Schlaflos (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
496 Seiten
mareverlag
978-3-86648-303-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schlaflos -  Sarah Moss
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Eine karge Insel im Westen Schottlands, ständige Stromausfälle und eine unsichere Telefonverbindung. Ein Zweijähriger, der die Nächte zum Tag macht, und ein Siebenjähriger, der die Tage damit verbringt, sich die originellsten Versionen des Weltuntergangs auszumalen. Dazu ein Ehemann, der einer in den Klippen heimischen Papageientaucherkolonie mehr Zeit widmet als seiner Familie: Unter diesen nicht gerade idealen Bedingungen versucht die Historikerin Anna Bennett, eine wissenschaftliche Arbeit zum Thema Kindheit im 18. Jahrhundert zu schreiben. Aber wie soll sie auch nur eine Zeile zu Papier bringen, wenn sie allein und völlig übernächtigt zwei unternehmungslustige Kleinkinder in einer felsigen Einöde beschäftigen muss? Als zwei rätselhafte Funde im Garten und auf dem Dachboden des sich seit Generationen im Familienbesitz befindlichen Wohnhauses zu allem Überfluss Einblicke in die düstere Vergangenheit der Insel gewähren, sieht Anna endgültig ihre Felle davonschwimmen. Doch dann verbindet sich ihr chaotischer Alltag auf unerwartete Weise mit ihrem Forschungsgegenstand und der Inselhistorie ... Gleichzeitig gute Mutter und Wissenschaftlerin zu sein, noch dazu auf einer abgelegenen, windigen Nordseeinsel - keine leichte Aufgabe. Sarah Moss schildert das Dilemma ihrer Heldin mit so viel Selbstironie, Komik und Intelligenz und das Geheimnis der Insel mit so großer Spannung, dass eines sicher ist: 'Schlaflos' hält wach.

Sarah Moss, geboren in Schottland, studierte und promovierte an der Oxford University. Nach Stationen am University of Exeter's Cornwall Campus und an der Universität Island lehrt sie heute an der University of Warwick.

Sarah Moss, geboren in Schottland, studierte und promovierte an der Oxford University. Nach Stationen am University of Exeter's Cornwall Campus und an der Universität Island lehrt sie heute an der University of Warwick.

Das Realitätsprinzip


Die Annahme, daß der Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip eine Vorbedingung für die Sozialisierung des Individuums ist, behält ihre Richtigkeit. Sie ist nur nicht umkehrbar: der Fortschritt zum Realitätsprinzip allein gibt keine Sicherheit, daß das Individuum den sozialen Anforderungen nachkommen wird.

Anna Freud, Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung

Die Singschwäne sind nah am Ufer, wie helle Scherenschnitte treiben sie vor den in der Dämmerung verschwimmenden Wellen dahin. Nachts raunen sie einander Oboenklänge zu, Holzbläser, die sich gegenseitig beruhigen. Gewöhnliche Schwäne, die Schwäne der Königin auf dem Fluss, an dem wir zu Hause Enten füttern, haben Gesichter, die aussehen wie von irgendeiner mittelalterlichen Krankheit gezeichnet, und sie schlafen auf einem Bein stehend, die Köpfe unter den Flügeln, wie kinderlose Passagiere auf Langstreckenflügen, die es unter Schlafbrillen aus Nylon Nacht werden lassen. Die Schwäne hier scheinen nachts wach zu bleiben, sie segeln durch das schwächer werdende Licht wie Schiffe auf dem Weg in ferne Länder, und sie haben Gesichter, so gleichmäßig und neutral wie das Corps de Ballet, Gesichter, die weder Trauer noch Schmerz ausdrücken. Vielleicht ist das ein Vorzug bei Gattungen, die sich Partner fürs Leben suchen.

Ich sehe mich nach dem Haus um. Die Fassade, dunkel wie die Klippenwand am anderen Ende der Insel, weist das Abendrot ab, das noch auf dem Meer leuchtet, von dort, wo Amerika sich einem neuen Tag zuwendet, während wir uns von der Sonne abwenden. Einer der Schwäne reckt sich dem Himmel entgegen und schreit in plötzlicher Erregung auf, seine Flügel dreschen auf das Wasser ein, als wäre ihm gerade wieder eingefallen, dass ein Freund gestorben ist. Ich habe einmal eine Gans sterben sehen, eine Kanadagans, die den ganzen Weg aus der Arktis geflogen war, um ihr Leben auf dem Seitenstreifen der M 40 zu beenden, und obwohl ein Flügel noch wie zu Musik schlug, während der andere auf dem Rüttelstreifen lag, wirkte ihr Gesicht ungerührt. Ich stand auf der Brücke, sah hinaus und schuckelte den Kinderwagen, in dem das Baby nur so lange schlafen würde, wie wir uns bewegten, bis irgendein Lastwagenfahrer aus Mitleid oder Unaufmerksamkeit ein Gestöber aus Federn und rotem Matsch auf der Straße hinterließ. Unsere Schwäne sind hier vor so etwas sicher. Einen Sommer lang. Wie wir werden sie im Herbst nach Süden ziehen, aber erst einmal gibt es keine Autos, keine Straßen. Auch keine Brücken. Am dunkler werdenden Himmel über dem Hügel erscheinen die Sterne. Ich erschaudere; es ist nicht besonders kalt, aber Zeit hineinzugehen.

Der Strom ging immer noch nicht wieder, was zu dieser Jahreszeit nicht allzu schlimm ist, solange wir unsere Laptops aufgeladen haben. Giles hatte eine Kerze angezündet.

»Guck! Hier ist es.« Er gab mir einen Urlaubskatalog, umgeschlagen, sodass ein briefmarkengroßes Bild des Blackhouse unten am Strand zu sehen war, aufgenommen im letzten Sommer, ehe die Bauarbeiten begonnen hatten. Geplant ist, es als Ferienhaus zu vermieten und mit diesen Einnahmen irgendwann die Renovierungskosten zu decken. Realistisch ist, dass die mit Argon gefüllten Dreifachfenster, das Grauwassersystem (das Klo wird mit dem Wasser gespült, mit dem vorher die Kleidung gewaschen wurde) und die aufgearbeiteten Möbel (aufgearbeitet von einem Betrieb in Bath und zu einem Preis über Land und Meer transportiert, der Giles dann doch überraschte) vielleicht zu Lebzeiten unserer Enkel abbezahlt werden – falls wir Enkel bekommen –, allerdings nur, wenn Giles aufhört, unseren Freunden und, Gott behüte, seiner Familie zu erzählen, dass sie umsonst dort wohnen können. Ich hielt den Katalog ins Licht.

Verbringen Sie ein oder zwei Wochen auf Ihrer eigenen Insel! Ein atemberaubend schön umgestaltetes traditionelles Blackhouse mit herrlichem Meerblick aus jedem Fenster, gelegen auf der verlassenen Insel Colsay. Das Haus, von einem preisgekrönten Architekten frisch restauriert, verfügt über Bodendielen mit Fußbodenheizung, eine Regen- und Nebeldusche und eine Küche, die mit regionalen Materialien von Hand gebaut wurde. Kein Fernseher, aber eine umsichtig zusammengestellte Büchersammlung und Mal- und Bastelsachen für Regentage. Es gibt auf der Insel weder Straßen noch Autos. Ihr Gastgeber wird Sie im Hafen von Colla abholen und Sie während Ihres Aufenthalts jederzeit dorthin bringen, wenn Sie einkaufen, Spaziergänge oder Ausflüge machen und das Kulturerbe und die Schätze der Gegend rund um Inversaigh genießen möchten. Colsay selbst hat eine vielfältige Vogelwelt zu bieten und historische Relikte, die erkundet werden wollen. Oder Sie genießen einfach die Stille und Schönheit dieses sehr besonderen Ortes.

»›Sehr besonders‹?« Ich legte den Katalog zu schnell auf den Tisch und die Kerze ging aus. »Und diese ganzen Adjektive? Giles, du hättest mich fragen sollen, ob ich das mache. Da ist sogar ein Ausrufezeichen drin, mein Gott. Stille können die Leute auch zu Hause haben, weißt du? In Bibliotheken.«

Ich vermisse die Stille von Bibliotheken. Nicht mal Singschwäne würden sich in meinen Lieblingsbibliotheken unterhalten.

»Ich konnte dich nicht fragen.« Giles versuchte die Kerze mit einem Teelicht wieder anzuzünden. Wie vorherzusehen war, tropfte Wachs auf seine Zeitung. »Das war das Wochenende, an dem die beiden Kotzeritis hatten.«

In jener Woche war Giles jeden Tag zur Arbeit gegangen, weil es »von ihm erwartet wurde«, und ich war zu Hause geblieben und hatte Erbrochenes aus dem Teppich geschrubbt. Ich werde, wie Giles nicht müde wird zu betonen, bezahlt, egal ob ich tatsächlich arbeite oder nicht. Das steht in meinem Vertrag. »Der Forschungsstipendiat sollte so vorankommen, wie es, gemessen an der im Vorfeld eingereichten Beschreibung des Forschungsprojektes, zu erwarten ist.« Davon abgesehen kann ich meine vertraglichen Verpflichtungen erfüllen, indem ich vierundzwanzigmal pro Jahr im College esse. Die meisten Stipendiaten (Damen eines gewissen Alters mit Leg-dich-nicht-mit-mir-an-Haltung) würden mich auf der Hauptstraße nicht erkennen, aber mich erkennen auf der Hauptstraße sowieso nicht viele Menschen, weil ich normalerweise einen Buggy vor mir herschiebe. Die Karre im Flur mag der Feind aller Hoffnungen sein, aber draußen ist sie die perfekte Tarnung für alle möglichen strafbaren Handlungen. Man könnte die Hauptstraße mit einem Maschinengewehr unter Beschuss nehmen und hinter dem Buggy mit nichts als High Heels an den Füßen und einem Hut auf dem Kopf davonspazieren, und niemand würde sich daran erinnern, einen gesehen zu haben.

»Wie auch immer«, sagte Giles. »Die Einsiedlerin hat die Stille genossen. Ich meine, ist das nicht der Sinn der Sache? Au.« An seinen Fingern lief Wachs hinunter.

»Ich nehme an, die Einsiedlerin war viel zu beschäftigt damit, etwas zu essen zu suchen und sich vor den Wikingern zu verstecken. Feuerzeug? Streichhölzer?«

Er zuckte mit den Schultern und wir sahen uns beide um, als könnten wir die Kinderbücher, die halb aufgegessenen Kekse und die Zeitungen erkennen, die aus jeder Öffnung des Hauses quollen und darauf warteten, weggeräumt zu werden.

»Ach, na ja. Jedenfalls können wir im Dunkeln nicht aufräumen.« Ich stieß mit dem Fuß gegen etwas Weiches, das entweder am Fußboden festklebte oder überraschend schwer war. »Ich hoffe, dir ist klar, dass du der Fährmann auf Abruf bist. Ich muss Die Saatzeit meiner Seele fertig machen. Und wer stellt diese Büchersammlung zusammen?«

Abgabetermin für »Wie gut war doch die Saatzeit meiner Seele«: Die Erfindung der Kindheit und das Aufkommen von Institutionen im England des späten achtzehnten Jahrhunderts war letzten Monat. Theoretisch sollte ich mit einem unter meinem Namen veröffentlichten Buch leichter vermittelbar sein. Praktisch gab es in der Geschichtswissenschaft keine Jobs, und wenn es sie gäbe, würden sie Leute bekommen, die in den letzten acht Jahren nicht die Hälfte ihrer Zeit damit verbracht hatten, Windeln zu wechseln, statt an der Bar des Konferenzraums Getränke zu bestellen. Giles fing an, das Wachs von der Zeitung zu pulen und zu Kügelchen zu formen.

»Nicht«, sagte ich. »Die isst Moth doch nur.«

Er ließ eins in das Teelicht fallen. »Besser als Vogeldreck.«

Ich stand auf. »Ich halte Vogeldreck auch nicht für geeignete Kindernahrung. Deshalb habe ich den Garten übrigens aufgegeben. Ich kann diese Scheißbäume nicht einpflanzen, ohne mal für ein, zwei Sekunden den Blick von ihm abzuwenden. Aber Vogeldreck ist immer noch besser als Fingerhut.«

Fingerhut enthält Digitalis, von dem einem kleinen Kind das Herz stehen bleibt, lange bevor man die Meerenge überquert hat und...

Erscheint lt. Verlag 4.7.2014
Übersetzer Nicole Seifert
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Familie • Frauenbild • Karriere • kind und karriere • Schottland
ISBN-10 3-86648-303-1 / 3866483031
ISBN-13 978-3-86648-303-3 / 9783866483033
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