sagte ich. »Ich hab sie abgesetzt.«

»Wieso nicht so toll?«

Ich hatte schon zu viel gesagt. Ich hatte keine Lust, Raimund Schulte zu erzählen, wie fett ich von den Pillen geworden und wie grau alles gewesen war und dass die Dinger mich impotent gemacht hatten und wie ich mich über nichts mehr hatte aufregen oder freuen können. Jetzt war zwar immer noch alles grau, aber das hatte mehr mit Hamburg-Altona zu tun, und es gab nicht viel zu freuen, aber das hatte mit Werner und der WG und dem Job zu tun, und das war irgendwie besser und ich konnte mich wenigstens wieder darüber aufregen.

»Es ist nicht die Art von Pillen, an denen du Freude hättest, Raimund.«

»Ja, wahrscheinlich, sonst würde man sowas ja wohl mal angeboten kriegen. Und du darfst gar nichts mehr nehmen? Kein Bier, kein Hasch, gar nichts?«

»Nur Kaffee und Zigaretten.«

»Und ist das schwer?«

»Ja, manchmal.«

»Sag ich doch!« Raimund nahm sich eine meiner Zigaretten. »Ich nehm mir mal eine.«

»Klar. Ich dachte, du rauchst nicht mehr«, sagte ich und gab ihm Feuer.

»Nur noch ganz selten«, sagte er nach dem ersten Zug. »Nur noch bei Gelegenheit.«

Also rauchten wir einige Zeit nebeneinanderher und sagten nichts, und das war eine ganz einfache Sache, sitzen, rauchen, nichts sagen, es war fast wie beim Frühstück mit Henning, nur dass bei Henning die Sache einen schwarzen Anstrich hatte, man wusste nie, ob er nicht gleich tot umfallen würde, nur um einem ein schlechtes Gewissen zu...

Erscheint lt. Verlag 6.11.2014
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 90er Jahre • Ärger mit der Unsterblichkeit • Charly Hübner • Depression • Der kleine Bruder • Detlev Buck • Deutschland • Drehbuchautor • Drogen • Drogen-Entzug • Element of Crime • Entzug • Freunde • Freundschaft • Herr Lehmann • Karl Schmidt • Kino-Film 2017 • Meine Jahre mit Hamburg-Heiner • Musiker • Neue Vähr Süd • Plattenlabel • Rave • Reise • Schriftsteller • Sven Regener • Techno • Therapie • Tour • Umbruch • Vergangenheit
ISBN-10 3-462-30854-8 / 3462308548
ISBN-13 978-3-462-30854-9 / 9783462308549
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