Tage mit Echo (eBook)

Zwei Erzählungen
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30726-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tage mit Echo -  Peter Härtling
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Vom Glück des Aufbruchs und der Tragik des unerwarteten Endes: Peter Härtling erzählt von letzten Dingen Ein Buch, zwei Geschichten, ein Thema. Peter Härtling folgt zwei Figuren: seinem Alter Ego Robert Brodbeck und dem jungen Maler Carl Philipp Fohr. Der eine ist ein alternder Schauspieler, der als Vorleser durch die Republik reist, der andere ein junger Maler der Romantik, der nach Rom wandert und dort zu einem großen Werk ansetzt.Beide leben sie im Aufbruch und kosten das Leben aus. Brodbeck ist fasziniert von der Idee, letzte Bücher großer Schriftsteller vorzulesen, und reist nach Klütz. Das kleine Städtchen in Mecklenburg-Vorpommern ist das Vorbild für Uwe Johnsons Jerichow, und Brodbeck wird einen Sommer dort verbringen, um die »Jahrestage« vorzulesen. Es wird ein Sommer der unerwarteten Begegnungen, der wundersamen Vermischung von Fiktion und Wirklichkeit, der Belebung und der Erschöpfung, an dessen Ende das nächste Vorhaben steht: Fontanes »Stechlin« in Potsdam. Carl Philipp Fohr wächst Ende des 18. Jahrhunderts in Heidelberg auf, hadert mit der Schule und will nur eines: Maler werden. Dank engagierter Lehrer und großzügiger Mäzene wird sein Talent frühzeitig gefördert. Aber Fohr will sich aus den akademischen Zwängen befreien und bricht nach Rom auf, wo er Anschluss an die Kreise der Deutschrömer im Café Greco findet und den Plan für ein großes Gruppenbild entwirft - zu dem es leider nicht mehr kommt.Wie in seinen großen Künstlerromanen erzählt Peter Härtling einfühlsam, anschaulich und fesselnd von zwei Männern, die sich der Kunst verschrieben haben.

Peter Härtling, geboren 1933 in Chemnitz, gestorben 2017 in Rüsselsheim, arbeitete zunächst als Redakteur bei Zeitungen und Zeitschriften. 1967 wurde er Cheflektor des S. Fischer Verlages in Frankfurt am Main und war dort von 1968 bis 1973 Sprecher der Geschäftsführung. Ab 1974 arbeitete er als freier Schriftsteller. Peter Härtling wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hessischen Kulturpreis 2014 und dem Elisabeth-Langgässer-Preis 2015. Das gesamte literarische Werk des Autors ist lieferbar im Verlag Kiepenheuer & Witsch, zuletzt erschien sein Roman »Gedankenspieler« (2018).

Peter Härtling, geboren 1933 in Chemnitz, gestorben 2017 in Rüsselsheim, arbeitete zunächst als Redakteur bei Zeitungen und Zeitschriften. 1967 wurde er Cheflektor des S. Fischer Verlages in Frankfurt am Main und war dort von 1968 bis 1973 Sprecher der Geschäftsführung. Ab 1974 arbeitete er als freier Schriftsteller. Peter Härtling wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hessischen Kulturpreis 2014 und dem Elisabeth-Langgässer-Preis 2015. Das gesamte literarische Werk des Autors ist lieferbar im Verlag Kiepenheuer & Witsch, zuletzt erschien sein Roman »Gedankenspieler« (2018).

I Brodbeck und die letzten Bücher


1.


Der Wind blieb in der Sonne kühl. Brodbeck rückte seinen Stuhl in die Ecke, die sonst von den spielenden Enkeln beansprucht wurde. In seinen Gedanken war er dieser Bewegung schon voraus, und wieder machte ihm eine Widersinnigkeit zu schaffen: Er verhielt sich wie ein alter, kränkelnder Mann. Das war er sowieso, über das Pensionsalter hinaus, achtundsiebzig, doch noch immer, nach zwei Infarkten, ruhelos, unterwegs auf Vortragsreisen, ein altes Bühnentier. In zwei Tagen würde er wieder aufbrechen, Morgenstern vortragen, Ringelnatz und einen Abend lang Hölderlin. Manchmal geriet er ins Straucheln, musste pausieren, und Frau und Kinder spotteten über seinen Hang, sich produzieren zu wollen. Er wehrte sich gegen diese Unterstellungen, es mache ihm Lust, Sprache laut werden zu lassen, ähnlich wie Noten zum Klingen zu bringen.

Er sei unverbesserlich, wurde ihm bescheinigt. Doch wenn er schon seiner Lust nachgebe, solle er aufhören zu klagen. Ja, er klagte über Schmerzen in den Beinen, über Atemnot, einen steifen Hals, klagte abwechselnd darüber, klagte auch über das »ewige Programm«, mit dem er auftrete, alles schon bekannt, bis ihm sein Ältester spöttisch riet, er solle doch, wenn er schon fürchte, nur noch ein letztes Mal auftreten zu können, aus letzten Büchern vortragen. Das hätte Sinn und wäre ein Programm, das seiner Situation und seiner trüben Laune entspräche.

Der Einwurf zündete. Brodbeck begann, dem Thema nachzugehen, machte es zu seinem Auftrag und schrieb während der beiden Tage, die ihm vor der Abreise blieben, eine Liste mit letzten Romanen. Keineswegs ein langweiliger Stoff. Zum Beispiel Fontanes »Stechlin« und Johnsons »Jahrestage«.

Er rief seine Agentin an, ärgerte sich, dass er aus Unsicherheit umständlich wurde, erst einmal über die Bedeutung solcher Schlusspunkte philosophierte und die Madame ihn brüsk berichtigte: Aber mein Lieber, der »Stechlin« ist ein ziemlich dicker Schlusspunkt. Und wie, frage ich Sie, soll ich das Unternehmen anbieten? Wollen Sie 24 Stunden lesen? Welches Honorar wünschen Sie als Vertreter der letzten Dinge? Er kannte diesen Ton. Madame scheute sich vor schwierigen Gesprächen mit Kulturreferenten und Literaturhauskönigen, vor Absagen, die sie ihm weitersagen musste.

Sagen Sie einfach Letzte Bücher und nennen Sie die Titel. Sie bekommen noch eine Liste von mir. Ich rate Ihnen, mit Tübingen zu beginnen, die Intendantin des dortigen Theaters ist mir gewogen, ich könnte mich für die Spanne der »Jahrestage« bei Freunden einquartieren und dann Samstag und Sonntag in Matinéen lesen. Sie versprach ihm, sich mit Tübingen in Verbindung zu setzen.

 

Er lief über die Wiese, die sich vor den Ferienbungalows ausbreitete, Bolzplatz für die Kinder, stolperte über ein paar säuberlich abgestellte Laufschuhe, fluchte, winkte Emanuel, dem jüngsten Enkel, zu, der in einen der Strandkörbe hineinkletterte, sich zurücklehnte und in Siegerpose zurückwinkte.

Er musste sich mit Lena besprechen, sie würde, vermutete er, gegen seine langen Abwesenheiten meutern und er wiederum die Aussicht auf ordentliche Honorare dagegensetzen. Der obligatorische Inselurlaub mit der Familie hatte die Kasse geleert.

In ein fiktives Gespräch mit Lena vertieft, schlenderte er hinüber ins Hotel, ein Glas Wein könnte jetzt das zwiefältige Selbstgespräch befeuern, obwohl Wein ihm nicht unbedingt von seinem Hausarzt verordnet worden war. Auf dem Spielplatz, neben dem Restaurant, hatten drei seiner Enkel die Rutsche besetzt, wiesen schreiend, um sich schlagend, andere Kinder ab. Er beobachtete die Auseinandersetzung und wehrte sich gegen den Wechsel der Empfindungen: Er war zum einen beschämt, zum andern stolz.

Er winkte dem Wirt, dessen Aufstieg zum Hotelier er nach der Wende mit Respekt verfolgt hatte, sagte ihm, dass er wahrscheinlich vorzeitig Hiddensee verlassen werde.

Ob er eine Rolle angeboten bekommen habe?

Nein, er spiele schon eine Weile nicht mehr Theater, er trage vor, habe aber eine Idee, die ihm möglicherweise Engagements einbringen werde. Er ärgerte sich über sein konjunktivisches Gerede, über möglich und wahrscheinlich.

Sind Sie da sicher?, fragte ihn der Wirt.

Er redete den aufkommenden Ärger weg: Das überlasse ich meiner Agentin.

Der Mann nickte: Klar.

Solche Gespräche, die aus der Balance zu geraten drohten, beunruhigten Brodbeck. Er stand auf: Bis heute Abend!

Wenn jetzt noch jemand versuchte, ihn aus der Bahn zu werfen, würde er um sich schlagen.

Susi, seine Agentin, sollte am Abend anrufen, ihm mitteilen, ob Tübingen klappte. Wann und unter welchen Bedingungen würde er dann erfahren, Lena und die Kinder zusammentrommeln und ihnen erklären, worum und wohin es geht.

 

Er verriet sich jedoch, indem er einer idiotischen Manie nachgab: Sobald anstrengende Auftritte bevorstanden, schützte er sich und seine Stimme. Überall dort, wo ihn ein Luftzug erwartete, legte er einen Schal aus, ein Alarmzeichen sogar für die Enkel.

Beim Abendessen an der langen Tafel behauptete Therese, das älteste Enkelkind, dass der Opa bald wieder verreisen werde. Überall lägen seine Schals. Womit sie die speisende Runde in Unruhe und Brodbeck in Verlegenheit versetzte.

Hast du Termine?, fragte Lena. Warum verschweigst du sie uns? Und warum – Spott färbte die Stimme – hast du zu deinem Gang über die Wiese keinen deiner Schals umgelegt?

Das fragte er sich auch. Er hätte sich tatsächlich erkälten können.

Ich könnte Schals in der nächsten Zeit brauchen, denn ich werde meine Stimme schonen müssen.

Lena legte mit Nachdruck das Besteck neben dem Teller ab: So geschwollen redest du nur, wenn du eine Dauerplage anzukündigen hast.

Er lächelte sie an, ihre Empörung rief in ihm den Wunsch wach, sie zu umarmen, er sprach mit vollem Mund: Du weißt ja, ich habe einen Stapel Bücher mitgenommen, um mich für Lesungen anregen zu lassen. Mit Maja Katzor, der Münchener Kollegin, habe ich wenigstens ein paarmal Zweistimmigkeit verabredet, dialogische Stücke. Unter den Büchern, die der Zufall stapelte, fand ich auch Döblins »Hamlet«, seinen letzten Roman, genauer »Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende«, ein Buch, das er unmittelbar nach dem Krieg schrieb, das, obwohl vom großen Döblin, der nun ein mit Misstrauen empfangener Remigrant war, von einigen Verlagen abgewiesen und schließlich vom Aufbau-Verlag in der sowjetischen Zone, im russischen Sektor von Berlin, angenommen und veröffentlicht wurde.

Er schluckte den Brocken weich gekauten Fleischs herunter. Es ist eine elende Geschichte. Döblin hat darunter gelitten. Er ist danach in Emmendingen gestorben, in der französischen Zone, in der er als französischer Offizier allerlei gründete, die Zeitschrift »Das goldene Tor« und die Mainzer Akademie. »Hamlet« war das letzte Buch des Mannes, der »Berlin Alexanderplatz« schrieb. Das letzte Buch!

Er stand auf.

Emanuel rief: Der Opa will eine Rede halten. Aber niemand hat Geburtstag.

Mit kindischem Trotz erwiderte er dem Enkel: Ich werde aber eine halten, Emanuel. Eine über Schals, letzte Bücher und längere Aufenthalte. Also, bei Döblin wurde mir klar, was letzte Bücher, letzte Romane bedeuten. Sie stehen am Ende, setzen aber keins. Wer ein letztes Buch schreibt, hofft immer, noch ein nächstes schreiben zu können. Aber er hat möglicherweise eine Ahnung. Das letzte Buch ist nicht das letzte für den Autor, sondern für die Leser. Und doch ziehen letzte Bücher, was mich erstaunt, Summen. Denkt auch an den »Stechlin«.

Den kenn ich nicht, warf Emanuel ein.

Wir auch nicht, murmelte beinahe die ganze Familie im Chor.

Ihr werdet sie kennenlernen! Brodbeck ließ sich auf den Stuhl sinken und wischte mit der Serviette die Lippen trocken.

Lena reagierte, wie er es erwartet hatte: Du wirst dich übernehmen, Robbi. Sie rückte ihren Stuhl nahe neben den seinen und fasste nach seiner Hand.

Du kannst ja mitkommen.

Sie ließ ihn los: Das kostet. Das geht nicht.

Auf diesen eher gestammelten Einwand ließ er sich nicht weiter ein und brachte die bedrückte Frühstücksrunde mit einem Satz durcheinander: Es ist von hier aus sowieso nicht weit bis Jerichow.

Bis wohin?, rief eins der Kinder.

Und Lena fragte nicht ihn, sondern sich selber: Was hat das »letzte Buch« mit der Bibel zu tun?

Ja, was? Er lehnte sich an sie und strich ihr mit der Hand über den Nacken. Klütz, ein paar Kilometer von hier entfernt, ist das Jerichow in Johnsons »Jahrestagen«, die Heimat von Gesine Cresspahls Familie.

Das wusste ich nicht, gab Lena kleinlaut zu, was einen der Enkel empörte: Solch einen Scheiß musst du auch nicht wissen, Oma.

Brodbeck spürte in der Hand, die auf ihrem Nacken lag, ihr Lachen und ließ sich anstecken. Auf alle Fälle brauche ich das Buch hier und jetzt. Und ich bin mir sicher, dass die Vitter Bücherstube dieses mecklenburgische Werk nicht im Sortiment hat.

Lena seufzte: Willst du dir dieses Abenteuer wirklich antun?

 

Er nahm sich vor, die Buchhandlung aufzusuchen, denn es würde eine Weile dauern, bis die vier Bände die Insel erreicht hatten.

Mit ihnen bereitete er sich auf Tübingen vor, seine Agentin stutzte jedoch die Hoffnung auf eine Tournee mit den letzten Büchern. Die Idee habe auch sie überzeugt, doch nun müsse sie die Veranstalter überreden. Das ganze Unternehmen wachse sich zu einer Organisations- und Kostenfrage aus. Hast du eine...

Erscheint lt. Verlag 2.10.2013
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Cafe Greco • Café Greco • Carl Philipp Fohr • Kunst • Künstlerroman • Lesereise • letzte Dinge • Maler • Peter Härtling • Robert Brodbeck • zwei Erzählungen
ISBN-10 3-462-30726-6 / 3462307266
ISBN-13 978-3-462-30726-9 / 9783462307269
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