Bericht aus dem Inneren (eBook)

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2014 | 1. Auflage
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02841-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bericht aus dem Inneren -  PAUL AUSTER
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Paul Auster führt uns in seine frühe Kindheit, in eine Zeit, in der die Uhren noch Gesichter, die Stifte noch Flugzeuge, die Äste von Bäumen noch Arme sein konnten und auch der Mann im Mond, obgleich ohne Gestalt, noch ein echter Mann war. Auster beschreibt diese phantastische Welt vor den Begriffen mit großer Wärme und leichter Hand. Aber die Fragen, die sich ihm und uns darin stellen, haben Gewicht: Wann werden einem Menschen die Koordinaten seiner Lebenssituation bewusst? Wann begreift sich der kleine Junge aus New Jersey als Amerikaner? Wann als amerikanischer Jude? Gemeinsam mit seinen Lesern lernt Auster jenen Paul neu kennen, der ihm viele Jahre später nur noch schemenhaft vor Augen steht, der allmählich zum Künstler heranwächst, rastlos in winzigen Pariser Zimmern ausharrt, Drehbücher und Liebesbriefe schreibt, Ideen verfolgt und verwirft, die Studentenrevolte in New York erlebt und sich zunehmend professionell dem Schreiben widmet. Dieses Buch ist ein stimmiges Gegenstück zum «Winterjournal». Nach der Geschichte seines Körpers erzählt Auster ebenso unverstellt und poetisch die Geschichte seiner Bewusstwerdung: «Die Welt ist in meinem Kopf. Mein Körper ist in der Welt.»

Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik. Am 30. April 2024 ist Paul Auster im Alter von 77 Jahren gestorben.

Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik. Werner Schmitz ist seit 1981 als Übersetzer tätig, u. a. von Malcolm Lowry, John le Carré, Ernest Hemingway, Philip Roth und Paul Auster. 2011 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis. Er lebt in der Lüneburger Heide.

Bericht aus dem Inneren


Am Anfang war alles lebendig. Die kleinsten Gegenstände waren mit pochenden Herzen ausgestattet, und selbst die Wolken hatten Namen. Scheren konnten gehen, Telefone und Teekessel waren Cousins, Augen und Brillen waren Brüder. Das Zifferblatt der Uhr war ein Gesicht, jede Erbse in deinem Napf hatte eine eigene Persönlichkeit, und der Kühlergrill vorn am Auto deiner Eltern war ein grinsendes Maul mit vielen Zähnen. Bleistifte waren Luftschiffe. Münzen waren fliegende Untertassen. Die Äste der Bäume waren Arme. Steine konnten denken, und Gott war überall.

 

Es war nicht schwer zu glauben, dass der Mann im Mond wirklich ein Mann war. Du konntest sein Gesicht vom Nachthimmel auf dich hinabblicken sehen, und zweifellos war es das Gesicht eines Menschen. Nebensächlich, dass dieser Mann keinen Körper hatte – was dich betraf, war er dennoch ein Mann, und die Möglichkeit, dass in alldem ein Widerspruch stecken könnte, ist dir nie in den Sinn gekommen. Zugleich schien es vollkommen glaubhaft, dass eine Kuh über den Mond springen konnte. Und dass Teller und Löffel miteinander Reißaus nahmen.

 

Deine frühesten Gedanken, Überbleibsel dessen, wie du als kleiner Junge in dir selbst gelebt hast. Du kannst dich nur an weniges davon erinnern, einzelne Fetzen und Bruchstücke, hin und wieder ein kurzes Aufblitzen von Bildern, willkürlich und unerwartet – hervorgerufen von einem Geruch, von einer Berührung, von einem Lichtstrahl, wie er im Hier und Jetzt des Erwachsenenlebens auf einen Gegenstand fällt. Zumindest denkst du, dass du dich erinnerst, du glaubst dich zu erinnern, aber vielleicht erinnerst du dich gar nicht oder erinnerst dich an eine spätere Erinnerung dessen, was du in jener fernen Zeit, die jetzt für dich so gut wie verloren ist, gedacht zu haben glaubst.

 

Es ist der 3. Januar 2012, auf den Tag genau ein Jahr nachdem du dein letztes Buch angefangen hast, dein mittlerweile fertiges Winterjournal. Über deinen Körper zu schreiben, die mannigfachen Schläge und Freuden aufzuzählen, die dein physisches Ich erlebt hat, war das eine; etwas ganz anderes, eine vielleicht unlösbare Aufgabe dürfte es sein, deine Gedanken zu durchforschen, wie du sie aus deiner Kindheit in Erinnerung hast. Dennoch fühlst du dich getrieben, es zu versuchen. Nicht weil du ein rares und außergewöhnliches Untersuchungsobjekt zu sein glaubst, sondern ganz im Gegenteil, weil du dich für alltäglich hältst, für einen Menschen wie alle anderen.

 

Dass deine Erinnerungen nicht ganz und gar trügerisch sind, beweist dir allein die Tatsache, dass du immer noch gelegentlich in alte Denkmuster verfällst. Spuren davon sind dir bis übers sechzigste Lebensjahr hinaus geblieben, der Animismus der frühen Kindheit ist nicht vollständig aus deinem Kopf verbannt, und jeden Sommer liegst du auf dem Rücken im Gras, siehst zu den vorbeitreibenden Wolken hinauf und beobachtest, wie sie zu Gesichtern werden, zu Vögeln und anderen Tieren, zu Staaten und Ländern und imaginären Königreichen. Immer noch erinnert dich der Kühlergrill eines Autos an Zähne, und der Korkenzieher ist immer noch eine tanzende Ballerina. Ungeachtet deiner äußeren Erscheinung bist du immer noch, wer du warst, auch wenn du nicht mehr derselbe bist.

 

Beim Nachdenken darüber, worauf du mit alldem hinauswillst, bist du zu dem Entschluss gekommen, die Grenze von zwölf nicht zu überschreiten, denn nach dem zwölften Lebensjahr warst du kein Kind mehr, die Pubertät lauerte, erste Schimmer erwachsenen Denkens glommen in deinem Gehirn, du wurdest ein anderer Mensch als das kleine Wesen, dessen Leben ein immerwährendes Eintauchen ins Neue war, das täglich etwas zum ersten Mal tat, mehrmals täglich, und was dich jetzt beschäftigt, ist dieses langsame Fortschreiten von ahnungslos zu nicht mehr ganz so ahnungslos. Wer warst du, kleiner Mann? Wie bist du zu einem Menschen geworden, der denken konnte, und wohin hat dein Denken dich geführt, als du denken konntest? Grabe die alten Geschichten aus, scharre nach allem, was du finden kannst, dann halte die Scherben ans Licht und sieh sie dir an. Tu das. Versuch es.

 

Natürlich war die Welt eine Scheibe. Wenn jemand dir zu erklären versuchte, die Erde sei eine Kugel, ein Planet, der um die Sonne kreise und mit acht anderen Planeten ein sogenanntes Sonnensystem bilde, konntest du nicht verstehen, was der ältere Junge da sagte. Wenn die Erde rund wäre, müssten die Menschen jenseits des Äquators doch herunterfallen; undenkbar, dass man sein ganzes Leben auf dem Kopf stehend verbringen konnte. Der ältere Junge versuchte dir die Schwerkraft begreiflich zu machen, aber auch das ging über deine Fassungskraft. In deiner Vorstellung stürzten Millionen von Menschen kopfüber durch die Finsternis einer ewigen, alles verschlingenden Nacht. Wenn die Erde wirklich rund ist, sagtest du dir, dann wäre der einzig sichere Ort zum Leben der Nordpol.

 

Zweifellos beeinflusst von den Zeichentrickfilmen, die du so gern gesehen hast, dachtest du, aus dem Nordpol rage eine Stange heraus. So etwas wie diese gestreiften, rotierenden Säulen, die damals noch vor den Friseurläden standen.

 

Sterne hingegen waren ein unlösbares Rätsel. Keine Löcher im Himmel, keine Kerzen, keine Glühbirnen, nichts, was mit irgendetwas, das du kanntest, Ähnlichkeit hatte. Die ungeheure Masse der schwarzen Luft über dir, der unermessliche Raum zwischen dir und diesen winzigen Lichtpunkten war einfach nicht zu begreifen. Gütig und schön schwebten sie in der Nacht und waren nur da, weil sie da waren, einen anderen Grund gab es nicht. Von Gottes Hand geschaffen, ja, aber was um alles in der Welt hatte er sich dabei gedacht?

 

Deine damaligen Lebensverhältnisse: Amerika um die Jahrhundertmitte; Mutter und Vater; Dreiräder, Fahrräder und Handwagen; Radios und Schwarzweißfernseher; Autos mit Gangschaltung; zwei kleine Wohnungen, dann ein Haus in der Vorstadt; anfangs schwacher Gesundheitszustand, dann normale Jungenstärke; staatliche Schule; eine Familie aus der strebsamen Mittelschicht; ein Städtchen mit fünfzehntausend Einwohnern: Protestanten, Katholiken und Juden, fast alle weiß, nur sehr wenige Schwarze, aber keine Buddhisten, Hindus oder Moslems; eine kleine Schwester und acht Cousins und Kusinen; Comichefte; Rootie Kazootie und Pinky Lee; «I Saw Mommy Kissing Santa Claus»; Campbell-Suppe, Wonder Bread und Dosenerbsen; frisierte Autos, Zigaretten für dreiundzwanzig Cent die Packung; eine kleine Welt innerhalb einer großen Welt, damals für dich die ganze Welt, da die große Welt noch nicht sichtbar war.

 

Bewaffnet mit einer Mistgabel, rennt der wütende Farmer Gray quer durch ein Kornfeld Felix dem Kater nach. Beide können nicht sprechen, rasend schnelle Musik begleitet ihre Taten, und während die zwei sich den nächsten Kampf ihres niemals endenden Krieges liefern, bist du fest davon überzeugt, dass sie wirklich sind, dass diese grob gezeichneten Schwarzweißfiguren nicht weniger lebendig sind als du selbst. Sie kommen jeden Nachmittag in einer Fernsehsendung namens Junior Frolics, präsentiert von einem Fred Sales, der dir nur als Onkel Fred bekannt ist, der weißhaarige Hüter dieses Wunderlands, und weil du keine Ahnung hast, wie Zeichentrickfilme hergestellt werden, keinen Schimmer, wie man Gezeichnetes dazu bringt, sich zu bewegen, nimmst du an, es müsse eine Art Alternativuniversum geben, in dem Figuren wie Farmer Gray und Felix der Kater existieren können – nicht als Bleistiftstriche, die über den Bildschirm tanzen, sondern als dreidimensionale, echte Lebewesen, groß wie Erwachsene. Dass sie groß sind, verlangt die Logik, denn die Leute, die im Fernsehen zu sehen sind, sind in Wirklichkeit immer größer als ihre Abbilder auf dem Bildschirm, und die Logik verlangt auch, dass sie in ein Alternativuniversum gehören, da das Universum, in dem du selber lebst, nicht von Zeichentrickfiguren bevölkert ist, sosehr du dir das auch wünschen magst. Du bist fünf Jahre alt, als deine Mutter eines Tages verkündet, sie wolle mit dir und deinem Freund Billy das Studio in Newark besuchen, von wo aus Junior Frolics gesendet wird. Du wirst Onkel Fred persönlich kennenlernen, sagt sie, und bei der Sendung mitmachen. Das ist aufregend für dich, sehr aufregend, aber noch aufregender ist die Vorstellung, dass du nun endlich, nach monatelangem Kopfzerbrechen, Farmer Gray und Felix den Kater mit eigenen Augen sehen wirst. Endlich wirst du erfahren, wie sie wirklich aussehen. Schon malst du dir eine riesige Bühne aus, auf der das Geschehen sich entfaltet, eine Bühne, so groß wie ein Footballfeld, auf der der griesgrämige alte Farmer und die schlaue schwarze Katze einander bei einem ihrer epischen Scharmützel hin und her jagen. Am ausgemachten Tag jedoch spielt sich nichts so ab, wie du es dir vorgestellt hast. Das Studio ist klein, Onkel Fred hat Schminke im Gesicht, man gibt dir eine Tüte Pfefferminzbonbons, damit du während der Sendung was zu knabbern hast, und du nimmst mit Billy und den anderen Kindern auf der Tribüne Platz. Du schaust auf das hinab, was die Bühne sein sollte, was aber tatsächlich nur der Betonboden des Studios ist, und erblickst dort einen Fernsehapparat. Nicht einmal einen besonderen Apparat, sondern einen, der weder größer noch kleiner ist als der bei euch zu Hause. Von Farmer und Kater weit und breit keine Spur. Onkel Fred begrüßt die Zuschauer und sagt den ersten Zeichentrickfilm an. Und auf dem Bildschirm erscheinen Farmer Gray und Felix der Kater und springen nicht anders herum,...

Erscheint lt. Verlag 26.9.2014
Übersetzer Werner Schmitz
Zusatzinfo Zahlr. s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerika • amerikanische Erzählungen • Amerikanische Literatur • autobiografische Literatur • Autobiographie • Berühmte Autobiographien • Biografien Schriftsteller • Emotionale Entwicklung • Erinnerungsbücher • Erwachsenwerden • Identitätssuche • Jugend • Jugenderinnerung • Kindheit • Kindheitserfahrungen • Kindheitserinnerungen • lebensreisen • Memoiren • Memoiren berühmter Persönlichkeiten • New Jersey • New York • Paris • report from the interior • Selbstfindung • Siri Hustvedt • USA • US-Literatur • Winterjournal
ISBN-10 3-644-02841-9 / 3644028419
ISBN-13 978-3-644-02841-8 / 9783644028418
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