Moor (eBook)

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2013 | 2. Auflage
441 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73452-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Moor -  Gunther Geltinger
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Wenn es gut läuft für den dreizehnjährigen Dion, wenn also seine Mutter hinreichend nah und die Grenze zwischen ihr und ihm gerade richtig gezogen ist, dann ist auch das Moor eine Landschaft voller Verheißungen. Dion wohnt seit dem Tod des Vaters, der Bauer war, allein mit seiner Mutter in einem norddeutschen Dorf, im letzten Gebäude hinter den Ställen. Morgens, wenn die Mutter ihr Bad im Moor nimmt, kann er den Wind in den Binsen hören. Aber wenn die Mutter, eine erfolglose Künstlerin, ihr Scheitern mit einer grenzüberschreitenden Liebe zum Sohn kompensiert, erlebt Dion das ganze Elend des zu früh erwachsen gewordenen. Gunther Geltinger schont niemanden, nicht seine Figuren, nicht seine Leser. Er schildert das sexuelle Erwachen Dions, die tabletten- und alkoholsüchtige Mutter, die Grausamkeiten aus dem Dorf.

<p>Gunther Geltinger wurde 1974 in Erlenbach am Main geboren und lebt heute in Köln. Er studierte Drehbuch und Dramaturgie an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien und an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Sein Debütroman <em>Mensch Engel</em> erschien 2008 bei Schöffling, sein zweiter Roman, <em>Moor,</em> 2013 im Suhrkamp Verlag.</p>

eins.
HERBST


Niemand spricht hier. Wo du hinlauschst, ist Wasser, stehen Erlen, in den Binsen zerrt Wind. Auch der Nebel hat keinen Ton, nur seine Gestalten, die aus dem Nichts kommen, dich anstarren und gehen. Den Worten am ähnlichsten ist noch der Regen. Er rauscht in fließenden Sätzen herab, gerät über den Bäumen ins Stocken, stottert auf Blätter die Konsonanten, gluckst dunkle Vokale in Mulden, und wenn das eine ins andere tropft, eine Bö fauchend durchs Laub fährt, flinke Wellen aufwirft, den Dunst zerreißt und das Schilf verwirrt, hörst du in alldem doch meine Stimme.

Du hockst auf dem Baumstumpf, Schirm vorm Gesicht, Schultern gebuckelt, dein Finger steckt im Mooskissen an der Wurzel, oder ist es die Pflanze, die am Finger klebt, eine geheime Berührung, irgendwie zärtlich. Der Film auf den Blättern fühlt sich schmierig an, wie der Tropfen, den du dir am Morgen aus der Schlafanzughose gewischt hast. Du gibst dem Gefühl die Farbe Weiß. Weiß sind die Morgen mit Marga am Teich. Ihr Bademantel, der Dampf in den Gräben, das unentschlossene Licht zwischen den Stämmen und ihr Spiegelbild auf dem Wasser, das erst braun und durchsichtig wird, wenn die Sonne steigt. Als du noch Kind warst, musstest du an Cola denken, ein tiefes Loch voll dort, wo der alte Ast hineingreift und etwas beharrlich nach unten drückt, du hast dir vorgestellt, wie es ist, in der Brause zu ertrinken. Doch der Baum hat sich noch nie bewegt, nichts tauchte je auf, jetzt bist du dreizehn, und selbst wenn die Mittagssonne senkrecht steht, ist das Wasser dort schwarz, grimmig und verschwiegen, wie heute in dem Traum, aus dem Marga dich weckte.

Du warst nackt und in lebensgefährlicher Tiefe, mehr hast du nicht mehr gewusst, als sie die Bettdecke wegzog und dein Blick wie jeden Morgen auf die große Wanduhr fiel, auf der ursprünglich ein dottergelber Mond freundlich grinste, den sie als Geburtstagsgeschenk zum blutroten Kopf einer Heidelibelle übermalt hatte, ihr erster Angriff auf deine Kindheit, so dass nun nicht mehr das gütige Nachtgesicht, sondern ein Raubinsekt die Zeit deiner Träume bemisst, aus den Facettenaugen des Zifferblatts, das kurz nach sieben anzeigte, und das Zimmer noch dunkel, jetzt war der Sommer endgültig vorbei. Sie drückte dir den Kuss mit dem Schlafgeruch auf die Stirn und sagte: Guten Morgen, Liebling, gehen wir zum Teich?

Du blickst auf deine Armbanduhr. Schon kurz vor halb acht. In vierzig Minuten beginnt die Deutschstunde, in der du dein Referat halten musst, Thema: die Libelle. Du hättest es gerne noch mit der Mutter geübt. Sie steht im Nachthemd am Ufer, im feuchten Seidenstoff zeichnen sich die Konturen ihres Körpers ab, Brust, Hüftknochen, die Höcker des Rückgrats wie unter einer zweiten Haut. Sie pellt sich heraus, ruft: Schau zu den Erlen!, und wirft dir das Bündel zu. Du streckst die Hand aus, eine automatische Bewegung, bei Wind und Wetter an unzähligen Morgen einstudiert, du beherrschst sie buchstäblich im Schlaf, denn die Müdigkeit kehrt zurück und lähmt deine Augen, die eine Sekunde zu tief in das Nest zwischen ihren Schenkeln dringen, das sie dir in der Wurfbewegung zukehrt und gleichzeitig vor dir verbirgt, einen Arm halb ausgestreckt, den anderen geknickt über dem Schoß, wie zwei zaghaft auffächernde Flügel. Wenn eine Libelle schlüpft, heißt es in deinem Vortrag, ist ihr der neue Körper noch fremd. Der Moment kommt dir verlangsamt vor, eine Zeitlupe wie am Morgen, als du beim Erwachen die Holzuhr sahst und sich auf dem Insekt der Sekundenzeiger nicht mehr zu regen schien, dann aber doch zur nächsten Ziffer sprang.

Das Nachthemd klatscht dir kalt ins Gesicht, du schreckst hoch. Jeden Tag hat sie sich vor dir ausgezogen, doch erst jetzt verstehst du, warum du immer zu den Erlen schauen solltest. Sie kreist die Arme, dehnt den Rücken, steht schon mit den Füßen im Wasser. Du frierst vom Hals abwärts, nur auf den Wangen spürst du plötzlich die Hitze. Wie sie dir ihre Blöße vorführt. Dein Blick flieht ans gegenüberliegende Ufer, doch die Erlen sind überall, die Erlen umstehen den ganzen Teich, erst bei dem abgespaltenen Ast bleibst du hängen. In dem Traum, erinnerst du dich, warst du an dieser Stelle unter Wasser, eingeschlossen in das brausende Dunkel, und als du um Hilfe rufen wolltest, quoll dir der Torf in den Mund. Dein Körper schwoll von innen gegen die Haut und zerbarst. Dann muss der Ast dich hochgerissen haben, du schlugst die Augen auf.

Zu spät, sie hielt dich schon in der Hand. Du hast sie weggestoßen und dich umgedreht, in die Ritze zwischen Wand und Matratze. Die Erektion fühlte sich anders an, härter, fordernd, war nicht mehr so zufällig wie gestern, als du dich noch schlafend auf den steilen Gipfel gewälzt hast und von dem plötzlichen Druckgefühl erwachtest. Auch die Libelle auf der Uhr kam dir röter vor, lauernd, die Mundwerkzeuge schienen nur darauf zu warten, beim nächsten Ruck des Sekundenzeigers vorzuschnellen. Marga beugte sich über dich, du hast ihr Gewicht an deinem Hals gespürt und das Badeöl gerochen, Lavendel, ihren sogenannten Wohlfühlduft, in dem sie sich bis Mitternacht räkelt. Hast kaum atmen können, im Kragen staute sich die Luft. Die Feuchtigkeit löste auch die Gerüche aus tieferen Hautschichten, bitteren Schlafschweiß, der von ihren Tabletten rührt, Spuren von Parfum und kaltem Qualm, darunter etwas Saures, Abgestandenes, von ihrem Besäufnis am Vorabend oder noch vom Teich. Da hast du die Augen wieder geschlossen, um dir mehr Platz zu schaffen. Dich zurück in den Schlaf gewünscht, als sie deine Hand unter das Nachthemd auf den Bauchnabel schob. Weiter unten das Haar, weicher als Wollgras, doch borstiger als am Baumstumpf das Moos. Heute Nacht, sagte sie, habe sie geträumt, sie sei wieder mit dir schwanger. Das knotige Nabelloch mit der Grasritze darunter hast du dir als Eingang zu einer mit Moorwasser gefüllten Schwimmblase vorgestellt, die ein stummes, glitschiges Wesen ausquetscht, dich, Dion, den schmiegsamen Jungen mit dem komischen Namen, für den du nichts als Spott und Gelächter geerntet hast. Alle Kinder hat der Storch gebracht, nur Dion nicht, den hat das Moor gemacht, das war der Spruch gewesen, der dir entgegenkrähte, wenn du morgens vom Teich in den Kindergarten gestolpert bist, regennass und mit schmutzigen Schuhen an den anderen Müttern vorbei, die ihre Söhne und Töchter trocken und warm verpackt hatten. Ob sie dir nicht reiche, hatte Marga erwidert, als du sie wieder einmal nach deinem Vater fragtest. Tatsächlich ähnelst du keinem Mann im Dorf, ja kaum deiner Mutter. Sie ist strohblond, du hast moorbraunes Haar mit Rotstich und Sommersprossen um die Nase, die im August, deinem Geburtsmonat, zeitgleich mit der Besenheide blühen, auf einer schlaffen, ein wenig schwammigen, sommers wie winters farblosen Haut, die keine Hitze verträgt, sich in der Sonne buchstäblich aufzulösen droht wie morgens der Nebel. In Margas Augen spiegelt sich grau bis kobaltblau der Himmel, deine aber haben schon immer lieber in die dunklen Tümpel gestarrt, den Libellenlarven entgegen, die zum Schlüpfen ans Licht steigen.

Selbst deine Sprache hast du angeblich von mir. Das hat Gorbach dir gesteckt, der Klassenlehrer, als dir beim Vorlesen aus dem Deutschbuch nur ein Blubbern über die Lippen kam. Du bist stumm wie ein Tümpel, hat er gestöhnt und den Nächsten aufgerufen. Die Klasse kicherte, Benno, dein Banknachbar, las wie geschmiert, unter deiner Zunge staute sich noch immer der Speichel, ein Tröpfeln und Drippeln wie in den verborgenen Rinnsalen der Schlenken, wo das Wasser steigt und fällt und doch nie fließt. Beim Vorlesen, Abfragen und Referieren quellen dir die Worte in den Mund, sauber gereiht zu langen, strömenden Sätzen, die dann als Spuckebläschen in die Welt platzen, mitten hinein in dein Gestammel und in die Sehnsucht nach einer anderen und ungefährlichen Sprache ohne Klingen und Kanten, weich und makellos wie morgens die Stille am Teich. Du willst nur noch in den Geräuschen des Moores sprechen, mit meinen Stimmen dein Schweigen durchbrechen, flüsternd bei Regen, brüllend im Sturm, und wenn du dich doch an einem Wort feststotterst, hören die anderen von dir nur ein Pladdern in den Traufen oder das leise Knacken der Tothölzer draußen im Bruch.

Irgendwann bist du raus aus der Enge ihrer Umarmung und mit einem Sprung vor die offene Schranktür, die deine Erregung halbwegs verbarg. Sie stand auf, ging zum Fenster und war plötzlich sehr weiß vor dem aufscheinenden Tag. Deinen Pimmel habe ich schon gekannt, als er noch eine Larve war, sagte sie in die Morgendämmerung hinaus, sprach es in den Nebel, der sicher bald als Regen niedergehen würde, mit einer Stimme, die scharf und beleidigt klang, wie immer, wenn du sie verärgert hast. Einen quälend langen Moment der Drang, sie in den Arm nehmen und trösten zu müssen, für etwas, das du nicht benennen konntest. Noch immer sauer wegen gestern?, fragte sie und kam herüber, und da erst hast du die kaputte Lippe gesehen.

Der Zustand ihres Mundes ist schon immer ein Gradmesser für ihre Stimmungen gewesen. Du kannst ihr die Laune buchstäblich von den Lippen ablesen, glatte bedeuten guter, aufgeplatzte schlechter Tag, dann hat sie nicht malen können und auf der Unterlippe gekaut, eine schlaflose Nacht gehabt oder etwas getan, das sie im Nachhinein bereut, selten sind Mund und Gemüt deiner Mutter ohne Risse und Wunden.

Ute sei krank geworden, da habe sie einspringen müssen. Sie legte dir die Hand auf die Schulter, du hast sie weggewischt und im selben Moment wieder nehmen und fest an dich drücken wollen. In der Galerie war viel los, fügte sie hinzu, keine Zeit zum Anrufen, eine Behauptung, die du ihr noch nie geglaubt hast. Sie sagte es...

Erscheint lt. Verlag 9.9.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Außenseiter • Belletristische Darstellung • Einsamkeit • Erzählungen • Männliche Jugend • Mutter • Pubertät • Roman • Romane • Schwul • Schwule • Sohn • ST 4562 • ST4562 • suhrkamp taschenbuch 4562
ISBN-10 3-518-73452-0 / 3518734520
ISBN-13 978-3-518-73452-0 / 9783518734520
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