Der Zug der Waisen (eBook)

Roman
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2014 | 1. Auflage
352 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-13039-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Zug der Waisen -  Christina Baker Kline
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Ein bewegender Roman über ein vergessenes Kapitel der amerikanischen Geschichte
New York, 1929: Mit neun Jahren verliert Vivian Daly, Tochter irischer Einwanderer, bei einem Wohnungsbrand ihre gesamte Familie. Gemeinsam mit anderen Waisen wird sie kurzerhand in einen Zug verfrachtet und in den Mittleren Westen geschickt, wo die Kinder auf dem Land ein neues Zuhause finden sollen. Doch es ist eine Reise ins Ungewisse, denn nur die wenigsten von ihnen erwartet ein liebevolles Heim. Und auch Vivian stehen schwere Bewährungsproben bevor ... Erst viele Jahrzehnte später eröffnet sich für die inzwischen Einundneunzigjährige in der Begegnung mit der rebellischen Molly die Möglichkeit, das Schweigen über ihr Schicksal zu brechen.

Christina Baker Kline wuchs in England und in den Vereinigten Staaten auf. Sie hat Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet und sich als Buchautorin und Herausgeberin von Anthologien einen Namen gemacht. Ihr Roman 'Der Zug der Waisen' war in den USA ein großer Erfolg und hielt sich monatelang an der Spitze der New-York-Times-Bestsellerliste. Mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen lebt die Autorin in Montclair, New Jersey.

Spruce Harbor, Maine, 2011

Durch die Wand ihres Zimmers kann Molly hören, wie ihre Pflegeeltern nebenan im Wohnzimmer über sie sprechen. »So war das nicht ausgemacht«, sagt Dina. »Wäre mir klar gewesen, dass sie so viele Probleme hat, hätte ich niemals zugestimmt.«

»Sicher.« Ralphs Stimme klingt matt. Molly weiß, dass es seine Idee war, ein Kind in Pflege zu nehmen. Vor langer Zeit, als er ein »schwieriger Jugendlicher« war, wie er es einmal ohne weitere Erklärung genannt hat, meldete ein Sozialarbeiter seiner Schule ihn für das Big-Brothers-Mentorenprogramm an. Er hatte immer das Gefühl, dass sein Mentor, sein großer Bruder, ihn auf Kurs hielt. Doch Dina ist Molly gegenüber von Anfang an misstrauisch gewesen. Dass die beiden vor Molly einen Jungen aufgenommen hatten, der versuchte, die Grundschule in Brand zu setzen, machte die Sache auch nicht besser.

»Ich habe genug Stress bei der Arbeit«, sagt Dina, und ihre Stimme wird lauter, »ich brauche diesen Scheiß nicht auch noch zu Hause.«

Dina arbeitet als Einsatzkoordinatorin beim Polizeirevier von Spruce Harbor, und soweit Molly das beurteilen kann, hält sich der Stress dort in Grenzen – ein paar betrunkene Autofahrer, gelegentliche Schlägereien, Bagatelldiebstähle, Unfälle. Für eine Einsatzkoordinatorin ist Spruce Harbor vermutlich der am wenigsten aufreibende Arbeitsort, den man sich vorstellen kann. Aber Dina ist neurotisch veranlagt. Die nichtigsten Kleinigkeiten gehen ihr auf die Nerven. Sie scheint immer zu erwarten, dass alles gut geht, und wenn es das einmal nicht tut – was natürlich ziemlich oft vorkommt –, ist sie überrascht und gekränkt.

Bei Molly ist das Gegenteil der Fall. In ihrem siebzehnjährigen Leben ist so vieles schiefgelaufen, dass sie es nicht mehr anders erwartet. Wenn aber einmal etwas gutläuft, weiß sie nicht, was sie davon halten soll.

Genau das ist ihr mit Jack passiert. Als Molly letztes Jahr auf die Mount Desert Island High School wechselte, schienen die meisten Schüler der zehnten Klasse sich zu bemühen, ihr aus dem Weg zu gehen. Jeder hatte seine Freunde, seine Clique, und sie passte nirgendwo dazu. Natürlich hat sie es ihnen auch nicht gerade leicht gemacht; ihrer Erfahrung nach ist »tough und unnahbar« immer besser als »emotional und verletzlich«, und sie trägt ihr Goth-Image wie eine schützende Rüstung. Jack war der Einzige, der versuchte, zu ihr durchzudringen.

Es war Mitte Oktober im Sozialkundeunterricht. Als sie sich für ein Projekt zu Teams zusammenfinden sollten, blieb Molly, wie gewöhnlich, übrig. Jack fragte sie, ob sie sich seiner Gruppe anschließen wolle. Seine Partnerin, Jody, war davon sichtlich wenig begeistert. Während der gesamten Unterrichtsstunde war Molly auf der Hut. Warum war er so freundlich? Was wollte er von ihr? War er einer von denen, die Spaß daran haben, mit Außenseiterinnen Spielchen zu spielen? Was auch immer seine Beweggründe waren, bei ihr würde er nicht weit kommen. Sie stand mit verschränkten Armen und hochgezogenen Schultern da, das dunkle, borstige Haar fiel ihr über die Augen. Sie zuckte nur die Achseln und brummte unverständlich, wenn Jack sie etwas fragte, obwohl sie der Diskussion die ganze Zeit folgte und auch ihren Arbeitsanteil leistete. »Dieses Mädchen ist total seltsam«, hörte sie Jody murmeln, als sie nach dem Läuten den Klassenraum verließen. »Die ist ja richtig unheimlich.« Als Molly sich umdrehte und Jacks Blick begegnete, überraschte er sie mit einem Lächeln. »Ich finde sie irgendwie toll«, sagte er und sah ihr in die Augen. Zum ersten Mal, seit sie auf dieser Schule war, konnte sie nicht anders: Sie lächelte zurück.

Während der folgenden Monate schnappte Molly einige Bruchstücke von Jacks Geschichte auf. Sein Vater war ein Gastarbeiter aus der Dominikanischen Republik, den seine Mutter beim Blaubeerensammeln in Cherryfield kennengelernt hatte. Als sie schwanger wurde, kehrte er zurück in seinen Inselstaat, wo er mit einer Einheimischen zusammenzog und sie vergaß. Jacks Mutter, die nie geheiratet hat, arbeitet für eine reiche alte Dame, die in einer Villa an der Küste lebt. Nach allen gesellschaftlichen Regeln müsste Jack auch ein Außenseiter sein, aber das ist er nicht. Es gibt ein paar wichtige Dinge, die ihm zugutekommen: seine geschickten Pässe auf dem Fußballfeld, ein umwerfendes Lächeln, große, braune Kuhaugen und unverschämt lange Wimpern. Und obwohl er sich selbst nicht so ernst nimmt, ist Molly sicher, dass er um einiges klüger ist, als er zugibt, vielleicht sogar klüger, als ihm selbst klar ist.

Jacks sportliche Leistungen auf dem Fußballfeld sind Molly völlig gleichgültig, aber Klugheit respektiert sie. (Die Kuhaugen sind ein zusätzlicher Pluspunkt.) Ihr eigener Wissensdurst ist eins der Dinge, die sie immer vor dem Durchdrehen bewahrt haben. Goth zu sein befreit sie von allen konventionellen Erwartungen, und sie hat festgestellt, dass es ihr die Freiheit verschafft, absonderlich zu sein, sogar auf mehrere Arten zugleich. Sie liest ununterbrochen – auf den Schulfluren, in der Cafeteria –, meistens Romane mit verunsicherten Protagonisten: Die Selbstmord-Schwestern, Der Fänger im Roggen, Die Glasglocke. Sie schreibt Wörter in ihr Notizbuch, weil sie ihren Klang mag: Xanthippe, verzagt, Talisman, Muhme, enervierend, kriecherisch

Als Neuankömmling hat Molly die Distanz, die ihr Image ihr verschafft hat, gefallen, sie mochte die Skepsis und das Misstrauen, die sie in den Augen ihrer Mitschüler lesen konnte. Aber auch wenn sie es ungern zugibt, fühlt sie sich in letzter Zeit von diesem Image eher eingeengt. Jeden Morgen dauert es Ewigkeiten, bis sie ihren Look richtig hinbekommt, und die Rituale, die früher voller Bedeutung für sie waren – das Haar pechschwarz zu färben mit violetten oder weißen Strähnen, die Augen mit Kajalstift schwarz zu umranden, ein Make-up aufzutragen, das um einige Nuancen heller ausfällt als ihre natürliche Hautfarbe, sich nacheinander in verschiedene Einzelteile unbequemer Kleidung zu zwängen –, das alles lässt sie jetzt ungeduldig werden. Sie kommt sich vor wie ein Zirkusclown, der eines Morgens aufwacht und plötzlich seine rote Clownsnase nicht mehr aufsetzen will. Die meisten Menschen müssen nicht so viel Aufwand treiben, um ihrer Rolle treu zu bleiben. Warum sie? Sie stellt sich vor, dass sie sich an ihrem nächsten Wohnort – denn es gibt immer einen nächsten Wohnort, eine neue Pflegefamilie, eine neue Schule – ein anderes Image zulegen wird, eins, das einfacher zu pflegen ist. Grunge? Sexbiene?

Die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu eher früher als später kommen wird, wächst mit jeder Minute. Dina will Molly schon seit einiger Zeit loswerden, und jetzt hat sie einen guten Vorwand. Ralph hat seine Glaubwürdigkeit für Mollys Verhalten riskiert; er hat sich sehr bemüht, Dina davon zu überzeugen, dass sich hinter der grimmigen Fassade aus pechschwarzem Haar und hellem Make-up ein unschuldiges Kind verbirgt. Nun, mit Ralphs Glaubwürdigkeit ist es jetzt vorbei.

Molly begibt sich vor ihrem Bett auf alle viere, hebt den rüschengesäumten Überwurf leicht an und zieht die beiden bunten Reisetaschen hervor, die Ralph im Ausverkauf beim L. L.Bean Outlet in Ellsworth für sie erstanden hat (die rote trägt den Schriftzug »Braden«, auf der mit dem orangefarbenen Hawaii-Muster steht »Ashley« – ob die Taschen wegen ihrer Farben, ihres Stils oder dieser idiotischen weißen Aufschriften von den Kunden verschmäht worden sind, weiß Molly nicht). Als sie die oberste Schublade ihrer Kommode aufzieht, hört sie ein rhythmisches Trommeln unter der Bettdecke, das sich gleich darauf als eine scheppernde Version von Daddy Yankees Impacto entpuppt. »So weißt du immer, dass ich es bin, und gehst an dein verdammtes Telefon«, hat Jack erklärt, als er ihr den Klingelton besorgt hat.

»Hola, mi amigo«, sagt sie, als sie das Handy endlich gefunden hat.

»Hey, was geht, chica

»Ach, du weißt schon. Dina ist im Moment nicht sehr glücklich.«

»Echt?«

»Ja. Es ist ziemlich schlimm.«

»Wie schlimm?«

»Tja, ich glaube, ich bin hier raus.« Sie spürt einen Kloß im Hals. Das überrascht sie, schließlich hat sie schon so viele ganz ähnliche Situationen erlebt.

»Nee«, sagt er. »Das glaube ich nicht.«

»Doch«, erwidert sie, während sie ein Bündel Socken und Unterwäsche in die Braden-Tasche wirft. »Ich kann hören, wie sie nebenan darüber sprechen.«

»Aber du musst diese Sozialstunden ableisten.«

»Das wird nicht passieren.« Sie nimmt ihr Amulett, das mit der Halskette in einem verworrenen Knäuel auf der Kommode liegt, und versucht die Knoten zu lösen, indem sie die Goldkette zwischen ihren Fingern reibt. »Dina sagt, dass niemand mich nehmen wird. Ich bin nicht vertrauenswürdig.« Das Knäuel lockert sich unter ihrem Daumen, und sie zieht die beiden Enden auseinander. »Ist schon okay. Ich habe gehört, das Jugendgefängnis ist nicht so schlimm. Und es ist ja auch nur für ein paar Monate.«

»Aber – du hast dieses Buch nicht gestohlen.«

Sie klemmt das Handy zwischen Ohr und Schulter und legt sich die Halskette um, nestelt am Verschluss und blickt dabei in den Spiegel über der Kommode. Schwarze Schminke ist unter ihren Augen verlaufen, sodass sie aussieht wie ein Football-Spieler.

»Stimmt’s, Molly?«

Die Sache ist – sie hat es gestohlen. Oder es zumindest versucht. Es ist ihr Lieblingsroman, Jane Eyre, und sie wollte ihn haben, wollte das Buch besitzen. Sherman’s Bookstore in...

Erscheint lt. Verlag 10.11.2014
Übersetzer Anne Fröhlich
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Orphan Train
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1929 • Amerika • Amerika, Waisenkinder, Züge, historisch, 1929, New York, New-York-Times-Bestseller • eBooks • historisch • New York • New-York-Times-Bestseller • Roman • Romane • Waisenkinder • Züge
ISBN-10 3-641-13039-5 / 3641130395
ISBN-13 978-3-641-13039-8 / 9783641130398
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