Die Berlinreise (eBook)

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2014 | 1. Auflage
288 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-12522-6 (ISBN)

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Die Berlinreise -  Hanns-Josef Ortheil
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Das neue Reisetagebuch des jungen Hanns-Josef Ortheil.
Anfang der sechziger Jahre hat Hanns-Josef Ortheil zusammen mit seinem Vater eine Reise in das geteilte Nachkriegsberlin unternommen. Es ist eine Reise zurück an die Orte, an denen sein Vater und seine Mutter als junges Paar während des Zweiten Weltkriegs gelebt haben. Geduldig und fasziniert hört er zu, was der Vater ihm von dem Leben damals erzählt. Instinktiv begreift er, welche Bedeutung Berlin für das Leben seiner kleinen Familie hatte und für ihn immer noch hat. Tag für Tag notierend und schreibend, sucht der gerade einmal zwölfjährige Junge sehnsüchtig nach einer Verbindung zu dieser Welt.

Im Sommer 1964 reist der damals zwölfjährige Hanns-Josef Ortheil mit seinem Vater nach Berlin. Wenige Jahre nach dem Mauerbau und ein Jahr nach Kennedys Berlin-Besuch führt der Berlin-Aufenthalt Vater und Sohn die Gegenwart des Kalten Kriegs vor Augen und wird gleichzeitig zu einer Zeitreise in die Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs. Im Oktober 1939 waren die Eltern frisch verheiratet aus einem kleinen Westerwald-Ort in die damalige Reichshauptstadt gezogen, wo der Vater bei der Deutschen Reichsbahn als Vermessungsassessor tätig wurde und wo sie bei Luftangriffen ihr erstes Kind verloren. Tag für Tag erkunden Vater und Sohn die Spuren dieser Zeit, besuchen die frühere Familienwohnung, treffen Bekannte und Freunde und lesen die Haushaltsbücher, die die Mutter in den Kriegsjahren geführt hat. Über seine Eindrücke schreibt der Zwölfjährige ein in seiner Art unvergleichliches Reisetagebuch, in dem er auf dramatische Weise vom Nachempfinden der Vergangenheit am eigenen jungen Körper erzählt.


Nach »Die Moselreise« legt Hanns-Josef Ortheil mit der »Berlinreise« das zweite Reisetagebuch seiner frühen Kinderjahre vor, in denen er mit seinem Vater wochenlang allein unterwegs war, um sehen, schreiben und für alle Zeit sprechen zu lernen.

Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.

30. April 1964

Im Bahnhof, nachts

Die Einfahrt des Zuges nach Leipzig,
mit Kurswagen nach Berlin

Die leeren Abteile des Kurswagens

Die allein reisenden Männer mit sehr viel Gepäck

Die Abfahrt nach Berlin mit über 15 Minuten Verspätung

Mit Papa in einem sonst leeren Abteil

Ich: Was machen wir jetzt?

Papa: Schlafen, so schnell wie möglich.

Ich: Wann kommen wir in Berlin an?

Papa: Morgen früh, gegen 7 Uhr.

Ich: Ich kann noch nicht schlafen.

Papa: Dann lies doch etwas.

Ich: Ich habe Winnetou III dabei, das könnte ich lesen.

Papa: Ja, lies Winnetou III.

Ich: Soll ich gleich loslegen?

Papa: Du kannst auch erst mal durch den Zug laufen und dir alles genauer anschauen. Lauf nur, ich bleibe hier beim Gepäck.

Zum ersten Mal bin ich eine ganze Nacht lang mit einem Zug unterwegs. Ich habe unser Abteil verlassen und bin langsam von Wagen zu Wagen gegangen. Unser Kurswagen war nicht stark besetzt, aber die anderen Wagen waren sehr voll. In vielen Abteilen war gar kein Platz mehr, so dass die Menschen auch draußen, auf den Gängen, standen. Kurz nach der Abfahrt war es sehr laut, viele sprachen aufgeregt miteinander oder hantierten noch an ihrem Gepäck, und es gab auch Menschen, die gleich nach der Abfahrt zu trinken oder zu essen begannen. Einige hatten dicke, aufgequollene Taschen mit vielen Flaschen und Esssachen dabei, und die besonders gut gelaunten fingen auch an, etwas davon an die anderen Fahrgäste zu verteilen.

Ein älterer Mann, der besonders laut sprach, fragte mich, ob ich eine Stulle wolle. Ich antwortete, dass ich nicht wisse, was das sei. Da lachte er laut und rief den anderen, die in seiner Nähe standen, zu, ich wisse nicht, was eine Stulle sei. Ich musste mitlachen, weil er so fröhlich war, da zeigte er mir eine Stulle. Er holte sie aus seiner Tasche, wickelte sie aus hellem Butterbrotpapier und hielt sie mir hin. Sie bestand aus zwei halben Schwarzbrotscheiben, zwischen denen sich viel roher Schinken befand. Er hing an den Seiten der Brotscheiben heraus und pendelte in der Luft herum. »Das ist eine Stulle, mein Junge«, sagte der Mann, »oder wie würdest Du dazu sagen?« Ich sagte, dass ich die Stulle ein Pausenbrot nennen würde. Da lachte der Mann noch lauter und rief den anderen wieder zu, in Köln nenne man eine Stulle ganz vornehm ein Pausenbrot, in Berlin aber nenne man es richtiger eine Stulle. Dann drückte er mir die Stulle mit dem Butterbrotpapier in die Hand und sagte, dass er ein Berliner sei und dass ich von ihm Berlinerisch lernen könne. Ich antwortete, dass ich vielleicht später wieder zu ihm kommen werde, um noch mehr Berlinerisch von ihm zu lernen. Danach ging ich weiter durch die vielen Wagen. Ich hatte vorgehabt, sie zu zählen, aber ich kam immer wieder durcheinander, außerdem achtete ich wohl zu sehr auf die Stulle in meiner Hand, denn ich dachte laufend darüber nach, was ich mit ihr anfangen sollte, essen wollte ich sie nämlich auf gar keinen Fall.

Ich ging durch den ganzen Zug, bis zur Lok. Zweimal wollte mir jemand zeigen, wo das Klo sei, und jedes Mal musste ich sagen, dass ich ein Klo gar nicht suche. Schließlich wickelte ich die Stulle fest in das Butterbrotpapier ein und steckte sie vorsichtig in die rechte Hosentasche. Danach ging ich nur noch sehr langsam, um sie nicht zu quetschen. Zum Glück begegnete ich auf dem Rückweg dem älteren Mann nicht mehr, so dass ich, ohne länger aufgehalten zu werden, in unserem Abteil ankam. Ich zeigte Papa die Stulle und erklärte ihm, dass mir sie jemand geschenkt habe. Papa fragte mich, warum ich sie nicht esse, und ich antwortete, dass ich keinen Hunger habe und sie auch später nicht essen werde. Da schaute Papa sich die Stulle einen Moment lang genauer an, nickte kurz und begann, sie zu essen.

Berlinerisch

Ich: Ist Berlinerisch eine eigene Sprache?

Papa: Nein, es ist ein Dialekt, so wie Kölsch.

Ich: Kannst Du etwas Berlinerisch?

Papa: Nein, kaum ein Wort.

Ich: Und welches Wort kannst Du?

Papa: Icke, die Berliner sagen Icke statt Ich.

Ich: Icke?

Papa: Ja, komisch.

Ich: Und was sagen Sie noch?

Papa: Sie sagen Bulette statt Frikadelle.

Ich setzte mich dann ans Fenster und las Winnetou III. Zu Beginn ist Old Shatterhand ganz allein in der weiten Prärie unterwegs und wird von Sioux-Indianern verfolgt. Plötzlich begegnet er einem gefährlichen Mann, der keine Ohren mehr hat und sich sofort mit ihm anlegt. Der Mann weiß aber nicht, dass er mit dem berühmten Old Shatterhand streitet, er glaubt vielmehr, er streite mit einem Greenhorn. Viele Menschen, die Old Shatterhand zum ersten Mal begegnen, halten ihn für ein Greenhorn, dann aber zieht er sein Gewehr, wirft einen Stein sehr hoch in den Himmel und trifft ihn mühelos noch im Flug mit dem ersten Schuss. »Heavens«, sagt der Mann ohne Ohren und schaut sich die Waffen Old Shatterhands genauer an. Der hat immer zwei Gewehre bei sich, den Bärentöter und den Stutzen, so dass die erfahrenen Herumreisenden sofort erkennen, dass er Old Shatterhand ist. »Behold, also seid Ihr doch Old Shatterhand!« ruft da der Mann ohne Ohren, und dann reiten die beiden zusammen weiter, aber der Mann ohne Ohren schneidet einigen Indianern, die in der Nähe herumliegen, weil er sie gerade getötet hat, davor noch rasch die Ohren ab.

Ich las eine Weile, bis ich sah, dass Papa es sich in seinem Sitz bequem gemacht hatte und zu schlafen versuchte. Er hatte die Augen geschlossen und atmete lauter als sonst, aber er presste die Lippen so merkwürdig und fest aufeinander, dass ich nicht glauben konnte, er sei eingeschlafen. Ich legte das Buch weg, machte es mir ebenfalls bequem und versuchte zu schlafen, aber es ging nicht, so fest ich auch die Lippen presste und tief durchzuatmen versuchte. Mit geschlossenen Augen sah ich ganz deutlich die weite Prärie, sie war menschenleer und sah gefährlich aus, denn überall lauerten Indianer in lauter unbekannten Verstecken. Ich stellte mir vor, die Prärie zu durchreiten, hatte aber keine Idee, welcher Weg der ungefährlichste und beste wäre. Old Shatterhand wusste so etwas immer und erklärte es dann seinen Mitreisenden, aber ich hatte fast nie eine dieser Erklärungen richtig verstanden. Old Shatterhand war gewiss ein sehr kluger und starker Mann, aber seine Erklärungen, vor allem, wenn sie die Landschaft und lauernde Gefahren betrafen, waren einfach zu kompliziert. Ich hörte auch dauernd die Worte »Heavens« und »behold«, als flüsterte sie mir jemand zu, und ich hörte sie so deutlich und oft, dass ich sie beinahe selbst geflüstert hätte.

Lesen

Wenn ich spannende Bücher lese, sehe ich oft alles, was passiert, sehr deutlich vor mir. Auch wenn ich gerade nicht lese, sehe ich die Menschen und die Landschaft, wie in einem Film. Schließe ich die Augen, denke ich sogar manchmal, ich sei selbst mitten drin in diesem Film, und wenn ich dann wirklich mittendrin bin, bekomme ich oft etwas Angst. Old Shatterhand hat nie Angst, das ist seltsam. Er weiß immer alles: wie man den Indianern entkommt, wie man sie überlistet und wie man ein spannendes Leben lebt ganz ohne Angst.

Dann schaute ich Papa noch einmal an und sah, dass er blinzelte. Jedenfalls zuckten seine Augen etwas seltsam, so dass ich jetzt genau wusste, dass er nicht schlief. Ich richtete mich auf und fragte ihn, ob er schlafe, da richtete er sich auch auf und sagte, dass er nicht schlafen könne. Er habe schon geahnt und gewusst, dass er in diesem Nachtzug nicht werde schlafen können, er könne in Zügen nicht schlafen, in keinem Zug, weder nachts noch tags, er könne es einfach nicht. Ich fragte ihn, warum er es denn nicht könne, und da antwortete er, das sei eine Folge des Krieges, als Soldat im Krieg habe er in Zügen niemals geschlafen, das sei viel zu gefährlich gewesen und außerdem habe man zuviel Angst gehabt, um zu schlafen. Ich fragte Papa, ob er während des Krieges als Soldat oft Angst gehabt habe, und da sagte er, »ja, ununterbrochen, denn jederzeit konnte irgendwo etwas passieren«. Ich fragte »was denn zum Beispiel?«, und Papa antwortete: »Mitten im ruhigsten und friedlichsten Gelände konnte plötzlich eine Mine hochgehen, und Du hast nichts geahnt, und wenn Du Pech hattest, hat Dich die Mine getroffen, und es war aus mit Dir, einfach aus.« Ich habe nichts mehr gesagt, und dann wollte ich doch etwas sagen, und ich habe plötzlich »Heavens« gesagt, es ist mir einfach so rausgerutscht, und Papa hat »Wie bitte?« gesagt, und ich habe ihm erklärt, dass die weißen Männer und Herumreisenden in der weiten Prärie nie Angst hatten, jedenfalls stehe das so zum Beispiel in Winnetou III, sie hätten also gar keine Angst, und um das zu beweisen, würden sie »Heavens« oder »behold« sagen, einfach so. Da hat Papa gelacht und gesagt, die Worte werde er sich merken, »Heavens« und »behold«, und wenn es nötig sei, werde er sie ab jetzt auch benutzen.

Old Shatterhand

Die wenigsten Leser wissen, dass Old Shatterhand von Beruf Landvermesser und Ingenieur ist, genau wie Papa. Deshalb hat Papa auch einmal Winnetou I gelesen, wo so etwas drin steht und Old Shatterhand als Landvermesser von St. Louis aus durchs Land zieht, weil er, genau wie Papa, die neuen Eisenbahnstrecken vermessen muss. Papa hat auch einmal gesagt, dass Old Shatterhand die Umgebung genau wie ein Landvermesser betrachte, denn Landvermesser würden die Umgebung ganz anders betrachten als die anderen Menschen. Weil Old Shatterhand alles wie...

Erscheint lt. Verlag 26.5.2014
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1960er • 1964 • Berlin • "Die Erfindung des Lebens" • "Die Erfindung des Lebens", 1964, Tagebuch, 1960er, Berlin, spiegel-bestseller • eBooks • Reisen • Roman • Romane • SPIEGEL-Bestseller • Tagebuch
ISBN-10 3-641-12522-7 / 3641125227
ISBN-13 978-3-641-12522-6 / 9783641125226
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