Ehrensachen (eBook)

Roman

(Autor)

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2013 | 1. Auflage
444 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75435-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ehrensachen -  Louis Begley
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Harvard, Anfang der fünfziger Jahre: Wo die Sprößlinge der Ostküstenelite ihre soziale Stellung einüben, zählen vor allem Stil, Prestige und die Einladungslisten der wichtigen Partys. Herkunft ist alles, doch Henry, ein rothaariger und obendrein schlecht angezogener Schlaks aus jüdischer Familie, hat nur Talent vorzuweisen, anders als seine Zimmergenossen Sam und Archie, die aus reichen Elternhäusern stammen. Der Außenseiter will seine Herkunft abschütteln und sich Zutritt zur mondänen Jeunesse dorée verschaffen, doch der Preis des amerikanischen Traums ist hoch - und die Frau, die er liebt, scheint unerreichbar zu bleiben. Neben Lügen in Zeiten des Krieges ist Ehrensachen das persönlichste Buch, das Louis Begley geschrieben hat. Bis in die Gegenwart hinein folgt er dem Schicksal seiner Protagonisten und erzählt eine Geschichte von Selbsterfindung, Liebe und großer Freundschaft.

<p>Louis Begley, 1933 in Polen geboren, arbeitete bis 2004 als Anwalt in New York. Als Schriftsteller wurde er mit seinem Roman<em> L&uuml;gen in Zeiten des Krieges</em> weltweit bekannt. Seine B&uuml;cher wurden in 18 Sprachen &uuml;bersetzt und vielfach ausgezeichnet.</p>

II


Man sagt, niemand, der nicht im Ancien régime gelebt habe, dürfe behaupten, die Sonnenseite des Lebens zu kennen. Vielleicht sind die hohen Annehmlichkeiten des Studentenlebens am Harvard College um 1950 ebenso unvorstellbar geworden. Es war nichts Besonderes, daß meine beiden Mitbewohner und ich in einem der älteren Studentenheime eine Suite mit drei Schlafzimmern bewohnten, alle so geräumig, daß außer dem Bett noch ein Schreibtisch und ein paar Stühle darin Platz hatten, und dazu ein Wohnzimmer, das mir in der Erinnerung groß vorkommt. In unserem Gebäude gab es in jedem Stockwerk Toiletten und Duschen für alle am Ende des Flurs, aber hätten wir zufällig in einem neueren Studentenheim gewohnt, dann hätte unsere Suite ein eigenes Bad gehabt. Ältere irische Putzfrauen, liebevoll »Muttchen« genannt, kamen täglich außer sonntags zum Reinigen und Bettenmachen. Gegen geringes Entgelt wuschen sie auch Socken und Unterwäsche. Eine von der Universität finanzierte Wäscherei holte Bettlaken und Bezüge ab und brachte sie gewaschen und gebügelt zurück; ich bin fast sicher, daß der Anblick eines Studenten, der einen Waschautomaten füttert, damals weitgehend unbekannt war. Angeblich bedienten sich die Muttchen freizügig, wann immer sie alkoholische Getränke in einem Studentenzimmer fanden. Mir ist so etwas nie passiert. Andererseits versäumte ich nie, meinem Muttchen, wenn es kam, während ich da war, unabhängig von der Tageszeit einen Drink anzubieten. Das Muttchen, das in meinem dritten Collegejahr für mich sorgte, hatte eine ausgesprochene Vorliebe für Curaçao, und ich achtete darauf, daß ich immer eine Flasche zur Hand hatte. Höhere Semester wohnten in Häusern, die vor dem Krieg unter der Ägide von Präsident Lowell nach dem Muster der Colleges von Oxford und Cambridge gebaut worden waren. Eines der Häuser trug seinen Namen. Jedes hatte einen Eßsaal, Aufenthaltsräume und eine Bibliothek, deren Qualität von Haus zu Haus verschieden war, einen Leiter, der im Haus wohnte, sowie innerhalb oder außerhalb des Hauses untergebrachte Tutoren. Erst seit kurzem gab es keine Kellner mehr in den Eßräumen oder der Mensa, sondern Selbstbedienung wie in einer Cafeteria – eine Maßnahme zur Kostendämpfung, über die sehr geklagt wurde.

Gesellschaftlich gesehen, galten alle Studentenwohnheime gleich viel; da die Bewohner jedes Jahr wechselten, hatte keines genug Zeit, ein individuelles Profil anzunehmen. Allenfalls konnte man die besseren sanitären Anlagen in den neueren Heimen gegen höhere Decken und größere Zimmer in den älteren abwägen. Anders stand es mit den Häusern. Ihre besonderen Merkmale und ihr Ansehen hingen davon ab, wie geschickt der Hausherr Erstsemester aussieben und profilierte Tutoren anwerben konnte. Zwei Häuser standen nach der gesellschaftlichen und intellektuellen Hackordnung obenan. In einem zählten fast nur Gelehrsamkeit und akademischer Erfolg, so daß ungepflegte oder exzentrische Bewohner geduldet wurden, wenn sie viel leisteten. Talente und Leistungen vieler Tutoren und Kollegiaten im anderen Haus waren genausogroß. Aber daß ein Student brillant war, reichte dort nicht immer. In seiner rastlosen Suche nach Perfektion ließ sich der Hausherr von Instinkten leiten, ungefähr so untrüglich wie die der Oberkellner oder der chefs de salle im Stork Club, dem »21« oder dem Maxim’s, die auf einen Blick erkannten, ob ein essenswilliger Gast zugelassen werden und an welchem Tisch er plaziert werden sollte. Wie seinen Kollegen in der Welt des eleganten Dinierens schwebte dem Hausherrn ein gesellschaftlicher Blütenstrauß vor, der einem großen Salon Ehre gemacht hätte, in seinem Fall allerdings von Jahr zu Jahr frisch gepflückt werden mußte. Er sehnte sich nach Kollegiaten, deren persönliche Eigenschaften und Ahnen ihm erlaubten, sie seine »amerikanischen Orchideen« zu nennen – eine Auszeichnung, die er bereitwillig zum Beispiel jedem Nachkommen von John Adams verlieh, vorausgesetzt, er hatte sich, soweit man wußte, nicht öffentlich mißliebig gemacht. Söhne und Enkel ausländischer Berühmtheiten hatten fast die gleiche Wirkung auf seine Phantasie, vor allem dann, wenn er eine Möglichkeit sah, sie höchst vorteilhaft miteinander zu kombinieren, wenn es ihm etwa gelang, die Enkel des größten lebenden französischen Malers, eines milliardenschweren östlichen Potentaten und des berühmtesten irischen Schriftstellers zu Zimmergenossen zu machen. Wider mein besseres Wissen bewarben Henry, Archie und ich uns im zweiten Semester unseres ersten Studienjahres fristgerecht um Aufnahme in dieses Haus. Mir war nicht wohl bei der Sache, und ich schwankte, ob ich mich dagegen aussprechen solle, aber ich hätte meine Gründe offenlegen müssen, und so machte ich dann doch mit. Mein Ärger wurde zum muffigen Schweigen, und während der Gespräche, erst mit dem leitenden Tutor Thomas Peabody, einem Mediävisten, in dessen Seminar ich war, dann mit dem Hausherrn, machte ich kaum den Mund auf. Als wir in das Büro des Hausherrn gebeten wurden, saß er in einem riesigen Sessel, zappelig, ständig die Beine übereinanderschlagend und wieder nebeneinanderstellend, bis er sie schließlich unter sich zog. Seine Fragen waren ausschließlich an Henry gerichtet. Er gab zu, Henrys Vorgeschichte sei rätselhaft und spannend für ihn – diese Worte wiederholte er mehr als einmal –, sie sei sehr ungewöhnlich, genauso wie seine Freundschaft mit Archie und mir.

White, fragte er zum Schluß, fühlen Sie sich ganz und gar wohl mit Ihren Zimmergenossen?

Henry war darauf vorbereitet.

Ganz und gar wohl habe ich mich noch nie mit jemandem gefühlt, antwortete er. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das wäre.

Wie außerordentlich, rief der Hausherr, genauso empfinde ich auch! Une âme sœur!

Trotz dieses Ausbruchs von Sympathie erhielten Henry und Archie einige Wochen danach einen von Peabody unterschriebenen Brief mit der Nachricht, sie würden in einem Studentenheim für die höheren Semester untergebracht, die keinen Platz in einem der Häuser gefunden hätten. Weiter stand in dem Brief, die Herren White und Palmer dürften sich, davon abgesehen, selbstverständlich als dem Haus assoziiert betrachten, insbesondere an den Mahlzeiten teilnehmen und die Bibliothek benutzen. Falls in ihrem vorletzten Studienjahr oder auch später eine geeignete Wohnung frei werde, würden sie dafür in Frage kommen. Wenn es nur um die Qualität der Unterbringung gegangen wäre, hätte man dieses Ergebnis als Glück bezeichnen können, denn das betreffende Wohnheim war ein luxuriöses Bauwerk aus dem ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Suiten waren ebenfalls luxuriös. Aber Leute, denen solche Dinge wichtig waren, sahen das Heim als Lagerraum für Abgewiesene. Das war bitter. Es hätte zu Verstimmungen zwischen Henry und Archie führen können, denn Henry glaubte, ohne ihn würde man Archie aufgenommen haben. Archie, der ein Ehrenmann war, hielt dagegen, sie seien beide gleich unerwünscht, und ließ sich davon nicht abbringen.

Am Ende gab es auch zwischen den beiden und mir keine Mißstimmung. Bevor wir alle drei uns um einen Platz in dem Haus bewarben, hatte ich ihnen gesagt, ich würde um eine Wohnung für eine Einzelperson bitten und lieber keine mit ihnen teilen. Als Grund dafür gab ich an, daß wir keine Chance hätten, eine Suite mit drei Schlafzimmern und einem Wohnzimmer zu bekommen, und da ich unbedingt ein Zimmer für mich allein brauchte, könnten wir nicht mehr so wie bisher zusammenwohnen. Ihre prompte Reaktion war das Angebot, ich könne das Einzelzimmer haben, sie würden das Zweibettzimmer nehmen, aber ich blieb fest, obwohl ich gern mit Henry zusammengewohnt hätte. Wohnungen für eine Person waren in den Häusern rar, deshalb hatte ich vermutet, daß wahrscheinlich ich der sein würde, der allein in einem Wohnheim für Abgewiesene landete und lebte. Ich war überrascht, als Peabody mir mitteilte, daß ein Student im dritten Jahr, der in einer solchen Suite gewohnt hatte, das College verlasse und ich seinen Platz gern einnehmen könne.

Die Zwänge unseres verwöhnten College-Lebens kann man sich vielleicht auch nicht mehr vorstellen. Sie beruhten auf der unausgesprochenen Überzeugung, daß es zu den Zielen höherer Erziehung gehöre, die sexuelle Aktivität der Jugendlichen hinauszuzögern, indem man sie zur Teilnahme an anstrengenden sportlichen Übungen ermunterte und die Gelegenheiten zu privaten Kontakten mit dem anderen Geschlecht begrenzte. Deshalb wohnten in den Studentenheimen und Häusern des Harvard College nur männliche Studenten. An sich gab es keine Studentinnen in diesem College, aber eine Formel namens »gemeinsamer Unterricht« brachte eine kleine Minderheit von Radcliffe-Mädchen in alle Kurse außer Astronomie und Leibeserziehung. Das eine Fach erforderte nächtliche Exkursionen zur Sternbeobachtung, die Gelegenheit zu Fehlverhalten bieten mochten. Daß gemeinsamer Turnunterricht ausgeschlossen war, bedurfte keiner Erklärung, die Anwesenheit von Mädchen in einer sportlichen Einrichtung für Männer schien undenkbar. Der Sprachgebrauch, der festlegte, daß die Radcliffe-Studentinnen Mädchen waren, wir dagegen Männer, wurde von niemandem in Frage gestellt. Damenbesuche in Harvards Wohnheimen und Häusern unterlagen strengen Beschränkungen. Der Zutritt zu den Wohnheimen war für Studentinnen verboten; wer mit einem Mädchen verabredet war, durfte jedoch im Gemeinschaftsraum im Erdgeschoß ihres Heims warten, bis seine Freundin kam; wie mir später klar wurde, hatte dieser Raum eine fatale Ähnlichkeit mit dem Aufenthaltsraum eines besseren Bestattungsunternehmens. In unserem ersten Jahr am College durften Mädchen sich am Nachmittag zwischen vier und sieben...

Erscheint lt. Verlag 16.9.2013
Übersetzer Christa Krüger
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Matters of Honor, 2007
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Geschichte 1950-1960 • Geschichte 1960-2000 • Harvard College • Juden • Rechtsanwalt • Schriftsteller • ST 3998 • ST3998 • Student • suhrkamp taschenbuch 3998 • USA
ISBN-10 3-518-75435-1 / 3518754351
ISBN-13 978-3-518-75435-1 / 9783518754351
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