Das Element des Elephanten (eBook)

Wie mein Schreiben begann
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2014 | 1. Auflage
224 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-12729-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Element des Elephanten -  Hanns-Josef Ortheil
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Hanns-Josef Ortheil beschreibt in seinem autobiographischen Großessay, weswegen ihn die Sprache von Kindheit an faszinierte und wie er zu einem der bedeutendsten deutschen Autoren der mittleren Generation geworden ist. Mit acht Jahren wurde die erste Geschichte von ihm veröffentlicht, und seither ist er, ähnlich wie es Jean-Paul Sartre in seinem berühmten Buch 'Die Wörter' für sich beschreibt, zum Schreiben auf die denkbar lustvollste Weise verurteilt. 'Das Element des Elephanten' ist das 'überaus einleuchtende Selbstporträt eines großen Schriftstellers' (Die Zeit).

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

1


Ich wurde am 5. November 1951 in Köln geboren. Das Haus, in dem meine Eltern damals wohnten und das wir kaum zwei Jahre später durch einen Umzug nach Wuppertal verließen, habe ich erst vor kurzem mit wachem Blick gesehen. Es liegt an einem großen, ovalen, von schönen Mietshäusern eingekreisten Platz im Norden Kölns, dem Stadtteil Nippes. Man hat es nicht weit zum Rhein, die Gegend ist voller traditionsreicher Kneipen...

Dat es he en schöne Jäjend, jäjenüvver dem Rhing, un et Kind es e leev Kind, e lecker Stümpche, wat nie am Knaatsche es, ne Klötsch vunnem Kind, ne Freßklötsch, ne richtije Klotzkopp, wat dä widder kallt...

 

Köln war nicht die Heimatstadt meiner Eltern, aber es war die Stadt, in der sie sich zeitlebens am wohlsten fühlten. Mein Vater hatte nach dem Krieg, den er als Soldat miterlebt hatte, in Köln eine Anstellung bei der Bundesbahndirektion gefunden, von Berufwar er Geodät oder (altmodisch) »Landvermesser«. In den Diensten der Bahn vermaß er Strecken, berechnete Tunneldurchbrüche, entwarf Brücken, er hatte eine Leidenschaft fürs Detail, fürs Exakte, für die saubere Zeichnung, für Millimeterpapier, Zirkelkästen und gut gespitzte Bleistifte. Wenn ich ihn zeichnen müßte, sähe man ihn auf einem drehbaren, arm- und lehnlosen Schemel, vor einer großen weißen Tischplatte, die von einer tief hängenden Lampe angestrahlt wird. Vater beugt den Oberkörper über die Platte, die Zunge wischt nervös über die ausgeformte, dicke Unterlippe, der Zirkel kreist auf dem hauchdünnen Papier, das sich an beiden Seiten aufrollt. Es ist still, niemand stört ihn, es ist die Stunde der Geometrie.

 

Meine Eltern kamen aus dem Siegerland, aus einem kleinen Ort an der Sieg, kaum fünfzig Kilometer östlich von Köln. Siegerland, sage ich, aber ich müßte eigentlich sagen: nördlicher Westerwald, denn meine Eltern, besonders aber mein Vater, der mit seinen zehn Geschwistern auf einem großen Hof aufgewachsen war, verstanden sich als Westerwälder. Westerwälder – das sind die schwarz gekleideten, in sich gekehrten und landtreuen Menschen auf den Fotografien August Sanders, Bauern auf dem Sonntagsspaziergang zur Kirche, Frauen mit dunklen Kopftüchern, gezeichnet von vielen Geburten, Kinder, ängstlich und maulfaul, in einer dichten Traube um die auf zwei Stühlen thronenden Eltern versammelt. So existieren sie in meinen inneren Bildern als Gestalten der Vorzeit, als Gestalten der archaischen Gesten, des Heumachens, Brotbackens und Fischens, Gestalten der Jahreszeiten, fromm, katholisch, die Männer oft mit breiter Stirn, störrisch, unbeirrbar, eine Sippe, die daheim blieb, jahrhundertelang, und nie aufgestört wurde von Eindringlingen oder Fremden...

Ech sän dehem, mir gohn ön det Feld, mir sän zäh wie ön Witt, ojoijo, dat es en Räkel, die es e Quissel un die annere, die es e Zammel, ojoijo, mir bürschte de Kleirer, mir han Durscht, nä, wat is dat dann, wat sull dat heesen, wüßt ech nur, wat dat wär, nä, nä, ojoijo...

 

Die Eltern meiner Mutter waren Kaufleute und hatten, wie es hieß, »ein großes Geschäft«, anfangs Spedition, dann Baustoffe, Kohlen, Öl, und vor allem alles, was die Bauern brauchten, die mit schweinebeladenen Traktoren vorfuhren, um de Säucher zu wiegen. Die Eltern meines Vaters waren Bauern, der Hof lag an der Nister, einem Seitenflüßchen der Sieg, zum Hof gehörte eine Gastwirtschaft, die gibt es heute noch, und drinnen, hinter der Theke, da steht mein Vetter, der Johannes heißt wie ich, und verschränkt die Arme vor der Brust: na, wiegeht et?

 

Zwischen dem Hofmeines Vaters und dem Elternhaus meiner Mutter, das im alten Teil des Ortes, nahe der Kirche, steht, sind meine Eltern, seit sie sich kennengelernt hatten, hin und her geeilt, meist zu Fuß oder auf Fahrrädern. Meine Mutter hat in der Gastwirtschaft ausgeholfen, und mein Vater saß sonntags am Mittagstisch seiner Schwiegereltern, dunkel gekleidet, der einzige Studierte weit und breit, seiner Passion nach aber ein Jäger, ein Forstmensch, witterungsabhängig, naturbesessen, einer, der die Natur geordnet sehen wollte, Bilder von der Natur, Tier- und Pflanzenbilder.

 

Sooft es ging, fuhren wir von Köln und später von Wuppertal aus in den Westerwald, natürlich immer mit der Bahn, die berüchtigte, gewundene Siegstrecke, von Köln aus auf Siegen zu, wo Rubens zur Welt gekommen ist und wo in der hoch gelegenen Burg noch einige seiner Bilder hängen, so weit weg und fern, so fremd all dieser Umgebung ringsum, daß man sofort weiß, er hat nie in Siegen gelebt.

Da, wo meine Eltern ihre Jugend verbracht haben, haben sie sich in den fünfziger Jahren ein Haus gebaut, gleich weit entfernt von beiden Elternhäusern. Lange Zeit war das Haus vermietet, solange wir, wie es hieß, unterwegs waren, unterwegs, in der Fremde, in der Welt, draußen, weitweg. Die Fremde, das war Berlin, war Polen, war Wuppertal, später Mainz.

Doch Anfang der siebziger Jahre haben meine Eltern sich wieder dort niedergelassen, von wo sie 1939, im Jahr des Kriegsbeginns, in die Welt aufgebrochen waren. Sie bezogen ihr Haus, sie waren wieder angekommen im warmen Kreis der Verwandten und Freunde, und an den Sonntagen ging mein Vater zu seiner elterlichen Gastwirtschaft, mit dem Spazierstock auf dem Asphalt den Weg taktierend, und wurde von seinem jüngeren Bruder, der damals den Hof betrieb, lakonisch begrüßt: Na, wie geht et?: Gut, soweit alles in Ordnung. Worauf sie sich hinsetzten, ein Bier tranken und schwiegen.

 

Manchmal denke ich, das Schweigen ist mir eingeboren, dann bin ich ein Westerwälder. Man sitzt zusammen und schweigt, man schaut starr irgendwohin, aus dem Fenster, vor sich hin auf einen Fleck, es ist das charakteristische Grübeln der Bauern, eine Art Meditieren, ein Geltenlassen der Stille. Ich habe eine große Nähe zur Stille, deshalb gefällt mir auch so manche Musik, Musik, die aus der Stille kommt und in sie mündet, Musik von Schubert, von Webern, von Cage. Auch das Schreiben kommt aus der Stille, und an seinem Anfang ist das ungeordnete Murmeln, das sich allmählich, wie ein lauter werdendes Rauschen, von der Stille abhebt. Das innere, chaotische Murmeln ist ein Wachwerden von Stimmen, aus einer weiten Ferne nähern sie sich, und wenn nicht Gott, sondern ich selbst den Anfang der Genesis diktiert hätte, so hätte er von der Stille und dem Murmeln gehandelt:

Im Anfang der Stille schuf Gott den Laut. Und der Laut wurde zum Murmeln, und das Murmeln trennte das Schweigen vom Ton. Der Ton aber klang weit, weit klang er durchs All, und im All entstanden benachbarte Töne, der Schall, und größer und größer wurde das Murmeln...

Literatur, in der etwas von dieser Genesis versteckt ist, habe ich immer besonders gerne gelesen. Betrachtungen aus der Stille, Tsurezuregusa, etwa heißen die Aufzeichnungen des Yoshida Kenkô, der Anfang des vierzehnten Jahrhunderts Offizier der kaiserlichen Palastwache in Japan war und dem man nachsagt, daß er nach einer unglücklichen Liebe Mönch geworden sei. Das Tsurezuregusa beginnt so:

Wenn ich allein und in Muße bin, sitze ich den ganzen Tag vor meinem Tuschkasten und schreibe alles, was mir durch den Kopf geht, ohne Zusammenhang und ohne eine bestimmte Absicht auf. Dabei ist mir immer recht wunderlich zumute1.

So wunderlich ist es auch den Grüblern und Schweigenden des Westerwaldes. Das Grübeln und Schweigen ist ihnen nicht ganz geheuer. Sie wissen ja, eigentlich sollten sie reden, aber in ihrem Innern hat sich etwas von asiatischer Bescheidenheit und Zurückhaltung, etwas von den Regeln und Lehren des Tao-tê-ching breitgemacht, in dem es heißt:

Der Erkennende redet nicht. Der Redende erkennt nicht.

 

Auch das berühmte Anna Livia-Kapitel von James Joyces Finnegans Wake entsteht aus dem Murmeln. Die Wäscherinnen stehen am Fluß und gehen ihrer Arbeit nach. Sie waschen schmutzige Wäsche, und daraus, aus den Geschichten, die die Wäschestücke erzählen, wächst die Geschichte:

O erzähl mir alles von Anna Livia! Ich will alles hören von Anna Livia. Ach, du kennst Anna Livia? Ja doch, klar, wir alle kennen Anna Livia. Erzähl mir alles. Erzähl’s mir jetzt. Dich trifft der Schlag, wenn du’s hörst. Also, du weißt doch, wie der alte Sack futtsch ging und tat, was du weißt. Ja, ich weiß, mach weiter. Wasch nur flott und laß das Gedabble. Stock auf die Ärmel und lockre die Stimmstrippen. Und bocks mich nicht – aua! – wenn du dich bückst. Also was denn auch ilmer sie ausdrifteln wollten, daß er’s bezwockt hätte im Faunix-Park, – er ist ein greißlicher alter Wüstling. Guck dir den Fleck da an! Guck nur den Dreck daran! Hat schon das ganze Wasser bei mir versaut. Und dabei weich ich’s und bleich ich’s seit uiber der Wik. Möchte wohl wischen, wie oft ich’s gewassen hab schon! Ahrswendig kenn ich die Stelln, die er gerne besabbt, der dreckeckige Debbel!2

 

Und so sehe ich mich schweigend in einem Nahverkehrszug der Bahn sitzen, der die gewundene Siegstrecke entlang fährt, von Wissen über Au und Troisdorf nach Siegburg und Köln, langsam fährt der Nahverkehrszug auf den Dom zu, am Dom macht er halt, und wir müssen umsteigen nach Wuppertal, noch einmal eine halbe Stunde Fahrt, und ich höre, wie aus der Stille das allmähliche Murmeln entsteht, je näher wir Köln sind, je lauter wird das Murmeln, die Sprache wird weicher, klangvoller, und in Köln, da...

Erscheint lt. Verlag 1.5.2014
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autobiografie • Autoren • Begeisterung • Bücher • eBooks • Essay • Literatur • Roman • Romane • Schreiben • Schriftsteller • Selbstporträt • Sprache
ISBN-10 3-641-12729-7 / 3641127297
ISBN-13 978-3-641-12729-9 / 9783641127299
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