Vom Ende des Punks in Helsinki (eBook)

Roman
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2014 | 1. Auflage
352 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-13136-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Ende des Punks in Helsinki -  Jaroslav Rudi?
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Man kann nicht ewig Punk sein. Aber was dann?
Ole ist 40, war früher Punk, Frauenheld und erfolgreich mit seiner Band, aber das ist lange her. Heute betreibt er das »Helsinki«, eine kleine, verrauchte Bar in einer namenlosen (ost)deutschen Großstadt. Außer der Bar, ein paar Freunden und seinen Erinnerungen ist ihm wenig geblieben. Als seine Bar geschlossen wird, bricht Ole zu einer Reise nach Tschechien auf. Es wird eine Zeitreise an den dunkelsten Punkt seiner Vergangenheit: 1987 versuchte er als 17-Jähriger mit seiner 16-Jährigen Freundin Nancy über die grüne Grenze in den Westen zu fliehen. Nancy kam dabei ums Leben ...

Jaroslav Rudi?, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane »Grand Hotel«, »Die Stille in Prag«, »Vom Ende des Punks in Helsinki« und »Nationalstraße«, bei btb außerdem »Der Himmel unter Berlin«. »Winterbergs letzte Reise«, der erste Roman, den Jaroslav Rudi? auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er außerdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.

GLASSPLITTER

Ulrike schwingt sich aufs Fahrrad und verschwindet im Regen. Sie arbeitet im Museum für moderne Kunst, dem neuen Betonwürfel in der Innenstadt, der sich genau dort befindet, wo früher ganze drei Plattenbauten mit einer legendären Konditorei im Erdgeschoss gestanden haben, und in dem Ole bis heute noch nicht gewesen ist.

Lena muss nirgendwohin. Sie arbeitet nur manchmal, weil sie seit fünf Jahren an einer Doktorarbeit über den Einfluss der Vogelmotivik der Maya-Mythologie auf den deutschen Expressionismus schreibt.

Sie holt sich bei Ole die Karte für den Zigarettenautomaten und geht hinaus für eine Schachtel Light, auf dem Rückweg lässt sie ihren Tisch links liegen und setzt sich an die Bar. Oh weia, denkt Ole, geht das jetzt wieder los, warum immer nur ich.

Ohne dass Lena etwas sagen muss, schenkt Ole ein Glas Rosé ein und stellt es vor sie hin.

»Darf ich dir was erzählen?«

»Wenn es nicht zu lange dauert.«

»Leck mich.«

In einem Zug trinkt sie das halbe Glas leer.

»Lena, ich meine nur, das hier ist eine Bar und keine Beratungsstelle …«

»Ich hab doch gesagt, leck mich.«

»Du wirst es mir trotzdem erzählen, ich kenn dich. Aber ich frage mich natürlich manchmal, warum ich es mir immer anhören muss.«

»Weil es dich interessiert.«

»Mich soll das interessieren? Ich interessiere mich für andere Dinge.«

»Zum Beispiel?«

»Ich meine … Haufenweise anderes Zeug.«

»Da bin ich gespannt, du brauchst mir nur eins von diesen Dingen zu nennen.«

Ole poliert ein Glas und denkt nach. Musik? Die alten Filme, die er in seinem Geheimkino zeigt? Die Frauen, mit denen er mal zusammen gewesen ist? Krimis? Er zapft sich ein Schnittbier, trinkt einen Schluck, sieht Lena an und sagt nichts.

»Ich brauche kein Beratungsgespräch, ich will dir einfach nur was erzählen.«

»Und warum ausgerechnet mir?«

»Weil im Moment außer dir keiner da ist.«

Er weiß nicht, warum er bei ihr nie Nein sagen kann. Vermutlich ist eine Deprivation aus der Kindheit daran schuld. Oder diese kaputte Stadt, die auch nie Nein sagen konnte und mehrmals fast vollständig im Staub versunken ist. Auch Prager möchte ihm gerne ständig etwas erzählen, in einem fort textet er Ole zu, aber auch hier hat Ole keine Lust zu reden, jedes Gespräch landet sowieso immer gleich bei Kochrezepten oder bei Pragers Problemen mit Frauen.

»Mir fallen häufig Dinge ein, an die ich mich nicht vollständig erinnern kann. Leise Andeutungen sind das, sie tauchen kurz auf, und ich muss richtig aufpassen, um sie nicht gleich wieder zu verlieren, um die Erinnerung heil zurückzuholen«, schießt Lena los, nachdem er das zweite Glas Rosé vor sie gestellt hat. Und Ole denkt, meine Güte, leise Andeutungen … Was hab ich damit zu tun.

Lena sitzt an der Bar. Ein Bein über das andere, den rechten Arm auf den Nebensitz gestreckt, als würde sie jemanden umarmen, aber neben ihr sitzt keiner. Sie nippt an ihrem Glas.

»Mein Papa hatte einen weißen Wartburg. Wartburg Tourist, das billigste Modell, wie geschaffen für unsere Reisen an die Ostsee oder in die Berge. Heute weiß ich, dass ihm das Auto mehr bedeutet hat als meine Mutter oder ich. Ein paarmal habe ich ihn erwischt, wie er in der Garage mit dem Auto geredet hat, während er es mit Hirschleder auf Hochglanz polierte. Ist echt wahr.«

Lena bläst den Rauch aus ihrer Lunge nach oben. Die grauen Schwaden sind noch dünner als Lenas schlanke Finger und brechen jäh in sich zusammen, sobald sie die Decke erreichen. Dann, als sie exakt die Hälfte der Zigarette geraucht hat, drückt Lena die Zigarette aus, das macht sie jedes Mal so, weil sie dadurch das total abwegige Gefühl hat, sie habe ihr Rauchen unter Kontrolle, sei nicht abhängig und würde daher nicht so früh sterben müssen.

Ole ist da anderer Meinung, aber er schweigt lieber und poliert weiter die Gläser. Bis er doch nicht anders kann und sagt, so ungewöhnlich sei das nicht, der Wartburg von seinem Vater hätte Honecker geheißen. Und sein Vater hätte das Auto über alles in der Welt geliebt, weswegen er es jedes Jahr ganz auseinandergenommen und dann wieder aufgebaut hätte. Auch Honeckers Nachfolger hätte er heiß und innig geliebt. Die Liebe zum eigenen Pkw sei wohl eine merkwürdige deutsche Krankheit, fügt Ole hinzu, eine Krankheit, die sich wie ein seltsamer deutscher Virus von Deutschland in die ganze Welt ausbreitet, weit gefährlicher als die Vogel- oder Schweinegrippe, aber vermutlich nicht genetisch vererbbar, denn ihn, Ole, hätte diese Krankheit zum Beispiel nicht erwischt. Das alles erzählt er und lächelt gar dabei, aber Lena hört ihm nicht zu. Wie immer.

Sie dreht sich sogar für einen Moment von ihm weg und starrt aus dem Fenster. Dann streichelt sie die kleine höckerige Vase aus grünem Ton, in der Blumen stecken, die Gabi jeden Morgen von irgendwoher zaubert.

Die Erde unter dem Helsinki bewegt sich im Verborgenen, von unten kommt ein dumpfes Dröhnen, die Gläser auf der Bar geben sich einen klirrenden Kuss, und Ole sagt, verdammt, schon wieder. Tief unter der Stadt wurde der nächste Felsbrocken gesprengt, aber Lena schenkt dem keine Aufmerksamkeit und redet weiter.

»Papa hat sogar kleine Kissen angeschafft, allerdings nicht für uns, sondern für den Schlitten aus Eisenach. Er sagte immer wieder, der Zweitakter hat eine Seele. Für diese seine große Liebe führte er auch ein Tagebuch, dort notierte er den Verbrauch, die Kilometerzahl und jede Stadt, jedes Schloss und jede Burgruine auf, die wir besucht hatten, auch das, was wir dort zu uns genommen haben, in erster Linie allerdings was der süße Warti gemampft hatte. Er nannte ihn übrigens Karl. Wegen Opa, der war Geschichtslehrer und qualmte wie ein Zweitakter. Als er seinen Schülern zeigen wollte, wo die Furt gewesen war, die einmal Karl IV. genommen hatte, ist er in der Elbe ertrunken. Bist du schon mal in Tangermünde gewesen?«

»Wie?«

»Hörst du mir überhaupt zu?«

»Ja. Klar. Bloß muss ich nebenbei auch arbeiten, aber red ruhig weiter«, sagt Ole und spült den Berg Biergläser ab, der sich hier seit gestern Abend türmt.

»Also bist du da gewesen, oder nicht?«

»Nein.«

»Hast nichts verpasst. Mama hat mich mal gezwungen mitzukommen, damit ich weiß, wo Opa gestorben ist. Wir sind höchstens fünf Minuten dort stehen geblieben, es war total windig. Ostdeutsche Pampa halt. JWD

»Wo sich mal Karl IV. herumgetrieben hat.«

»Geschichte und JWD schließen sich nicht aus. Im Hinblick auf das nahende Ende der Welt erlangen solche Orte temporäre Bedeutung.«

Ole ist sich nie sicher, ob er sie richtig versteht. Temporäre Bedeutung, mein Gott, das ist sie, die temporäre Klugscheißerin und unvergängliche Schönheit, was sie auf jeden Fall als eine klare Loserin prädestiniert. Noch dazu ihre baltischen Augen … Er nickt, von wegen, dass alles klar ist.

Eigentlich weiß er nicht einmal, was Lena schon seit Jahren studiert. Geschichte, Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte oder Philosophie. Aber vielleicht all das zusammen und noch ein paar andere Fächer dazu.

»Bei dieser Auffassung ist auch diese Stadt eine Art JWD. Was vermutlich auch sogar stimmt«, sagt Ole nach einer längeren Pause.

»Das hat mit der Geschichte, die ich dir erzähle, überhaupt nichts zu tun.«

»Ich habe lediglich versucht, einen temporär bedeutsamen Gedanken hervorzubringen.«

»Ich verstehe nicht.«

»Ist schon okay. Du wolltest wissen, ob ich jemals dort gewesen bin, wo Karl IV. die Elbe überquerte. Nein, bin ich nicht. Aber ich weiß, wer Karl IV. gewesen ist. So blöd bin ich auch nicht.«

»Sag mal, willst du überhaupt wissen, wie es weitergeht?«

»Nein. Aber du wirst es mir so oder so erzählen.«

Ole stellt zwei etwas arg späte Frühstückssoljankas vor zwei Gäste, die sich in eine Ecke des Helsinki gesetzt hatten, und auf dem Rückweg wischt er die Resopaltische sauber, die er aus einer alten Schulkantine gerettet hat. Lena zündet sich eine neue Zigarette an, und er denkt schon wieder darüber nach, ob sie miteinander geschlafen haben oder nicht. Nicht, dass er das tun möchte, solche verträumten romantischen Frauenmodelle im Wartemodus kennt er zur Genüge, und zwar gleich in mehreren, eigentlich aber immer gleichen Ausführungen, aus denen nichts geworden ist – aber aus welcher Beziehung ist bei ihm jemals etwas geworden! Er möchte es einfach nur wissen. Obwohl angesichts seiner Entscheidung, künftig frauenlos durchs Leben zu streifen, er es gar nicht zu wissen braucht. Aber warum kann er sich bloß nicht erinnern? Und warum regt es ihn so auf? Vielleicht hat er einfach nur Angst, dass ihn sein Gedächtnis allmählich im Stich lässt.

»Lüften durften wir nur, wenn wir einen Berg runterfuhren, beim Hinauffahren erhöhte das Lüften den Verbrauch, außerdem ging davon der Motor...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2014
Übersetzer Eva Profousová
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Konec punku v Helsinkách
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Eiserner Vorhang • Gentrifizierung • Ostdeutschland • Punk • Punk, Ostdeutschland, Gentrifizierung, Tschechien, Eiserner Vorhang, Rudis, Rudiš • Roman • Romane • Rudis • Rudiš • Tschechien
ISBN-10 3-641-13136-7 / 3641131367
ISBN-13 978-3-641-13136-4 / 9783641131364
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