Zehnter Dezember (eBook)

Stories
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
272 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-12568-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zehnter Dezember -  George Saunders
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
George Saunders, der unumstrittene Meister der zeitgenössischen Shortstory, hat mit seinen neuen Erzählungen nicht nur die literarische Welt im Sturm genommen. Sein Band »Zehnter Dezember« war das Buchereignis des Frühjahrs 2013 und sprang sofort auf die oberen Ränge der New-York-Times-Bestsellerliste. In Frank Heiberts kongenialer Übersetzung liegen diese brillanten, einzigartigen, witzigen, zärtlichen und übermütigen Erzählungen jetzt auch auf Deutsch vor.

Niemand versteht es, so virtuos und ungewöhnlich über ganz gewöhnliche, unvollkommene Menschen zu schreiben, die sich mit einer nicht ganz gewöhnlichen, unvollkommenen Welt herumschlagen, wie George Saunders. Da ist zum Beispiel die fünfzehnjährige Alison. Als sie, den Kopf voller grandioser Weltumarmungsgefühle, von einem Fremden entführt zu werden droht, steht der Nachbarjunge, der alles mit ansieht, vor einer schweren Entscheidung: Soll er ignorieren, dass das schönste aller Mädchen vermutlich Opfer eines Verbrechens wird, oder soll er sich über alle moralischen Gebote, nach denen ihn seine Eltern großgezogen haben, hinwegsetzen und eingreifen? Oder da ist der Mann, den medizinische Versuche über die Grenzen seines Selbst hinausführen, und zwar sowohl in puncto Lust als auch in puncto Mordlust. Und da ist in der Titelgeschichte der dicke, einsame Junge, der sich auf unsicheres Eis begibt und dabei die Selbstmordabsichten eines alten kranken Mannes durchkreuzt...
George Saunders seziert in seinen oft nur wenige Seiten langen Storys mit beißendem Humor und oft nur wenigen Strichendie ganze Fehlbarkeit und Schwäche der menschlichen Natur wie unserer Gesellschaft und Zeit. Diese Erzählungen vergisst man lange nicht.

George Saunders wurde 1958 in Amarillo, Texas, geboren, lebt heute mit seiner Frau und zwei Töchtern in Oneonta, New York, und ist Dozent an der Syracuse University. Er hat mehrere Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht, erhielt u.a. 2013 den PEN/Malamud Award und 2014 den Folio Prize. Das Echo auf seinen ersten Roman »Lincoln im Bardo« war überwältigend: Man Booker Prize 2017, Shortlist für den Golden Man Booker Prize, Premio Gregor von Rezzori 2018, New York Times-Nr.1-Bestseller, SWR-Bestenliste Platz 1 und SPIEGEL-Bestseller.

SPRUNG ZUM SIEG

Als nur noch drei Tage fehlten, bis sie fünfzehn wurde, blieb Alison Pope oben an der Treppe stehen.

Angenommen, es war eine Marmortreppe. Angenommen, sie schritt hinunter, und alle drehten sich nach ihr um. Wo war {Herzbube}? Kam jetzt näher, verbeugte sich leicht und rief aus, Wie kann so viel Anmut in so einer halben Portion verpackt sein. Ups. Hatte er gerade halbe Portion gesagt? Und einfach so dagestanden? Breites Prinzengesicht ohne jeden Ausdruck? Armes Würstchen! Sorry, vergiss es, durchgefallen, der war ganz sicher nicht {Herzbube}.

Und der Typ hinter Mr Halbe Portion, beim Home Entertainment Center? Dicker, bauernsolider Nacken, aber sanfte volle Lippen, der ihr, eine Hand unten auf dem Rücken, zuflüsterte, Tut mir furchtbar leid, dass du gerade den Spruch mit der halben Portion ertragen musstest. Komm, wir stellen uns auf den Mond. Äh, in den Mond. Ins Mondlicht.

Hatte er gerade gesagt, Komm, wir stellen uns auf den Mond? Tja, da sollte sie wohl besser so {Augenbrauen hoch} machen. Und falls kein trockener Konter kam, sie dann so, Äh, für den Mond hab ich nicht ganz das Richtige an, der ist doch, wenn ich mich nicht irre, superkalt?

Na los, Jungs, sie konnte doch nicht ewig im Geist diese Marmortreppe runtertrapsen! Die herzige alte Weißlocke mit ihrem Diadem wurde so total, Warum lassen diese angeblichen Prinzen das Goldschätzchen hier bis zum Exstress auf der Stelle trippeln? Plus, sie hatte heute Abend einen Auftritt und musste noch ihre Leggings aus dem Trockner holen.

Götter! Du stehst ja immer noch oben an der Treppe.

Mach jetzt mal die Sache, wo du nach oben guckst, die Hand am Geländer, und die Stufen eine nach der anderen runterhüpfst, was in letzter Zeit immer schwieriger wird, weil da wohl bei jemandem die Füße ganz offensichtlich jeden Tag wachsen.

Pas de chat, pas de chat.

Changement, changement.

Hüpf über das dünne Metalldings zwischen Flurfliesen und Wohnzimmerteppich.

Knicks dir im Dielenspiegel selber zu.

Na los, Mom, komm endlich. Wir wollen nicht schon wieder von Ms Callow in den Kulissen gegeiselt werden.

Obwohl, eigentlich liebte sie Ms C. So streng! Und genauso die anderen Mädchen in dem Kurs. Und die aus der Schule. Liebte sie total. Die waren alle so nett. Plus die Jungs an ihrer Schule. Plus die Lehrer an ihrer Schule. Die gaben alle ihr Bestes. Eigentlich liebte sie die ganze Stadt. Diesen großartigen Obst- und Gemüsehändler, der seinen Salat besprühte! Pfarrerin Carol mit ihrem großen gemütlichen Hintern! Den pummeligen Briefträger, der mit seinen wattierten Umschlägen wedelte! Früher war das mal eine Textilstadt gewesen. Verrückt, oder? Was bedeutete das überhaupt?

Und ihr Haus liebte sie. Auf der anderen Seite vom Bach stand die russische Kirche. So folkloristisch! Dieser Zwiebelturm, der in ihrem Fenster aufragte, seit sie Pu-der-Bär-Strampler getragen hatte. Gladsong Drive liebte sie auch. Jedes Haus am Gladsong Drive war ein Corona-del-Mar-Modell. Unglaublich! Wenn du mit wem befreundet warst, der am Gladsong wohnte, wusstest du genau, wo bei ihm oder ihr zu Hause alles war.

Jeté, jeté, rond de jambe.

Pas de bourrée.

Vor lauter Übermut Purzelbaum schlagen, auf die Füße springen, das Bild von Mom und Dad küssen, in der Steinzeit geknipst bei Penney’s, damals warst du noch das kleine süße Ding {Kuss} mit der süßen Schleife im Haar, der wahrscheinlich längsten Praline der Welt.

Manchmal, wenn sie so glücklich war wie jetzt, stellte sie sich ein Rehbaby vor, das draußen im Wald zitterte.

Wo ist denn deine Mama, Kleines?

Weiß nicht, sagte das Reh mit der Stimme von Heathers kleiner Schwester Becca.

Hast du Angst?, fragte sie es. Hast du Hunger? Soll ich dich in den Arm nehmen?

Okay, sagte das Rehbaby.

Jetzt kam der Jäger an und zerrte die Rehmutter an den Hörnern. Ihre ganzen Eingeweide hingen raus. Schöne Bescherung, du lieber Himmel! Sie hielt dem Baby die Augen zu und meinte so, Habt Ihr nichts Besseres zu tun, o dräuelnder Jäger, als die Mama von diesem Kleinen hier totzuschießen? Eigentlich wirkt Ihr doch ganz nett.

Ist meine Mama totgeschossen?, fragte das Rehbaby mit Beccas Stimme.

Nein, nein, sagte sie. Und dieser Herr hier wollte gerade gehen.

Der Jäger, gefesselt von ihrer Schönheit, lupfte oder zupfte seine Mütze, ging auf ein Knie und sagte, Könnt ich diesem Kitz hier wieder Leben einhauchen, ich tät’s, in der Hoffnung, dass du unserer ältlichen Stirn vielleicht einen zarten Kuss verabsondern könntest.

Geht, sagte sie. Aber, um Eurer Bußepflicht nachzukommen, dürft Ihr die Arme nicht verspeisen. Bahrt sie auf einem Kleefeld auf und verstreut Rosen ringsum. Und veranlasst einen Chor, der leise von ihrem üblen Ende singen möge.

Wen aufbahren?, fragte das Rehbaby.

Niemand, sagte sie. Lass mal. Und stell nicht so viele Fragen.

Pas de chat, pas de chat.

Changement, changement.

Sie hegte Hoffnungen, dass {Herzbube} aus der Ferne kam. Die Jungs von hier hatten ein gewisses je ne sais quoi, auf das sie, um ehrlich zu sein, nicht beaucoup stand, beispielsweise: Die gaben echt ihren eigenen Nüssen Vornamen. Hatte sie selber gehört! Und wollten unbedingt für ihren Stromversorger arbeiten, weil die Arbeitshemden von CountyPower so cool waren und außerdem gratis.

Also, never für die Jungs von hier. Und fettes never für Matt Drey, das größte Froschmaul im Lande. Den zu küssen, gestern beim Stimmungmachen vor dem Spiel, das war, als würdest du ne Unterführung küssen. Gruselig! Als würde sich plötzlich so n Ochse im Pulli über dich hermachen, der sich nicht abweisen lässt, und sein riesiger Ochsenkopf ist überschwemmt von Drogen, die auch noch sein letztes bisschen Verstand rausspülen.

Selber die Kontrolle über sich haben, das gefiel ihr. Über ihren Körper, ihren Geist. Ihre Gedanken, ihre Karriere, ihre Zukunft.

Das gefiel ihr.

So sollte es sein.

Jetzt könnten wir zu einer kleinen Zwischenmahlzeit schreiten.

Un petit repas.

War sie etwas Besonderes? Fand sie sich besonders? Ach, na ja, keine Ahnung. Im weltgeschichtlichen Vergleich war sie nicht so besonders. Helen Keller war cool; Mutter Teresa war der Hammer; Mrs Roosevelt war ein ziemlicher Kracher, trotz ihrem Mann so als Behinderter, außerdem war sie lesbisch, mit ihren dicken fetten Zähnen, lange bevor sich irgendwer, rein hypothekisch, überhaupt vorstellen konnte, dass ne Lesbe die First Lady war. Bei solchen Ladys überhaupt mitzuhalten brauchte Alison nicht zu hoffen. Jedenfalls noch nicht!

Es gab so viel, was sie nicht wusste! So wie man Öl wechselt zum Beispiel. Oder überhaupt den Ölstand. Wie die Motorhaube aufgeht. Wie man Muffins backt. Das war sogar peinlich, sie als Mädchen und so. Und was war eine Hypothek? Kaufte man die mit dem Haus? Und beim Stillen, wurde da die Milch so rausgedrückt oder was?

Götter. Wer war denn diese Hungerharke, die den Gladsong Drive hochtrottete? Sie sah ihn durchs Wohnzimmerfenster. Kyle Boot, das blasseste Bleichgesicht im ganzen Land? Immer noch seine komischen Cross-Country-Klamüsen an?

Armes Würstchen. Er sah aus wie ein Skelett mit Vokuhila. Und diese Waldlauf-Shorts, stammten die so aus Drei Engel für Charlie-Zeiten oder quoi? Wie konnte er so gut laufen, wo er aussah, als hätte er buchstäblich keine Muskeln? Jeden Tag rannte er so nach Hause, ohne Hemd, aber mit Rucksack, und wenn er unten bei den Fungs war, hieb er schon auf die Fernbedienung und zischte zu Hause in die Garage, ohne abzubremsen.

Fast schon bewundernswert, der arme Tölpel.

Sie waren zusammen groß geworden, hatten als Dreikäsehochs in dem öffentlichen Sandkasten unten am Bach zusammen gespielt. Hatten sie nicht als Winzlinge zusammen gebadet oder irgend so ein Dreck? Hoffentlich kam das nie raus. Weil in puncto Freunde war Kyle praktisch bei Feddy Slavko angelangt, der sich beim Gehen so krass zurücklehnte und sich ständig irgendein Zeugs aus den Zähnen pulte, den Namen von dem rausgepulten Ding auf Griechisch verkündete und es dann wieder aß. Kyles Mom und Dad erlaubten ihm nicht das Geringste. Wenn der Lehrfilm in Weltkulturen nackte Bommis zeigte, musste er zu Hause anrufen. Alles, was er in der Lunchbox hatte, trug ein deutliches Etikett.

Pas de bourrée.

Und Knicks.

Schütte die vorgesehene Menge Käsechips in eins der vorgesehenen Fächer von deinem altmodischen Tupperware-Dings.

Danke, Mom, danke, Dad. Eure Küche fetzt total.

Jetzt das Tupperware-Dings schütteln, als wär’s ein Goldsieb, dann einer imaginären Runde Bedürftiger anbieten, die sich versammelt hat.

Greift zu. Kann ich noch was für euch tun?

Du hast schon genug getan, Alison, schon dass du dich überhaupt herablässt, mit uns zu sprechen.

Das ist so was von nicht wahr! Versteht ihr denn nicht? Alle Menschen haben Respekt verdient. Jeder von uns ist ein Regenbogen.

Ach ja? Schau dir mal die große offene Wunde in meiner armen welken Flanke an.

Gestatte mir, etwas Vaseline für dich zu holen.

Das würde ich sehr begrüßen. Dieses Ding bringt mich um.

Aber von wegen Regenbogen und so?...

Erscheint lt. Verlag 24.2.2014
Übersetzer Frank Heibert
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Tenth of December. Stories
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 10. Dezember • amerikanische Shortstorys • amerikanische Shortstorys, Witz, Menschlichkeit, sprachliche Brillanz, NYT Bestseller, new york times bestseller, New York Times Bestseller, 10. Dezember, 10, PEN / Malamud Award • eBooks • Menschlichkeit • New York Times Bestseller • NYT Bestseller • PEN / Malamud Award • Satire • sprachliche Brillanz • Witz
ISBN-10 3-641-12568-5 / 3641125685
ISBN-13 978-3-641-12568-4 / 9783641125684
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,4 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99