Die Mittellosen (eBook)

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2014 | 2. Auflage
240 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73914-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Mittellosen -  Szilárd Borbély
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Ein ungarisches Dorf, Ende der sechziger Jahre: Alle diejenigen sind noch da, die »damals« mitgemacht haben, aber auch der jüdische Ladenbesitzer Mózsi, der von der Zwangsarbeit ins Dorf und in seine ausgeplünderte Wohnung zurückgekehrt ist. Über seine ermordeten Töchter wird geschwiegen.
An diesem grausamen und mitleidslosen Ort wächst der junge Erzähler des Romans auf. Der Elfjährige muss schwere körperliche Arbeit verrichten, er friert und hungert. Seine Familie und er sind Außenseiter im Dorf. Von der Vergangenheit darf man nicht sprechen. Sind sie Juden? Aus Rumänien vertriebene orthodoxe Christen? Warum werden sie ausgegrenzt?
Szilárd Borbély schildert Kindheitsszenen aus einer erbarmungslosen Welt. In der Selbstbeobachtung des Außenseiters wächst dem Jungen ein unerhörter Scharfblick zu. Gebannt und atemlos folgt man seiner Erzählung, der es gelingt, scheinbar Unsagbares in Worte zu fassen.



<p>Szilárd Borbély, 1964 in Fehérgyarmat im nordöstlichsten Winkel Ungarns geboren, debütierte 1988 als Lyriker und veröffentlichte rund ein Dutzend Gedicht- und Prosabände. Er war Hochschullehrer in Debrecen und übersetzte Lyrik aus dem Deutschen und Englischen, u.a. von Monika Rinck, Robert Gernhardt und Durs Grünbein. Mit seinem Romandebüt <em>Die Mittellosen</em> hat er sich an die Spitze der ungarischen Gegenwartsliteratur geschrieben. Im Februar 2014 nahm er sich das Leben.</p>

Wir gehen und schweigen. Dreiundzwanzig Jahre trennen uns. Die Dreiundzwanzig kann man nicht teilen. Die Dreiundzwanzig ist nur durch sich selbst teilbar. Und durch eins. So ist die Einsamkeit zwischen uns. Man kann sie nicht in Teile zerlegen. Man schleppt sie als Ganzes mit sich. Wir bringen das Mittagessen. Wir laufen über die aufgeschüttete Erde. Feldrücken sagen wir dazu. Ogmands Feldrücken. Wir gehen immer hier entlang, wenn wir Holz aus dem Wald holen. Manchmal gehen wir auch durch die Szamoga-Senke, um den Rainweg nehmen zu können. Weil der nicht so schlammig ist. Wir sagen pfützig. Ein andermal nehmen wir den Pallóweg, durch den Grafenforst. Meine Mutter trägt ein Kopftuch. Wir sagen Flor. Frauen müssen immer eine Kopfbedeckung tragen. Die Alten knoten es unter dem Kinn zusammen. Es muss schwarz sein. Das Kopftuch meiner Mutter ist bunt. Sie bindet es hinten zu, unter ihrem Dutt. Im Sommer trägt sie ein leichtes dreieckiges Kopftuch. Mit blauen Punkten auf weißem Grund. Vater hat es ihr geschenkt, letztes Jahr auf dem Markt in Kölcse. Ihr Haar ist kastanienbraun. Rotkastanienbraun. Nicht alle Kastanien sind rot. Ich sammele sie immer im Herbst mit meiner Schwester. Es gibt nur noch einen Kastanienbaum im Dorf. Er steht dort, wo früher die Barkóczy-Meierei war. Die anderen wurden nach dem Krieg gefällt. In der ständig feuchten Erde hält es nur die Pappel aus. Und natürlich die Weide. Wir nennen sie Felbe. Im Frühling eine Pfeife daraus zu schnitzen, eine Felbpfeife, ist leicht. Wir dudeln dann herum, um unsere Mutter zu ärgern. Und die Hunde und die Nachbarn.

Im Herbst büchsen wir immer aus, zum Kastanienbaum hinter der Kepecwiese. Unten an den Gärten vorbei. Ende des Sommers fallen die fünffingrigen trockenen Blätter des riesigen Baums. Es ist, als lägen abgeschnittene Hände von Riesen im Laub. Ihre Blüte im Frühling ist eine weiße Kerze. Die grüne Schale ein Igel. Aus Streichhölzern machen wir für sie Beine. Wir bitten meine Mutter um die verbrauchten. Nur unsere Mutter darf die Streichhölzer anfassen, sie sind nicht für Kinder.

»Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht«, wiederholt sie ständig.

Denn wir sind die Herren. Heute hat das Volk das Sagen. Die Ausgebeuteten von gestern. Jetzt werden wir die Kulaken ausbeuten … Ob’s denen passt oder nicht! Und damit Punktum«, sagen die ehemaligen Tagelöhner.

»Die haben gut reden, die haben nicht mal einen Eisennagel mit ins Kollektiv gebracht«, sagt Großvater, der am meisten seinen Pferden nachtrauert. »Die nehmen sich nur.«

»Die leben auf Kosten anderer«, murmelt er angewidert.

»Nur verprassen, das können sie«, sagt er. »Alles verprassen. Vermehren, das können sie nicht. Alles geht den Bach runter.«

Die Bauern trauerten am meisten ihren Pferden nach. Mehr als dem Boden.

Statt ihrer quälte man die Pferde in der Genossenschaft. Man schindete sie zu Tode.

»Sie sind umgefallen. Verendet vor der Zeit. Und was hat’s gebracht?«, sagte mein Großvater immer.

Die neuen Herren waren ungeduldig und aggressiv. Sie redeten jeden mit Genosse an. Sie hatten ein neues Grußwort erfunden.

»Schon ihre Väter waren zu nichts nutze. Auch die lauerten nur darauf, was sie kriegen konnten«, knurrt er.

»Vorwärts!«, sagen die Genossen statt Guten Tag. Und sie reden ständig von Fortschritt.

»Man muss mit der Zeit gehen, Genossen, fortschrittlich sein! Wir produzieren, was uns gefällt. Wenn russischen Löwenzahn, dann eben russischen Löwenzahn. Wenn Reisbrei, dann Reisbrei. Was die Partei will, das geschieht. Was Genosse Stalin und Genosse Rákosi1 sagen, das ist heilig. Die Natur, Genossen, gehört bezwungen«, wiederholten die Brigadeführer bei den morgendlichen Anweisungen vor den fröstelnden Menschen ihre Parolen. Zwischendurch kippten sie ein oder zwei Schnäpse.

»Einen feuchten Dreck bin ich dein Genosse«, murrt dann mein Großvater in seinen Schnurrbart, damit es keiner hört. Oder damit man es gerade noch hört. Und wenigstens weiß.

»Na, na, halten Sie Ihr Mundwerk im Zaum«, murren die neuen Herren. Doch auch sie wollen keine Scherereien. Davon hat es genug gegeben. Die Kulaken haben sie bereits aus den Lagern entlassen. Die meisten sind dann fortgezogen. Sie hielten es im Dorf nicht länger aus. Leid tat es niemandem, man musste ihnen nicht länger in die Augen sehen.

Die Zierbäume wurden gefällt, die Gebäude des Meierhofs abgerissen. Dort, wo einst die Kastanienallee war, wurde das Haus der Partei errichtet. Von dem Gutshof spricht keiner mehr. Es herrscht tiefes Schweigen.

»Die Bauern verstehen sich aufs Schweigen«, sagt meine Mutter immer.

Über die Vergangenheit darf man nicht reden. Die alten Zeiten, wie es heißt. Worüber wir schweigen, das existiert nicht. Macht endlich Schluss mit dem Gewesenen …, singen sie unter der Leitung des Kantors, wie auf Beerdigungen.

Am Tag trägt meine Mutter die Haare zu einem Dutt gebunden. Wenn sie ihn löst, wird es Nacht. Ich kämme ihr die Haare. Ich mag es, sie zu kämmen. Die glänzenden Strähnen gleiten durch die breiten Ritzen im Hornkamm. Sie schimmern wie die Nacht. Der Himmel ist voller Sterne, und ihre Haare riechen gut. Sie riechen nach Gras. Nach Brot. Nach Milch. Der Hornkamm ekelt mich. Er erinnert mich an geschlachtete Tiere. Zwischen den Zinken klebt immer schwarzer Schmutz. Fettige Schuppen und Staub, das klebt zusammen. Die Frauen binden die Haare unter dem Tuch zu einem Knoten. Sie stecken es mit einer Hornklammer zusammen. Tagsüber verbirgt auch meine Mutter ihr Haar. Meine Schwester noch nicht. Samstags waschen wir Haare. Am Abend stellen wir den Waschtrog auf den Fußboden in der Küche. Auf der Kochplatte machen wir das Wasser heiß, und dann baden wir einer nach dem anderen. Zuerst meine Schwester, dann ich und zuletzt meine Mutter. Die Haare waschen wir mit Ölshampoo. Mit dem Litertopf spülen wir es aus. So riechen wir alle gleich.

Wenn ich durch die Tür trete, bemerke ich es sofort. Bei anderen riecht es anders. Jetzt gehen wir in den Wald, um Reisig zu holen. Meine Mutter trägt ein dunkles Kopftuch. Ein dickes Wolltuch. Das dicke graue Tuch. Jetzt hat sie es auch unterm Kinn festgebunden wie die Alten. Damit es die Ohren wärmt. Denn es ist noch kalt. Ich friere immer, ich halte meine Mutter an der Hand. Ihre Hand ist warm, meine eiskalt. Wenn sie etwas schleppt, stecke ich meine Hände in die Taschen. Sie schleppt immer etwas. Meine Finger wärme ich dann in meinen Taschen. Meine Fingernägel frieren. Ich verstehe nicht, wie Nägel frieren können. Darüber denke ich nach, während ich mit meiner Mutter Schritt zu halten versuche. Im Sommer nach der Ernte gehen wir immer Ähren sammeln. Ich denke daran, wie schön es wäre, wenn schon Sommer wäre. Die meisten Ähren findet man am Rande des Stoppelfeldes. Wenigstens ist es dann warm. Aber das mag ich auch nicht.

»Euch ist nichts gut genug. Würde man euch mit einer Nadel in den Hintern stechen, fändet ihr das auch nicht gut«, sagt meine Mutter. Und lacht. Als hätte sie etwas Witziges gesagt. Es war nicht witzig.

Wir laufen auf dem Gehweg, und ich schlottere. Ich schlottere ständig. Meine Hände frieren, und meine Zehen in den Schuhen. In den Maschen des Drahtzauns zeichnet der Raureif die Spinnennetze nach. Jetzt sind die wirren Linien gut zu sehen. Ich spiele und stoße die Spitze meines Zeigefingers hinein, und sie verschwinden wie durch einen Zauber. Es genügt, einen Faden zu zerreißen, und das Ganze zerfällt. Die Fäden reißen, die an Kristallzucker erinnernden Körnchen des Reifs rieseln zu Boden. Weil sie den Draht schwirren hören, kommen manchmal auch die Hunde angelaufen. Wenn meine Mutter mich lässt, ziehe ich einen Stock oder eine Rute am Zaun entlang. Dann verlieren die meisten die Lust am Kläffen. Manche Hunde folgen uns auf der anderen Seite des Zauns, bis wir ihr Revier hinter uns lassen. Das sind die nervösen Hunde. Sie blecken die Zähne. Zeigen, wie schneeweiß die sind. Beben vor Wut, rühren sich nicht von der Stelle.

»Reiz sie nicht«, sagt meine Mutter.

»Ich reize sie nicht«, antworte ich und ziehe den Kopf ein. Beobachte aus den Augenwinkeln ihre Hand. Ich stehe links von ihr. Mit der Linken schlägt sie normalerweise nicht zu. Ich atme auf.

»Lüg nicht«, sagt sie.

»Ich schlage nur die Spinnweben weg«, sage ich. Meine Mutter sagt nichts, reißt mich nur jäh an sich. Und beschleunigt ihre Schritte.

»Du Schuft«, sagt sie. Wenn sie Schuft sagt, ist sie nicht böse auf mich.

Meine Schwester ist die Eins. Ich bin die Zwei. Das ist meine Zahl, die Zwei. Meine Schwester ist die Große. Sie ist das Mädchen. Ich bin der Junge. Mein Bruder ist die Drei. Er ist der Kleine. So nennt man uns.

»Schaukelt den Kleinen«, sagt meine Mutter. Das heißt, wir sollen ihn in den Schlaf wiegen. Ich zähle das Wippen der Wiege. Eins, zwei, drei. Das sind die ersten Zahlen, die ich gelernt habe. Bis zehn kann ich schon lange zählen. Ich habe es an den Eiern geübt. Mehr als zehn Legehennen haben wir normalerweise nicht.

Meine Mutter lässt mich immer die Eier zählen, wie viele die Hühner am Tag gelegt haben. Morgens tastet sie die Hühner ab. Sie wirft sie einzeln aus dem Hühnerstall. Mit der linken Hand drückt sie die Flügel zusammen und steckt den rechten Zeigefinger in den Hühnerarsch. Da wartet schon das Ei, man kann es mit dem Finger spüren. Sie zählt, wie viele Hühner an dem Tag legen werden, und ich muss die...

Erscheint lt. Verlag 6.10.2014
Übersetzer Heike Flemming, Laszlo Kornitzer
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Nincstelenek
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Armut • Außenseiter • Autobiografie • Deutsche Demokratische Republik • Erzählungen • Juden • Kindheit • Nachkriegszeit • ORF-Bestenliste • Romane • Sozialismus • ST 4664 • ST4664 • suhrkamp taschenbuch 4664 • Ungarn
ISBN-10 3-518-73914-X / 351873914X
ISBN-13 978-3-518-73914-3 / 9783518739143
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