Unscharfe Bilder (eBook)

Roman

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2013 | 1. Auflage
288 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-13523-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unscharfe Bilder -  Ulla Hahn
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Vergessen kann man nur, was man zuvor erinnert hat.
Katja Wild, Hamburger Studienrätin, glaubt auf einem Foto der Wehrmachtsausstellung ihren Vater erkannt zu haben. Sie weiß, dass ihr Vater Soldat in Russland war. Inzwischen ist er 82 Jahre alt und verbringt seinen Lebensabend in einer Senioren-Residenz mit Elbblick. Der Oberstudienrat mit den Fächern Alte Geschichte, Griechisch und Latein galt seiner Familie, den Kollegen und Schülern als ein Humanist alten Schlages und Spezialist der Erinnerung. Ein Lehrer ohne Fehl und Tadel, ein vorbildlicher Vater. Nun, fast 60 Jahre nach Kriegsende, sieht Katja dieses Foto. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um ihn nach seinen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg zu befragen ... Eine schmerzliche Reise in die Vergangenheit beginnt.

Ulla Hahn, aufgewachsen im Rheinland, arbeitete nach ihrer Germanistik-Promotion als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, anschließend als Literaturredakteurin bei Radio Bremen. Schon ihr erster Lyrikband, »Herz über Kopf« (1981), war ein großer Leser- und Kritikererfolg. Ihr lyrisches Werk wurde u. a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Für ihren Roman »Das verborgene Wort« (2001) erhielt sie den ersten Deutschen Bücherpreis. 2009 folgte der Bestseller »Aufbruch«, der zweite Teil des Epos, und auch Teil drei, »Spiel der Zeit« (2014), begeisterte Kritiker wie Leser. »Wir werden erwartet« (2017) bildet den Abschluss ihres autobiografischen Romanzyklus um das Arbeiterkind Hilla Palm. Zuletzt erschien 2021 ihr Gedichtband »stille trommeln« mit Gedichten aus 20 Jahren.

I.


Seine Möbel hatte er, soweit sie Platz fanden, mitnehmen können, selbst einen großen Teil der Bibliothek, den Rest wußte er bei der Tochter gut untergebracht. Ehemalige Schüler, wenn sie ihn aus Anhänglichkeit besuchten, ließ er freigiebig aus den Regalen wählen und unterstrich dann gelegentlich einen Satz, der sie ein Leben lang begleiten sollte. Die breiten Borde bogen sich noch immer, und die Stützen einer Leiter hatten das rötlichbraune Parkett schon verschrammt. Oben standen die kostbaren Bände, auch in lateinischer und griechischer Sprache, alte Drucke, die Hans Musbach mit einem Vergrößerungsglas zu lesen pflegte. Seine Festung.

Er fand sich gut zurecht in dem großzügigen Haus am Hafen. Seine Pension reichte für ein Appartement auf der richtigen Seite, dort, wo man die Sonne im Elbstrom untergehen sah, dort, wo der Blick auf die Wellen ging, als versichere ihr gleichmäßiger Schlag, daß alles noch lange – immer und immer – so weitergehen könne. Die weniger Betuchten des Seniorenheims, Residenz, wie man das hier nannte, schauten auf Fischhallen und heruntergekommene Häuser. Nie hätte er sich vor dem Umzug vorstellen können, einmal Stunden zu verträumen, einfach dazusitzen, ohne ein Buch, eine Fachzeitschrift oder den Brief eines Kollegen, den es zu studieren und sorgfältig zu beantworten galt.

Musbach rückte den Stuhl näher ans Fenster. Der Glanz des gleitenden Wassers änderte sich mit dem Himmel, eben noch wolkenverhangen, dann wieder von ein paar Windstößen leergefegt, blau. Dennoch: Regen lag in der Luft. Sturmwolken zogen von Westen auf. Dann wurde es noch einmal hell, die Wolken zum Horizont getrieben, weit weg über die Werft am anderen Ufer. Herrenlos. Er mochte die Schnelligkeit dieser Wandlungen am Himmel lieber noch als die Bewegungen der Schiffe. Bei Sonne Segelboote, weiß die meisten, manche blau-weiß gestreift, eines mit rotbraunen Segeln. Piratenbraun. Motorboote, Fähren ins Alte Land und nach Krautsand, Containerschiffe und Tanker auf dem Weg in den Hafen, ins offene Meer, unter den Flaggen aller Herren Länder. Schwarz, Rost und Mennigrot, von dieser rauhen, zweckmäßigen Schönheit, so anders und doch so ähnlich den alten, erhabenen Schriften.

Das Telefon läutete. Eine freundliche Stimme fragte nach den Wünschen fürs Mittagessen. Fleisch, Fisch, vegetarisch. Sie mußte die Frage wiederholen, ehe Musbach sich für Fisch entschied. Er sah weiter aufs Wasser, den Himmel; ein strahlend weißer Passagierdampfer trieb langsam stromabwärts inmitten lichter Schaumkronen, winzige Menschen an Deck winkten in Richtung der Uferhänge, zeigten sich Häuser und Türme; der Himmel darüber nun voller unbehaglicher schwarzer Wolken.

Trotz der Jahre, die Hans Musbach hier schon so wohlumsorgt verbracht hatte, fand er noch immer wenig Gefallen an diesen gemeinsamen Mahlzeiten. Es fiel ihm schwer, Gespräche zu begleiten, die oft von der Gegenwart nur mehr aufnehmen wollten, was aus ferner Vergangenheit betrachtet wichtig zu sein schien. Wie ein langsam vertrocknender Teich, dem der einst quellende Bach versiegt war, erschien ihm seine Gesellschaft; durchaus noch wache Leute, aber meist, als säßen die Augen nun im Hinterkopf und nicht mehr vorn, unter einer nachdenklichen Stirn.

Fast vierzig Jahre lang waren seine Gesprächspartner junge Menschen gewesen, oft keine einfachen Schüler und auch nicht immer so neugierig, wie er es sich gewünscht hätte. Aber jung, Gegenwartsmenschen, Zukunftsmenschen. Zuerst hätten es seine Kinder sein können, später seine Enkel, doch zu alt hatte er sich mit ihnen nie gefühlt, auch wenn er im stillen manche Aufmüpfigkeiten und lässigen Tabubrüche mißbilligt hatte. Das Leben begann ja mit jedem Schuljahr wieder von vorne, und das hatte ihn glücklich gemacht.

Jetzt war seine Tochter festes Glied zwischen Gestern und Heute in ihren täglichen, gemeinsamen Stunden. Pädagogin wie er. Musbach wußte nur zu gut, was er brauchte und was ihm fehlte. Es war nicht der Verlust seiner gewohnten Häuslichkeit, die er erst verlassen hatte, als er spürte, daß Katja zuviel Zeit und besorgtes Nachdenken für sein tägliches Leben aufwenden mußte. Er vergaß auch nicht, daß er mit diesem Platz an der Elbe, umgeben von liebgewonnenen Gegenständen, so etwas wie das große Los gezogen hatte. Ihm fehlte das Gespräch mit jungen Leuten, das war nun mal die unausweichliche Folge des Alters. Er mußte noch immer lernen, damit gelassener und geduldiger umzugehen. Was hier im Hause jung war, das arbeitete entweder in der Bedienung, in der Küche oder im Zimmerdienst; bei der Massage oder in der ärztlichen Versorgung. Da gab es kaum Zeit, aber sicher auch wenig Interesse für Gespräche mit den Bewohnern; über Höflichkeiten kam man selten hinaus. Er mußte das begreifen, »abhaken«, wie es hieß. »Cool« sein. Wer es kann.

Musbach wusch sich die Hände, fuhr mit dem Kamm durchs Haar, ein spärliches Weiß, aber gut geschnitten, rückte die Fliege zurecht und nahm den Aufzug zum Speisesaal, der zu ebener Erde hinter der Eingangshalle lag. Selten verfehlte dieser großzügige, elegante Raum seine Wirkung auf Besucher, die glauben mochten, ein Luxushotel zu betreten. Ungehindert ging der Blick durch deckenhohe Fenster auf die Elbe, bequeme Sitzmöbel standen um niedrige Tische, viel Grün in stilvollen Töpfen. Einer der Bewohner hatte dem Haus die Plastik gestiftet, einen dieser meterhohen Hasen des amerikanischen Künstlers Salle, messingglänzend poliert, einen Vorderlauf angewinkelt, den anderen gereckt wie zum Gruß. Musbach fand die Plastik etwas albern, aber doch immerhin besser als manche sogenannten Arbeiten, mit Titeln wie »Eternity« oder »Projekt 1–4«, für sein an der Klassik geschultes Auge unverständlich, ja Hochstapelei: Des Kaisers neue Kleider. Die Halle war leer. Nur Emil am Empfang winkte ihm gutgelaunt: Beeilung!

Alles war schon im Speisesaal versammelt. Auch hier hatte die Heimleitung Umsicht bewiesen. Die »Herrschaften«, wie das Personal die Bewohner in den Gesellschaftsräumen nannte, im Unterschied zu den Kranken- und Pflegetrakten, die Herrschaften saßen in der Regel zu sechst an runden Tischen und waren je nach geistiger Befindlichkeit gruppiert. Die Rüstigen durften ihren Platz an der Sonne genießen, buchstäblich, am Fenster mit Blick aufs Wasser. Geld war hier nicht mehr der Maßstab; auch die Bewohner der teuren Elbblick-Appartements wurden, wenn sie ihre Umgebung kaum noch wahrnahmen, nach hinten, in die Nähe der Küche gesetzt. So konnte schnell jemand hinzuspringen, passierte an einem dieser sogenannten schwachen Tische ein Malheur, etwa daß ein Löffel herunterfiel – Messer und Gabel gab es hier nicht, nur Kleingeschnittenes wurde serviert – oder allzuviel von den Mahlzeiten auf Brustlatz oder Schürze platschte. Eins von beiden bekam an diesen Tischen jeder umgebunden, je nach dem Stadium des Verfalls der Motorik, wie man Tattrigkeit freundlich technisch umschrieb. Gefüttert schließlich wurde auf den Zimmern. Dann gab es keine Herrschaften mehr, nur noch Patienten.

Natürlich saß Hans Musbach an einem der besten Tische, sogar nur zu fünft, ein Privileg. Mit echten Blumen. Auf den »schwachen Tischen« blühte Plastik, übergroße Rosen oder Tulpen oder Nelken. So konnten sich die Vergeßlichen ihre Plätze merken, wenn sie schon nicht mehr genau wußten, was eine Zahl war.

Der Regen hatte sich verzogen, Mittagslicht fiel durch die hohen Fenster, die Oberlichter standen offen, von draußen das Kreischen der Möwen, von ferne Gehämmer, die Werft. Man hatte bereits mit der Suppe begonnen und war in angeregter Unterhaltung; das sah Musbach schon von weitem. Worüber man sprach? Besonders die beiden Frauen? Wahrscheinlich über den plötzlichen Tod ihrer Rommépartnerin. Das Alter, man war sich einig, ist eben so. Starb einer, wurde der unter freundlichen Nachrufen ausgiebig zu Grabe getragen, in den Stimmen der leise bebende Triumph der Lebenden über die Toten, glücklich, diesmal davongekommen zu sein.

Kaum hatte Musbach Platz genommen, brach das Gespräch ab. Die Damen wußten, mit welchem Sarkasmus er derlei Würdigungen zum Verstummen bringen konnte.

»Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt.« Frau Mulde, ehemals Handarbeits- und Hauswirtschaftslehrerin, hielt ihren Suppenlöffel in der Schwebe und blickte Musbach an, als könne erst ein »Eins, setzen!« des Oberstudienrats sie aus ihrem Bann erlösen.

»Jaja«, pflichtete ihr der Baß des beleibten Gegenübers bei. »Wer zu spät kommt an den Tisch, findet frisch nicht mehr den Fisch. Frei nach Gorbatschow, haha.« Er heiße Dicks wie Fix, pflegte er sich vorzustellen. Ehe ihm die Heimleitung dezente Kleidung nahegelegt hatte, war er zu den Mahlzeiten in einem grüngelb schillernden Sportanzug erschienen. Nicht nur den Tischgenossen fiel diese unentwegte Reimerei auf die Nerven. Dafür konnte man sicher sein, daß er, jahrzehntelang Redakteur für die letzte Seite der Wochenendbeilage der hiesigen Tageszeitung, nie zweimal denselben Witz erzählte. An Tisch »Freesie« bildete er das possenreißende Gegenstück zu Musbachs unaufdringlicher Bildung.

Dieser murmelte ein kurzes Grußwort, nahm einen Löffel Suppe, schob den Teller beiseite und nickte Frau Sippel geistesabwesend zu, als bedürfe sie einer Aufmunterung. Die aber hatte sich schon abgewandt, um Frau Mulde einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Der zerstreute Professor war offenbar wieder »in Gedanken«. Ungeduldig ruckte Frau Sippel an ihrer Frisur, die sich wattig um den Schädel bauschte; hier und da schimmerte rosige Kopfhaut durch. Wo blieb der Hauptgang? Überbackener Blumenkohl und gekochter Schinken, ihr Leibgericht. Frau Mulde, so hager wie die andere mollig, stichelte, für sie sei doch alles Eßbare ein Leibgericht und ziemlich alles...

Erscheint lt. Verlag 26.11.2013
Reihe/Serie Romane
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2. Weltkrieg • Abenteuerroman • Aufarbeitung des Dritten Reichs • Bestsellerautorin • Deutsche Gegenwartsliteratur • Deutsche Lyrik • eBooks • Familiengeheimnis • Hannelore-Greve-Literaturpreis • Kriegsverbrechen • Nachkriegsdeutschland • Roman • Romane • Vater-Tochter-Beziehung • Vergangenheitsbewältigung • Wehrmachtsausstellung • Wehrmachtsverbrechen • Weltkrieg • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-13523-0 / 3641135230
ISBN-13 978-3-641-13523-2 / 9783641135232
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