Versuch über den Pilznarren (eBook)

Eine Geschichte für sich

(Autor)

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2013 | 1. Auflage
217 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73419-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Versuch über den Pilznarren -  Peter Handke
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2012 nahm Peter Handke mit seinem »Versuch über den Stillen Ort« die Reihe seiner Versuche wieder auf. Nur ein Jahr später beschließt er sie, endgültig, wie der Dichter selbst sagt, mit einem fünften und letzten erzählenden Essay, dem »Versuch über den Pilznarren« - worin die Pilze für den Helden der Geschichte nicht nur Passion, sondern das letzte Abenteuer, das Abenteuer an sich sind.

<p>Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (K&auml;rnten) geboren. Die Familie m&uuml;tterlicherseits geh&ouml;rt zur slowenischen Minderheit in &Ouml;sterreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach K&auml;rnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (K&auml;rnten) und das dazugeh&ouml;rige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im M&auml;rz 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschlie&szlig;enden Pr&uuml;fung abgebrochen, erscheint sein erster Roman <em>Die Hornissen</em>. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legend&auml;ren Theaterst&uuml;cks <em>Publikumsbeschimpfung </em>in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann.</p> <p>Seitdem hat er mehr als drei&szlig;ig Erz&auml;hlungen und Prosawerke verfasst, erinnert sei an: <em>Die Angst des Tormanns beim Elfmeter </em>(1970), <em>Wunschloses Ungl&uuml;ck</em> (1972), <em>Der kurze Brief zum langen Abschied </em>(1972), <em>Die linksh&auml;ndige Frau </em>(1976), <em>Das Gewicht der Welt</em> (1977), <em>Langsame Heimkehr </em>(1979), <em>Die Lehre der Sainte-Victoire </em>(1980), <em>Der Chinese des Schmerzes </em>(1983),<em> Die Wiederholung </em>(1986), <em>Versuch &uuml;ber die M&uuml;digkeit</em> (1989), <em>Versuch &uuml;ber die Jukebox</em> (1990), <em>Versuch &uuml;ber den gegl&uuml;ckten Tag</em> (1991), <em>Mein Jahr in der Niemandsbucht </em>(1994), <em>Der Bildverlust </em>(2002), <em>Die Morawische Nacht</em> (2008), <em>Der Gro&szlig;e Fall</em> (2011), <em>Versuch &uuml;ber den Stillen Ort</em> (2012), <em>Versuch &uuml;ber den Pilznarren</em> (2013). </p> <p>Auf die <em>Publikumsbeschimpfung </em>1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgef&uuml;hrt, <em>Kaspar. V</em>on hier spannt sich der Bogen weiter &uuml;ber <em>Der Ritt &uuml;ber den Bodensee </em>1971), <em>Die Unvern&uuml;nftigen sterben aus </em>(1974), <em>&Uuml;ber die D&ouml;rfer</em> (1981), <em>Das</em> <em>Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land </em>(1990), <em>Die Stunde da wir nichts voneinander wu&szlig;ten</em> (1992), &uuml;ber den <em>Untertagblues </em>(2004) und <em>Bis da&szlig; der Tag euch scheidet </em>(2009) &uuml;ber das dramatische Epos <em>Immer noch Sturm</em> (2011) bis zum Sommerdialog <em>Die sch&ouml;nen Tage von</em> <em>Aranjuez </em>(2012) zu <em>Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstra&szlig;e</em> (...

»Und wieder wird es ernst!« sagte ich vorhin unwillkürlich zu mir selber, bevor ich mich auf den Weg zu dem Schreibtisch hier machte, wo ich jetzt sitze in der Absicht, mir über die Geschichte meines verschollenen Freundes, des Pilznarren, eine gewisse – oder eine eher ungewisse – Klarheit zu verschaffen. Und weiter sagte ich unwillkürlich zu mir selber: »Das darf doch nicht wahr sein! Daß es sogar ernst wird beim Angehen und Niederschreiben einer Sache, welche wohl ganz und gar nichts Weltbewegendes an oder in sich hat; einer Geschichte, zu welcher mir im Vorfeld (ein Wort, das einmal am Platz ist) dieses Versuchs der Titel eines jahrzehntealten italienischen Films in den Sinn kam, mit Ugo Tognazzi in der Titelrolle: Die Tragödie eines lächerlichen Mannes – nicht der Film selber, allein dieser Titel.«

Dabei ist die Geschichte meines ehemaligen Freundes nicht einmal eine Tragödie, und ob er jemand Lächerlicher war oder ist: Schon das ist mir unklar, und wird und wird mir auch nicht klar; und wieder unwillkürlich sage und schreibe ich jetzt: »Möge das so bleiben!«

Noch ein Film kam mir, bevor ich mich auf den Weg zu dem Schreibtisch hier machte, in den Sinn. Da war es freilich nicht der Titel, sondern eine der Anfangsszenen, wenn nicht überhaupt die Szene des Anfangs. Es handelte sich da – wieder einmal … – um einen Western, von – erraten – John Ford, und James Stewart sitzt am Anfang der Geschichte als der berühmte Sheriff Wyatt Earp, scheint’s lang lang nach seinen inzwischen legendären Tombstone-Abenteuern, müßig-träumerisch wie nur James Stewart auf der Veranda seines Sheriffbüros in der südlichen texanischen? Sonne und läßt, dem Anschein nach so friedlich wie entschieden, unter der Krempe seines halb über die Augen gezogenen Hutes nichts als die Zeit vergehen, beneidenswert und zugleich ansteckend. Dann aber, sonst wäre das ja keine Wildwestgeschichte, der Aufbruch ins neue Abenteuer, zu Beginn eher widerwillig und, erinnere ich mich recht?, verlockt nur vom Geld, und es geht da eher nord- als westwärts. In der Folge allerdings, und insbesondere am Ende der Geschichte: das selbstverständliche Eingreifen, die sanfte Aufmerksamkeit, die still helfende Geistesgegenwart, wie wieder einzig James Stewart sie ausgestrahlt hat und weiterhin ausstrahlt. Nicht nur »Two Rode Together«, frei nach dem Titel des Films, wo der zweite Reiter Richard Widmark ist: mehr Leute ritten am Ende zusammen, viele, wenn nicht (fast) alle. Warum mir gerade der Anfang dieses Films, mit dem ausgestreckten Beinpaar, in Stiefeln, des so ansteckend trägen, keinen Finger rührenden, den sogenannten Ordnungshüter selbstbewußt dem, ja, befreienden Lachen preisgebenden Sheriffs vor dem, ja, Aufbruch zum Schreibtisch gegenwärtig wurde?

Ich saß da gerade selber so mit ausgestreckten Beinen, in Stiefeln. Allerdings war das auf keiner Veranda, und auch nicht im tiefen Süden, sondern im düsteren Norden, fern von Sonne und Sonne, die Beine auf der Fensterbank innen in einem jahrhundertealten Haus mit fast meterdicken Mauern und draußen die Schwaden des Spätherbstregens, und ein kalter Wind, der aus den schon durchsichtigen Buchenwäldern des Plateaus durch die Scheibenritzen strich, und die Stiefel waren Gummistiefel, ohne die kaum ein Gehen möglich, schon gar nicht querfeld- oder querwaldein, und diese Stiefel zog ich, als ich mich dann aufmachte zum Schreibtisch, ›aus‹, streifte sie ab draußen vor der Haustür, an einem Ding, das einmal »Stiefelknecht« hieß, in meinem Fall ein altertümliches Ding aus schwerem Eisen, in Gestalt einer überdimensionierten Schnecke, deren metallenes Fühlerpaar mir die Stiefel von den Fersen hobelte und hebelte, und dann mit ein paar Schritten hinein durch die nächste Tür in den Anbau, den kleinen Schuppen, den »Annex«, wie ich ihn nenne, hier an den Tisch zum Schreiben.

Wie das? Die paar Schritte hinaus und hinein an den Schreibtisch ein »Weg«? Ein »Sich-auf-den-Weg-Machen«? Ein »Aufbruch«? So kam es mir vor. So habe ich es erlebt. So war es. Und inzwischen dämmert es schon novemberlich unten in der Ebene, die sich vom Fuß des Plateaus, an dessen Steilkante ich sitze, zu den großen Horizonten noch weiter nordwärts zieht, und die Lampe auf dem Tisch ist eingeschaltet. »Soll es doch ernst werden.«

Ein Pilznarr war mein Freund schon sehr früh, wenn auch in einem anderen Sinn als in seinen späteren oder gar späten Jahren. Erst da, gegen das Alter hin, kam über ihn als den Narren eine Geschichte in Betracht. Geschichten über Pilznarren sind ja nicht wenige geschrieben worden, in der Regel, oder sogar ausnahmslos?, von den Narren persönlich, die von sich als »Jäger« oder jedenfalls als Aufspürer, Sammler und Naturforscher reden. Daß es überhaupt nicht nur die Pilzliteratur, die Pilzbücher, gibt, sondern eine Literatur, wo einer von den Pilzen im Zusammenhang mit seiner eigenen Existenz erzählt, scheint erst in neuerer Zeit, vielleicht überhaupt erst nach den zwei Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts, so recht der Fall geworden zu sein. In der Weltliteratur des neunzehnten Jahrhunderts spielen die Pilze in kaum einem Buch mit, und wenn, dann klein, im Vorbeigehen, und ohne Verhältnis zu gleichwelchem Helden, stehen eher für sich allein, wie etwa bei den Russen, Dostojewski, Tschechow.

Eine einzige Geschichte ist mir im Sinn, wo jemand, wenn auch bloß für eine Episode, in die Pilzwelt verwickelt wird, ohne sein Zutun, ja gegen seinen Willen, und das geschieht im Roman Far from the Madding Crowd von Thomas Hardy – England, spätes neunzehntes Jahrhundert – der schönen jungen Heldin, die sich nachts auf dem Land irgendwo verirrt, in eine Grube voll mit riesigen Pilzen rutscht und dort, umzingelt von den unheimlichen Gebilden, die zusehends zu wachsen und sich zu vermehren scheinen, bis zum Morgengrauen in der Pilzgrube gefangen bleibt (so jedenfalls meine ferne Erinnerung).

Und jetzt, in der ganz neuen, in, wie sagt man?, »unserer« Zeit häufen sich anscheinend die Erzählwerke, worin die Pilze eher ihrer Rolle in den Phantasmagorien der Allgemeinheit nachkommen, entweder als Mordwerkzeuge oder als Mittel zur, wie sagt man?, »Bewußtseinserweiterung«.

Nichts von dem allen, weder der Pilzjäger als Held, noch als der Träumer vom vollkommenen Mord, noch als der Vorläufer eines anderen Ich-Bewußtseins, soll in dem »Versuch über den Pilznarren« erzählt werden. Oder, in Ansätzen, vielleicht doch? So oder so: Eine Geschichte wie die seinige, wie die sich ereignet hat, und wie ich sie, zeitweise aus nächster Nähe, miterlebt habe, ist jedenfalls noch keinmal aufgeschrieben worden.

Sie hat begonnen mit dem Geld, vor langer Zeit, als der zukünftige Pilznarr noch ein Kind war, begonnen mit dem Geld, auf welches das Kind bis in den Schlaf hinein aus war, wo nachtlang auf allen Wegen die Münzen glänzten, die dann keine waren, begonnen mit dem Geld, das ihm, ob in der Nacht oder am Tag, fehlte, und wie. Daß er tagsüber, wo er ging oder stand, den Kopf so hängen ließ, hieß allein: er äugte zu seinen Füßen nach einer Wertsache, wenn nicht nach einem verlorenen Schatz. Warum er in der Tat nie Geld hatte, höchstens dann und wann eine Kleinstmünze, mit der nichts, aber schon gar nichts anzufangen war, und auch zuhause kaum je ein Geld, schon gar keine Scheine, zu Gesicht bekam, das tut hier nichts zur Sache. Wie konnte er bloß zu Geld kommen? Und er war dabei nicht einmal habgierig – gierig, es bei sich zu haben –: hätte er es eines Tages, würde er sich auf der Stelle auf den Weg machen und es ausgeben, er wußte schon, lange schon, wo und wofür.

Wie es sich traf, wurde in der Nähe des Dorfs, wo er aufwuchs, eine »Pilzsammelstelle« eingerichtet. Es war das die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg, da der Handel und die Märkte im allgemeinen auf eine neuartige, eine im Vergleich zur Zwischenkriegszeit verwandelte Art wiederauflebten, und im besonderen der Handel und Austausch zwischen den ländlichen Gegenden und den größeren Städten, deren Bewohner frisch auf den Geschmack für noch nie Gekostetes (und nicht bloß importiert aus den Tropen oder sonstwoher) kamen, und im ganz Besonderen der Handel mit den Waldpilzen, den, anders als die »Champignons«, weder in Kellern noch Bergstollen züchtbaren, sondern wilden, jeweils aufzustöbernden, was mit dazu beitragen konnte, zumindest fern in den Städten, zum Geschmack von etwas Seltenem, einer Delikatesse.

Jene Pilzsammelstelle, wo die Funde der ganzen, ziemlich waldigen Gegend gegen Bezahlung hingeliefert werden konnten und von wo sie in einem gehäuft vollen Lastwagen in die Stadt weitergeliefert wurden, jenes Sammelhaus war es, welches das geldversessene Kind seinerzeit auf die Sprünge brachte. In die Natur war der spätere Pilznarr zuvor eher für nichts und wieder nichts aufgebrochen. Nichts und wieder nichts: Das war in der Regel das bloße Rauschen, Brausen, Sausen oder auch nur das Lispeln der Bäume, und dafür drang er auch gar nicht eigens ein in die Wälder oder sonstwohin, sondern hockte sich dort hin an den Rand, und hockte und hockte, und blieb und blieb, mit dem Rücken zu den Bäumen, vor sich das eher leere Land.

Von den Säumen in die Tiefe und dann in das Innerste der Wälder ging es erst aus den genannten Geldgründen. Die Wälder der Kindheitsgegend waren vor allem Nadelwälder, und überdies fast ausschließlich, bis auf die lichteren Lärcheninseln oben in den Berglagen, die Fichten, mit ihrem besonders dichten Nadelkleid, und diese Bäume wuchsen jeweils nah beieinander, die Äste und Zweige ineinander verzahnt und verflochten, und finster und finsterer...

Erscheint lt. Verlag 9.9.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Essay • Leidenschaft • Mann • Pilze
ISBN-10 3-518-73419-9 / 3518734199
ISBN-13 978-3-518-73419-3 / 9783518734193
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