Blauer Weg (eBook)

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2014 | 1. Auflage
592 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-14331-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Blauer Weg -  Hanns-Josef Ortheil
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Das literarische Tagebuch der Jahre 1989 bis 1995 in erweiterter Neuausgabe.
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Ende der DDR erscheint Hanns-Josef Ortheils literarisches Tagebuch aus jener Zeit in einer neuen, erweiterten Ausgabe. In hochgenauen Bildern, Skizzen und Erzählungen führt uns dieser intensive Zeitroman an der Seite eines Autors, der die rasanten Umbrüche sensibel und mit hellwachem Geist beobachtet, zurück in eine der spannendsten Perioden der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Ohne es zu ahnen und vorherzusehen, wird Hanns-Josef Ortheil in den Jahren 1989 bis 1995 vom mächtigen Strom der historischen Ereignisse erfasst und zu einem bedeutenden Zeugen der Zeit. Das beginnt während eines Aufenthaltes in Prag, wo die ostdeutschen Flüchtlinge gerade die westdeutsche Botschaft besetzen. Und es setzt sich fort in Reisen nach Sofia, Wien, Leipzig, durch ganz Deutschland und immer wieder nach Berlin, wo Ortheil in der Nacht der deutschen Wiedervereinigung im Berliner Hotel Kempinski allein mit Kanzler Kohl an einer Hotelbar sitzt. Den Kontrast zu all diesen Reisen direkt in die Zentren der vielen neuen Geschichten bilden die Aufenthalte in seinem Stuttgarter Gartenhaus. Im stillen Raum eines alten Weinberggeländes kommt der Autor zwischen seinen Reisen zu sich, reflektiert die Veränderungen und porträtiert Freunde und Kollegen bei ihren Versuchen, die Gegenwart überhaupt noch zu begreifen. Dabei erweist er sich als einer der wenigen Autoren aus dem Westen der Republik, der eine genaue Sprache für die große Wende sucht und sie auf eine bis heute ungemein beeindruckende Weise auch findet.

Mit dem Nachdruck von Hanns-Josef Ortheils »Blauem Weg« wird ein wertvolles Zeitzeugnis aus den Wendejahren wieder aufgelegt. Zur Neuveröffentlichung dieses berühmt gewordenen und zu Recht hoch gelobten Buchs hat er einen einleitenden Essay geschrieben, in dem er aus heutiger Sicht zu ergründen versucht, warum er damals diese ganz besonderen Ära so emphatisch und geschichtsnah begleitet hat.

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Das Ich und die Geschichte

»Blauer Weg« – wiedergelesen

1

FÜNFUNDZWANZIG JAHRE nach dem Mauerfall erscheint mein literarisches Tagebuch Blauer Weg, das zum ersten Mal 1996 veröffentlicht wurde, in einer um diesen einleitenden Essay erweiterten Neuausgabe. Die Wiederlektüre nach so vielen Jahren hat mich erstaunt, entdeckte ich in diesen tagebuchartigen Erzählungen und Porträts aus der Zeit von 1989 bis 1995 jetzt und im Nachhinein doch viele Spuren eines größeren Erzählzusammenhangs, der meine literarischen Arbeiten untergründig durchzieht und miteinander verbindet. Einige Motive und Themen dieses Zusammenhangs möchte ich erläutern, da sie zu einem erweiterten Verständnis des Buches Blauer Weg aus heutiger Sicht beitragen.

2

AUF DEN ersten Blick ist Blauer Weg eine Art Panorama aus kurzen Geschichten, Stimmungsbildern und Reflexionen, wie ich sie bereits seit frühen Kinderjahren geschrieben habe. Solche Texte entstehen noch heute mehr oder minder lang täglich, ergänzt durch chronikartige Berichte über das Vergehen und den Lebensrhythmus der Tage. (Genaueres zu diesen Werkstattverfahren findet man in dem Essay Die unendliche Arbeit am Text, der meinen Essayband Die weißen Inseln der Zeit einleitet.)

In den Jahren von 1989 bis 1995 nahmen all diese Aufzeichnungen überhand, denn die geschichtlichen Ereignisse der sogenannten »Wendejahre« drängten mich immer wieder dazu, bestimmte Details zu notieren. Insgesamt ergaben die Texte dieses Zeitraums ein großes Konvolut, aus dem ich später vor allem jene Teile für den Druck auswählte, die sich im engeren Sinn mit den historischen Ereignissen beschäftigten.

3

WOLLTE MAN ein Leitmotiv des gesamten Tagebuchs fixieren, so könnte man es in der Auseinandersetzung einer einzelnen Person und eines einzelnen privaten Raums mit den Ereignissen der größeren Geschichte erkennen. Ohne es zu ahnen und zu beabsichtigen, gerate ich nämlich schon im September 1989 während eines Arbeitsaufenthaltes in Prag in den Sog dieser Ereignisse. Unweit von meinem Prager Quartier liegt die westdeutsche Botschaft, auf deren Gelände sich genau während meines Aufenthaltes viele DDR-Flüchtlinge einfinden, um die Ausreise in die alte BRD zu erzwingen. Mit einigen dieser Flüchtlinge komme ich in Kontakt, und es sind genau diese Kontakte und Berührungen, die sich immer heftiger fortsetzen und ein intensives Interesse an den Folgevorgängen der deutschen Wiedervereinigung in Gang bringen.

Am Anfang bin ich noch reiner Beobachter, der die Ereignisse zu verstehen und vor allem genau zu beschreiben versucht. Die Beobachterhaltung geht aber allmählich verloren, bis sie sich schließlich in der auch leiblichen Teilnahme an dem, was ich »die Geschichte« nenne, zeigt. Diese Teilnahme findet dann vor allem in Berlin statt. Dorthin reise ich seit dem Herbst 1989 immer häufiger, beschreibe die Veränderungen in der Stadt, lasse mich durch die jetzt leicht zu erreichenden östlichen Quartiere treiben und beziehe dort im Osten schließlich sogar für einige Zeit ein kleines Zimmer, um dem geschichtlichen Umbruch so nahe wie möglich zu sein.

4

EMOTIONAL WAREN diese Jahre in meinen Augen eine Zeit starker Glücksmomente und unerwarteter Emphasen, wie ich sie im Erleben und Verstehen geschichtlicher Vorgänge noch nie erlebt und auch nie für möglich gehalten hatte. Dass und wie »Geschichte« die private Existenz in bestimmten Zeiträumen stärker einnehmen und prägen kann, wusste ich durch die Biografien meiner Eltern zwar längst. Diese Prägung war jedoch in ihrem Fall seit Beginn des Dritten Reiches eine durch und durch destruktive gewesen.

In einem kleinen westerwäldischen Ort zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aufgewachsen, waren sie später mitten hinein in die Zentren deutscher Geschichte verschlagen worden und hatten das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg am eigenen Leib als eine einzige Fortsetzung brutaler Zerstörung erlebt. Im Verlauf dieser Destruktion hatten sie während des Krieges und in den ersten Kriegsjahren vier Söhne verloren, so dass man rückblickend behaupten konnte: Meine Eltern waren von »der Geschichte« erfasst, und ihr Lebenswille war beinahe ganz vernichtet worden. Eine noch so geringe Hoffnung, gegenüber der destruktiven Gewalt »der Geschichte« wieder zurück in ein eigenes Leben finden zu können, war ihnen kaum geblieben.

Durch das Beispiel ihrer katastrophischen Biografien hatte ich daher vor Augen, wie Menschen aus einem auf den ersten Blick alltäglichen, privaten und stillen Raum herausgerissen und mitten in geschichtliche, öffentliche und dramatische Aktionen versetzt werden konnten. Umso mehr musste es mich daher faszinieren, dass die Veränderungen nach 1989 in meinen Augen genau gegenteilig verliefen. Sie machten auf mich zum großen Teil den Eindruck einer Beruhigung und einer Wiedergewinnung von Freiheit, Glück und längst vergangenen, weit vor dem Dritten Reich liegenden historischen Perspektiven und Räumen. Ja, es erschien mir so, als löste sich durch die Wiedervereinigung allmählich auch die Blockade, die viele Deutsche beim Rückblick in die Vergangenheit fast nur auf das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg sehen ließen. Die innerdeutsche Geschichte öffnete sich wieder ins weiter und längst Vergangene, und die Annäherung an die östlichen Nachbarländer trug dazu bei, sich einen dauerhaften Frieden in Europa vorzustellen, zu dem das wiedervereinigte Deutschland würde beitragen können.

5

DIE AUFZEICHNUNGEN in Blauer Weg folgen zunächst meinem starken, von den Lebenserfahrungen meiner Eltern ausgelösten Interesse an den Reibungen von privatem und politischem Erleben. Wie solche Reibungen und Konflikte im Einzelnen entstehen konnten, hatte ich bereits in meinem 1983 erschienenen Roman Hecke an den Lebensumständen und Erlebnissen meiner Mutter während der Zeit des Dritten Reiches untersucht.

Von Beruf Bibliothekarin, war sie gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in den Fokus der geschichtlichen Umbrüche geraten. Damals, im Jahr 1933, hatten Mitglieder der nationalsozialistischen Partei ihres kleinen westerwäldischen Heimatortes sie aufgefordert, die Benutzerlisten der katholischen Bücherei vorzulegen, in der sie damals gearbeitet hatte. Sie hatte diese Auslieferung verweigert und dadurch nicht nur ihre Stelle verloren, sondern von diesem Zeitpunkt an auch zusammen mit ihrer Familie unter besonderen Schikanen der neuen Machthaber zu leiden gehabt.

Diese Schikanen hatten sich noch verstärkt, als ihr Vater, der für die Zentrums-Partei politisch aktiv war, offen gegen die Nationalsozialisten auftrat und ihr Bruder als katholischer Geistlicher Predigten hielt, in denen er vor den neuen Machthabern warnte. Im Kreis ihrer siebenköpfigen Familie war es daher selbstverständlich gewesen, nach außen hin mit höchster Vorsicht zu agieren. Jedes öffentlich geäußerte Wort musste bedacht und abgewogen werden, so dass ein normales Familienleben nicht mehr möglich war. Das alltägliche, private Erleben stand vielmehr unter Kontrolle, es wurde laufend beobachtet, eingekreist und durchleuchtet. Mit der Zeit zog meine Mutter sich immer mehr ins Private zurück, ging ihren geheim gehaltenen Lektüren nach und dachte in ihren versteckten Aufzeichnungen darüber nach, welche Sprache überhaupt noch gesprochen werden konnte, wenn man die Begriffsfelder der nationalsozialistischen Machthaber umgehen und vermeiden wollte.

Diese schwierigen Lebensumstände dramatisierten sich, als sie im Jahr 1939 kurz nach ihrer Heirat mit ihrem Mann ausgerechnet nach Berlin zog, wo mein späterer Vater eine Stelle als Vermessungsingenieur bei der Deutschen Reichsbahn angetreten hatte. Das junge Paar wohnte in einem Neubau in Lichterfelde, der sich in der Nähe einer SS-Kaserne befand. Auch hier war Geheimhaltung des eigenen Denkens und der eigenen Meinungen das oberste Gebot. Eine erneute Anstellung meiner Mutter als Bibliothekarin verhinderten die Nationalsozialisten, und schon bald bemerkten meine Eltern, dass sie unter Beobachtung standen und sich laufend genau überlegen mussten, wie sie sich den Nachstellungen der Machthaber entziehen konnten.

Während eines Bombenangriffs auf die Reichshauptstadt verloren sie dann ihr erstes Kind, das zweite, bereits dreijährige, kam beim Einmarsch der Amerikaner in den letzten Kriegswochen des Jahres 1945 durch eine Artilleriegranate deutscher Soldaten ums Leben. Die zuvor noch spärlich vorhandenen Momente privaten Rückzugs waren durch diese Ereignisse unmöglich geworden. Alles Private war vielmehr durchsetzt und zerstört von den von außen kommenden politischen Eingriffen, diese Politik vernichtete das Familienleben, und als sichtbarstes Zeichen dieser Vernichtung sprach meine Mutter in den Nachkriegsjahren immer weniger und hörte schließlich ganz auf zu sprechen, als sie wiederum zwei Söhne durch Totgeburten verloren hatte.

So war ihre Biografie eine exemplarische Geschichte der vollständigen Zerstörung privater Ressourcen. Diese Privatheit war schrittweise ausgelöscht worden, und genau von den Details dieser schrittweisen Auslöschung hatte ich in meinem Roman Hecke erzählt.

6

IN DER Nachkriegszeit hat es lange gedauert, bis meine Mutter wieder eine Vorstellung von einem neuen Leben gewonnen hatte. Diese Vorstellung war in den...

Erscheint lt. Verlag 22.9.2014
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • Berlin, Mauerfall, Tagebuch • eBooks • Mauerfall • Roman • Romane • Tagebuch
ISBN-10 3-641-14331-4 / 3641143314
ISBN-13 978-3-641-14331-2 / 9783641143312
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