Idioten. Fünf Märchen (eBook)

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2013 | 1. Auflage
160 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60373-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Idioten. Fünf Märchen -  Jakob Arjouni
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Was, wenn einem eine Fee einen Wunsch gewährt? Einziger Haken: Die Klassiker, also Wünsche betreffend Unsterblichkeit, Gesundheit, Geld und Liebe, sind ausgeschlossen. Außerdem hat, wie alles im Leben, auch die Wunscherfüllung zwei Seiten. Fünf moderne Märchen über Menschen, die sich lieber blind den Kopf einrennen, als einen Blick auf sich selber zu wagen Menschen also wie Sie und ich.

Jakob Arjouni, geboren 1964 in Frankfurt am Main, veröffentlichte Romane, Theaterstücke, Erzählungen und Hörspiele. Er war 21 Jahre alt, als sein Frankfurter Privatdetektiv Kemal Kayankaya in ?Happy birthday, Türke!? zum ersten Mal ermittelte. Es folgten vier weitere Fälle, für ?Ein Mann, ein Mord? erhielt Jakob Arjouni 1992 den Deutschen Krimipreis. Sein Werk ist in 23 Sprachen erschienen. Jakob Arjouni starb 2013 in Berlin.

Jakob Arjouni, geboren 1964 in Frankfurt am Main, veröffentlichte Romane, Theaterstücke, Erzählungen und Hörspiele. Er war 21 Jahre alt, als sein Frankfurter Privatdetektiv Kemal Kayankaya in ›Happy birthday, Türke!‹ zum ersten Mal ermittelte. Es folgten vier weitere Fälle, für ›Ein Mann, ein Mord‹ erhielt Jakob Arjouni 1992 den Deutschen Krimipreis. Sein Werk ist in 23 Sprachen erschienen. Jakob Arjouni starb 2013 in Berlin.

[37] Besiegt

Mit fünfundzwanzig war Paul einer, auf den man setzte. Nach zwei Jahren Berliner Filmakademie und drei hochgelobten Kurzfilmen galt er bei seinen Lehrern und den Beobachtern von Filmproduktionen und Filmfördergremien als das größte Talent seines Jahrgangs. Auch die, denen sein Ehrgeiz und sein unbeirrbarer, oft fanatischer Wille, sich immer und überall durchzusetzen, zuwider waren, mußten zugeben, daß er im Vergleich zu seinen Mitstudenten als einziger das Zeug dazu hatte, eine außergewöhnliche Karriere zu starten. Während die anderen Studenten Drehbücher über Pärchenprobleme, heitere Verwechslungen oder Kleinkriminellenschicksale schrieben, als Vorbilder Truffaut, Billy Wilder und immer wieder Scorseses Mean Streets nannten und bei einer Seminaraufgabe lange überlegten, ob sie einen verzweifelten Mann, der seiner Frau seine Entlassung gestehen mußte, leicht gebeugt über die Straße gehen lassen sollten oder gerade im Gegenteil mit übertrieben weit ausholenden Schritten, handelten Pauls Drehbücher immer mindestens von der ganz großen Liebe, der Freundschaft und dem Tod, seine Vorbilder waren Leone, Coppola und Cimino, und den verzweifelten Mann ließ er besoffen auf allen vieren in die Wohnung kriechen, den Flur und die Frau vollkotzen und [38] zwischendurch laut verkünden, er sei in seiner Firma zum Topmitarbeiter des Jahres gewählt worden. Und während den anderen diese kleine Szene ziemlich egal war und sie auf deren Realisierung im zweiten Teil des Seminars gerne verzichtet hätten, baute Paul sie aus (zur Feier des Tages und um sich für das vollgekotzte Kleid zu entschuldigen, führte der Mann seine Frau am Abend in ein teures Restaurant, traf dort auf den Personalleiter, der ihn am Morgen entlassen hatte, und erstach seine Frau, ehe sie die Wahrheit erfahren konnte), lieh sich das nötige Geld zusammen und machte einen Sechsminutenfilm in Cinemascope daraus.

Bei Paul mußte immer alles groß und umwerfend sein, und er besaß genügend Kraft, Mut und Furchtlosigkeit, das auch meistens hinzukriegen. Um so härter traf es ihn, als Kraft, Mut und Furchtlosigkeit ihn zum ersten Mal verließen.

Während der Arbeit am Drehbuch für seinen von vielen mit Spannung erwarteten Abschlußfilm – eine Geschichte über drei Berliner Arbeitslose, die nach Sibirien trampten, um dort nach Gold zu graben, sich unterwegs verliebten, zerstritten, trennten, wiederfanden und schließlich bis auf einen erfroren – schlich sich etwas in sein Leben. Was genau und warum, blieb ihm lange ein Rätsel, nicht zuletzt weil er was und warum nicht wirklich fragte. Unterbewußt hoffte er wohl, daß sich das, was sich da eingeschlichen hatte, bei hartnäckiger Nichtbeachtung auch wieder davonschleichen würde.

Es begann mit panischen Momenten. Kurz meinte er, den Halt zu verlieren, so als hätte er eine Stufe übersehen [39] und träte ins Leere. Das konnte am hellichten Tag passieren und geschah beim Gehen, Stehen und sogar Sitzen. Beim Sitzen kam es ihm vor, als falle er samt Stuhl oder Bank für einen Augenblick runter. Gleich darauf durchzuckte es ihn wie elektrisch, und sein Herz begann zu rasen. Wenn sich das Herz wieder beruhigte, blieben der Schock und eine Art Bewußtlosigkeit mit offenen Augen.

Einmal war er während eines solchen Moments in der Kantine der Filmakademie auf dem Weg zur Theke gewesen, um sich ein Mineralwasser zu holen. Von den Umsitzenden kaum bemerkt, stand er wie gelähmt da, bis ein Bekannter vorbeikam und fragte: »Na, gerade ’nen genialen Einfall?« Paul guckte erst erschrocken, rang sich ein Lächeln ab und begann, nur um irgendwas Lebendiges zu machen und weil er seinen Beinen die restlichen paar Schritte zur Theke nicht zutraute, sich heftig im Nacken zu kratzen. »Ja, ’nen genialen Einfall. Hab mir gerade überlegt, daß –« – »Erzähl’s mir später, ich hab so einen Hunger.« Paul kratzte sich immer noch, als der Bekannte schon eine Weile über einem Teller Auflauf saß. Als Paul endlich bei der Theke ankam, bestellte er Bier.

In der Folgezeit wurde Bier zu etwas, das er ständig in seiner Nähe haben mußte. Am Anfang reichte eine Flasche, um weitermachen zu können, dann brauchte er zwei, dann vier, die Momente kamen öfter und wurden länger, Paul begann vorsorglich zu trinken, erst nur vor wichtigen Besprechungen, dann vor jeder Situation, bei der er auf Menschen traf, bis er nach vier Monaten einen Kasten à zwanzig Flaschen pro Tag leerte. Die Grenze zwischen Ausnahme und Normalität verschwamm. Pauls [40] Leben wurde zu einer immer gleichen Abfolge von Zuständen, die kaum mehr Platz für irgendwas anderes ließen: Angst vor dem Moment, der Moment selber, Erleichterung darüber, den Moment überstanden zu haben, Angst vor dem nächsten Moment. Das einzige, in das er sich hin und wieder flüchten konnte, war die Arbeit an seinem Drehbuch. Wenn es lief, wenn es ihm gelang, sich zu konzentrieren und sich völlig in die Figuren und Situationen hineinzubegeben, vergaß er die Angst für eine Weile. Doch meistens sah er sich einfach nur ungelenken Sätzen auf Papier gegenüber. Oft dachte er über mögliche Zusammenhänge nach. Manchmal schienen ihm die Ängste überhaupt die Voraussetzung für echte Kreativität zu sein, dann wieder glaubte er, an seinen Zuständen sei nur die Furcht schuld, am Drehbuch zu scheitern. Eine Zeitlang glich sein Verhältnis zum Schreiben dem zu einer Droge. Je mehr er hoffte, daß es ihn rettete, entführte, beruhigte, und je öfter er am Schreibtisch saß, desto schwächer der Effekt. Immer längeres vorm Computersitzen und ein immer größerer Papierverbrauch führten bald zur Abhängigkeit ohne erleichternde Wirkung. Nach zwei Tagen und zwei Nächten ununterbrochenen Schreibens, Ausdruckens, Durchstreichens, Papierzusammenknüllens und Eine-Zigarette-nachder-anderen-Rauchens beschloß er schließlich einen Entzug. Für eine Woche sollte der Schreibtisch tabu bleiben. Dafür: tägliches Spazierengehen, regelmäßiges Essen und wahlloses, rein lustbestimmtes, nicht nach intellektuell oder filmwissenschaftlich Verwertbarem suchendes Fernsehen. Was damit tatsächlich nachließ, waren die ›Momente‹. Weniger Schritte ins Leere, kaum noch Herzklopfen. [41] Doch anstatt zu entspannen und die Arbeit für eine Weile zu vergessen, machte er sich während der folgenden Tage um so mehr Gedanken über sie. Und weil er sich streng daran hielt, den Schreibtisch zu meiden, und keinen einzigen Gedanken an seinen Laptop loswurde, fühlte sich sein Kopf bald ständig an wie kurz vorm Explodieren. Am Ende der Woche schlief und aß er kaum noch, führte beim Spazierengehen laute Dialoge mit sich selber in verschiedenen Tonlagen und dachte vorm Fernseher selbst bei den Nachrichten nur darüber nach, wie er sie besser inszeniert hätte. Als er endlich an den Schreibtisch zurückkehrte, kamen ihm die ersten Stunden wie eine Erlösung vor – bis sich schon am nächsten Tag der alte Trott aus Ängsten und verzweifeltem Ringen um Dialogsätze wieder einstellte. Doch verglichen mit der Entzugswoche erschien ihm das bei weitem erträglicher.

Zur Filmakademie ging er inzwischen nur noch selten, und wenn, dann mehr oder weniger betrunken, was allerdings niemandem auffiel. Die ständige Angst ließ nicht zu, daß er sich gehenließ, torkelte oder lallte. Sie verbrannte den Alkohol zu schnell, als daß er zur normalen Wirkung kommen konnte. Betty, seine Freundin, die in Hamburg als Fotoredakteurin arbeitete, bat er immer öfter, ihn an ihren freien Tagen nicht zu besuchen. Er schreibe Tag und Nacht am Drehbuch, er sei in einer Phase, in der er lieber allein bleibe, er habe Grippe, Besprechungen, irgendwas. Wenn sie doch mal kam, ließ er sie spüren, daß sie das besser gelassen hätte. Er zog sich in seine ›Momente‹ zurück, auch wenn er gar keine hatte. Saß in der Ecke, starrte vor sich hin, sprach kaum, auf Fragen reagierte er meistens [42] verneinend. Wenn Überarbeitung und Anspannung Betty als Erklärung nicht mehr reichten, ging er kurz zum Angriff über. Was verstehe sie schon von seinem Zustand? Was er hier zu schaffen versuche, sei schließlich nicht irgendeine Fotoserie über die nächste Frühjahrsmode, sondern eine neue, eigene, eineinhalb Stunden funktionierende Welt. Und dazu brauche es nun mal Zurückgezogenheit, Stille und hin und wieder einen ordentlichen, den Alltag wegspülenden Suff. Die ersten Male versuchte Betty es mit Verständnis, dann mit Gegenangriffen: »Bevor du eine neue Welt schaffst, versuch doch erst mal, von dieser hier was mitzukriegen«, schließlich mit scharfer Sachlichkeit: »Ich seh aber keine neue Welt, ich seh nicht mal ein neu beschriebenes Blatt Papier. Das einzige, was ich jeden Tag sehe, sind neue leere Flaschen.« Irgendwann hörte sie auf, ihn zu besuchen, und wenig später beschlossen sie, einander fürs erste nicht mehr anzurufen.

Während dieser Wochen schrieb Paul etwa zwanzig Fassungen des dritten Akts. Keine gefiel ihm. Spätestens beim zweiten Durchlesen erschienen ihm die Sätze, ob es sich um Dialoge oder Szenenbeschreibungen handelte, zu gewöhnlich, zu unbedeutend, zu flüchtig. Mit eigener, neuer Welt meinte er nichts Außerirdisches (was, so glaubte er, Betty darunter verstanden habe: eine Geschichte über Marsmenschen oder Dinosaurier. Tatsächlich hatte Betty ziemlich genau verstanden, was er meinte), sondern einen unabhängig von Zeiten und Zuständen funktionierenden Mikrokosmos. Denn die besten Filme, fand Paul, waren die, bei denen er das Gefühl hatte, die Leute auf der Leinwand bräuchten ihn als Zuschauer nicht. Irgendwann kam [43] ihm der Gedanke, daß solche Filme, weil sein Alltag und Befinden für...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2013
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Feen • Filmregisseur • Geschichten • Journalist • Komik • Märchen • Werbefirma • Wünsche
ISBN-10 3-257-60373-8 / 3257603738
ISBN-13 978-3-257-60373-6 / 9783257603736
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