Jesabel (eBook)

Roman
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2014 | 1. Auflage
224 Seiten
Knaus (Verlag)
978-3-641-14729-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jesabel -  Irène Némirovsky
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Vom Verlangen nach immerwährender Schönheit
Paris, in den 30er Jahren: Gladys Eysenach ist eine schöne Frau und seit ihrer Kindheit von einem einzigen Wunsch besessen: ihr Leben lang von allen Männern bewundert und begehrt zu werden. Für die ewige Jugend und Schönheit ist ihr kein Preis zu hoch. Nicht einmal das Leben ihrer Tochter.

Irène Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines reichen russischen Bankiers in Kiew geboren und kam während der Oktoberrevolution nach Paris. Dort studierte sie französische Literatur an der Sorbonne. Irène heiratete den weißrussischen Bankier Michel Epstein, bekam zwei Töchter und veröffentlichte ihren Roman 'David Golder', der sie schlagartig zum Star der Pariser Literaturszene machte. Viele weitere Veröffentlichungen folgten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Deutschen auf Paris zumarschierten, floh sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. Während der deutschen Besetzung erhielt sie als Jüdin Veröffentlichungsverbot. In dieser Zeit arbeitete sie an einem großen Roman über die Okkupation. Am 13. Juli 1942 wurde Irène Némirovsky verhaftet und starb wenige Wochen später in Auschwitz. 2005 entzifferte Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, das als 'Suite française' veröffentlicht und zur literarischen Sensation wurde.

Eine Frau begab sich zur Anklagebank. Sie war noch schön, trotz ihrer Blässe und ihrer verstörten, erschöpften Miene; nur die fein geformten Lider waren welk vor Tränen, und der Mund war eingefallen, aber sie wirkte jung. Ihr Haar verbarg sich unter dem schwarzen Hut.

Mechanisch griff sie mit beiden Händen an ihren Hals, wo sie vermutlich die Perlen des langen Colliers suchte, das ihn einst geschmückt hatte, doch ihr Hals war nackt. Die Hände zögerten; langsam und traurig krümmte sie ihre Finger, und die atemlose Menschenmenge, die alle ihre Bewegungen verfolgte, ließ ein dumpfes Murmeln vernehmen.

«Die Herren Geschworenen wollen Ihr Gesicht sehen», sagte der Vorsitzende. «Nehmen Sie Ihren Hut ab.»

Sie nahm ihn ab, und wieder starrten alle Blicke auf ihre nackten, vollkommenen kleinen Hände. Ihre Zofe, die in der ersten Zeugenreihe saß, beugte sich unwillkürlich vor, als wollte sie ihr zu Hilfe kommen, dann wurde sie sich wieder der Gegenwart bewußt; verwirrt errötete sie.

Es war ein kalter und grauer Pariser Sommertag. Der Regen rann an den hohen Fenstern herab; die alten Täfelungen, die vergoldeten Kassetten an der Decke und die roten Roben der Richter wurden von einem fahlen, gewittrigen Licht beleuchtet. Die Angeklagte betrachtete die ihr gegenübersitzenden Geschworenen, dann den Saal, in dem sich in jeder Ecke Menschentrauben sammelten.

Der Vorsitzende fragte:

«Ihre Namen und Vornamen? … Wo wurden Sie geboren? … Ihr Alter?»

Keiner hörte das Murmeln, das den Lippen der Angeklagten entwich. Im Saal flüsterten Frauen:

«Sie hat geantwortet … Was hat sie gesagt? … Wo wurde sie geboren? … Ich habe es nicht gehört … Wie alt ist sie? … Man hört nichts!»

Ihr Haar war blond, blaß und duftig; ihre Kleidung schwarz. Eine Frau sagte leise: «Sie sieht sehr gut aus» und seufzte vor Behagen wie im Theater.

Das stehende Publikum konnte die Anklage nur schlecht hören. Die Mittagszeitungen, die auf der ersten Seite die Gesichtszüge der Angeklagten und die Schilderung des Verbrechens wiedergaben, gingen von Hand zu Hand.

Die Frau hieß Gladys Eysenach. Sie war angeklagt, ihren zwanzigjährigen Liebhaber, Bernard Martin, ermordet zu haben.

Der Vorsitzende begann mit dem Verhör:

«Wo sind Sie geboren?»

«In Santa-Paloma.»

«Das ist ein Dorf an der Grenze zwischen Brasilien und Uruguay», sagte der Vorsitzende zu den Geschworenen. «Wie ist Ihr Mädchenname?»

«Gladys Burnera.»

«Wir werden hier nicht über Ihre Vergangenheit sprechen … Ich meine, über Ihre Kindheit und Ihre frühe Jugend, da Sie sie mit Reisen in ferne Gegenden verbrachten, wo zum Teil gesellschaftliche Umwälzungen stattgefunden haben, so daß es nicht möglich war, die üblichen Nachforschungen anzustellen. Deshalb müssen wir, was diese ersten Lebensjahre betrifft, hauptsächlich auf Ihre eigenen Erklärungen zurückgreifen. Vor dem Untersuchungsrichter haben Sie erklärt, daß Sie die Tochter eines Reeders aus Montevideo sind und daß Sie, da Ihre Mutter, Sophie Burnera, Ihren Vater zwei Monate nach ihrer Heirat verlassen hat, fern von ihm geboren wurden und ihn nie gekannt haben. Ist das richtig?»

«Das ist richtig.»

«Ihre Kindheit haben Sie mit vielen Reisen verbracht. Und wie es in Ihrem Land üblich ist, haben Sie sehr früh geheiratet, fast noch als Kind; Ihren Ehemann, den Bankier Richard Eysenach, haben Sie 1912 verloren. Sie gehören jener umherschweifenden, kosmopolitischen Gesellschaftsklasse an, die keine Bindungen hat und nirgendwo zu Hause ist. Nach Ihren Angaben haben Sie sich seit dem Tod Ihres Gatten in Südamerika, Nordamerika, Polen, Italien, Spanien und anderen Ländern aufgehalten … Ungerechnet die zahlreichen Kreuzfahrten auf Ihrer Jacht, die Sie 1930 verkauft haben. Sie sind unermeßlich reich. Ihr Vermögen stammt einerseits von Ihrer Mutter, andererseits von Ihrem verstorbenen Ehemann. Vor dem Krieg haben Sie des öfteren in Frankreich gelebt, wo sie seit 1928 Ihren ständigen Wohnsitz haben. Von 1914 bis 1915 wohnten Sie in der Nähe von Antibes. Dieses Datum und dieser Ort muß traurige Erinnerungen in Ihnen wecken: Dort ist 1915 Ihre einzige Tochter gestorben. Nach diesem Unglück wurde Ihr Leben noch unsteter … Sie hatten zahlreiche Liebschaften, die sich im Klima der Nachkriegszeit, das solchen Abenteuern Vorschub leistete, rasch wieder auflösten. Schließlich lernten Sie 1930 bei gemeinsamen Freunden den Grafen Aldo Monti kennen, der einer alten und sehr angesehenen italienischen Familie entstammt. Er bat sie, ihn zu ehelichen. Die Heirat wurde beschlossen, nicht wahr?»

«Ja», sagte Gladys Eysenach leise.

«Ihre Verlobung war quasi offiziell. Plötzlich haben Sie sie rückgängig gemacht. Aus welchen Gründen? … Sie wollen nicht antworten? … Vermutlich wollten Sie weder auf Ihr freies, unbeständiges Leben noch auf die mit dieser Freiheit verbundenen Annehmlichkeiten verzichten. Ihr Verlobter wurde Ihr Liebhaber. Ist das richtig?»

«Das ist richtig.»

«Von 1930 bis Oktober 1934 ist uns keine andere Liebschaft bekannt. Sie sind dem Grafen Monti vier Jahre lang treu geblieben. Dann ist durch Zufall derjenige in Ihr Leben getreten, der später Ihr Opfer werden sollte. Es war ein junger Mann von zwanzig Jahren, Bernard Martin, von sehr bescheidener Herkunft, unehelicher Sohn eines ehemaligen Oberkellners. Dieser Umstand, der Ihren Stolz verletzte, war zweifellos der Grund, warum Sie lange Zeit, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, Ihre Beziehungen zu dem Opfer geleugnet haben. Bernard Martin, Student der Literaturwissenschaft an der Universität von Paris, wohnhaft in der Rue des Fossés-Saint-Jacques, zwanzig Jahre alt, hat es demnach verstanden, Sie zu verführen, Sie, eine Frau von Welt, eine sehr schöne, reiche, umschwärmte Frau. Antworten Sie … Sie sollten sich ihm mit einer wahrhaft sonderbaren, wahrhaft skandalösen Schnelligkeit hingeben. Sie sollten ihn verderben, ihm Geld geben und ihn schließlich töten. Und für dieses Verbrechen müssen Sie heute einstehen.»

Langsam preßte die Angeklagte ihre zitternden Hände zusammen; die Fingernägel drückten sich in die blasse Haut. Die farblosen Lippen öffneten sich mühsam, doch kein Wort, kein Ton kam über sie.

Der Vorsitzende fragte noch einmal:

«Sagen Sie den Herren Geschworenen, wie Sie ihm begegnet sind … Sie wollen nicht antworten?»

«Er ist mir eines Abends gefolgt», sagte sie schließlich mit leiser Stimme. «Es war im letzten Herbst. Ich … ich erinnere mich nicht an das Datum … Nein, ich erinnere mich nicht», wiederholte sie mehrmals verstört.

«Dem Untersuchungsrichter haben Sie das Datum des 12. Oktobers genannt.»

«Das ist möglich», murmelte sie, «ich erinnere mich nicht mehr …»

«Hat er Ihnen … Anträge gemacht? … So antworten Sie doch … Ich verstehe, daß es Ihnen peinlich ist. Sie sind ihm noch am selben Abend gefolgt.»

Sie stieß einen matten Schrei aus:

«Nein! Nein! Das ist falsch! … Hören Sie …»

Sie sagte ein paar erstickte Worte, die niemand verstand, und verstummte dann.

«Sprechen Sie», sagte der Vorsitzende.

Noch einmal wandte sich die Angeklagte den Geschworenen und der Menge zu, die sie gierig betrachtete. Sie machte eine müde, verzweifelte Handbewegung und seufzte schließlich:

«Ich habe nichts zu sagen …»

«Dann … beantworten Sie meine Fragen, Angeklagte. Sie haben sich geweigert, ihn an jenem Abend zu erhören, sagen Sie? … Am nächsten Tag, dem 13. Oktober, haben Sie ihn, wie die Untersuchung nachweisen konnte, in seiner Wohnung in der Rue des Fossés-Saint-Jacques aufgesucht. Ist das richtig?»

«Ja», sagte sie, und das Blut, das ihr, während sie antwortete, in die Wangen gestiegen war, floß langsam zurück; sie war leichenblaß und zitterte.

«Sie hatten also die Gewohnheit, junge Männer, die Sie auf der Straße ansprachen, auf diese Weise zu erhören? … Oder fanden Sie diesen besonders verführerisch? … Wollen Sie nicht antworten? … Sie haben den Schleier Ihres Privatlebens zerrissen. In diesem Schwurgerichtssaal, einem öffentlichen Ort, muß alles offengelegt werden.»

«Ja», sagte sie matt.

«Sie sind also zu ihm gegangen. Und dann? … Haben Sie ihn wiedergesehen?»

«Ja.»

«Wie oft?»

«Ich erinnere mich nicht.»

«Gefiel er Ihnen? Liebten Sie ihn?»

«Nein.»

«Warum haben Sie ihm dann nachgegeben? Aus Verderbtheit? … Aus Angst? … Fürchteten Sie eine Erpressung? … Als er tot war, wurde bei ihm nicht die geringste Spur eines Briefes von Ihnen gefunden. Haben Sie ihm oft geschrieben?»

«Nein.»

«Fürchteten Sie Indiskretionen? Hatten Sie Angst, Graf Monti könnte diese Sinnesverwirrung, dieses schändliche Abenteuer zu Ohren kommen? Ist es so? … Hat Bernard Martin Sie geliebt? Oder verfolgte er Sie aus Eigennutz? Sie wissen es nicht? … Kommen wir nun zum Geld. Um das Andenken Ihres Opfers nicht zu beschmutzen, haben Sie diesen Umstand nicht erwähnt, der nur durch Zufall während der Ermittlungen zutage kam. Wieviel Geld haben Sie Bernard Martin im Laufe Ihrer kurzen Beziehung gegeben? … Sie dauerte genau vom 13. Oktober 1934 bis zum 24. Dezember desselben Jahres. Der unglückliche Junge wurde in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 1934 ermordet. Wieviel Geld hat er in diesen zwei Monaten von Ihnen erhalten?»

«Ich habe ihm kein...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2014
Übersetzer Eva Moldenhauer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Jézabel
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1930er • 1935 • Aufmerksamkeit • eBooks • Frankreich • Frauen • Jugendwahn • Klassiker • Mord • Paris • Roman • Romane • Rückblick • Schönheitswahn • Sucht • Suite Française
ISBN-10 3-641-14729-8 / 3641147298
ISBN-13 978-3-641-14729-7 / 9783641147297
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