Metroland (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30756-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Metroland -  Julian Barnes
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Christopher Lloyd wächst in Metroland auf, dem Londoner Vorort, der von der Metropolitan Line bedient wird. Er und Tony gehen in die gleiche Klasse - und heben sich von den anderen Schülern ab, indem sie sich in Weltverachtung üben. Nach der Schule trennen sich zunächst ihre Wege: Christopher geht nach Paris, wo er in den Armen seiner ersten Freundin den Beginn der 1968er Studentenrevolution verschläft.1977 ist Christopher ruhig geworden, ein Familienmensch, während sein Freund Tony als radikaler Publizist immer noch die Verwirklichung der gemeinsamen Jugendideale einfordert.

Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London.

Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London.

3 Kaninchen, Mensch


»RuuuiiinIIIIIIIIiiiert …«

Das war der Schlachtruf der Schule, so lang gezogen und moduliert, wie wir uns Hyänengeheul vorstellten. Gilchrist gab die gellendste, schreckensvollste Version von sich; die von Leigh hatte mitten in den Heullauten einen gebrochenen Schluchzer; aber alle machten ihn zumindest angemessen. Er war, wenn auch spielerisch, Ausdruck der zwanghaften Kastrationsängste männlicher Jungfrauen. Ausgestoßen wurde er bei jeder passenden Gelegenheit: wenn ein Stuhl umgestoßen, ein Fuß getreten, ein Federmäppchen verschwunden war. Selbst in unsere parodistische Art, einen Kampf anzufangen, fand er Eingang: Die Kombattanten rückten gegeneinander vor, die Linke wie einen Tiefschutz stramm über der Leiste, die Rechte vorgestreckt, Handfläche nach oben, die Finger klauenartig durch die Luft zuckend; derweil gaben die Zuschauer stellvertretend Miniquieker von sich: »RuuuinIIIiert«.

Doch die Parodie war von einem Schauder begleitet. Wir alle hatten von den Kastrationsmethoden der Nazis durch Röntgenbestrahlung gelesen und benutzten das, um einander zu triezen. Wem dies passierte, der war erledigt: In der Literatur gab es Beweise dafür, dass man verfettete, zu einer Statistenrolle verdammt wurde und allein noch dem Wohlergehen anderer diente. Entweder das, oder man war aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, Opernsänger in Italien zu werden. Was den ganzen grauenvollen Prozess nun eigentlich in Gang setzte, war uns nicht so recht klar: Es hatte aber etwas mit Umkleideräumen und öffentlichen Toiletten und spätabendlichen U-Bahn-Fahrten zu tun.

Sollte man aber durch irgendeinen – wohl recht unwahrscheinlichen – Zufall unbeschadet davonkommen, dann passierte bestimmt irgendwas Schönes, sonst würden die Informationen nicht dermaßen geheim gehalten. Aber was genau? Und wie kriegte man es heraus?

Auf die Eltern war offensichtlich kein Verlass: Doppelagenten, die schon früh aufflogen bei ihrem Versuch der vorsätzlichen Desinformation. Meinen hatte ich eine ganz einfache Frage vorgelegt – zu der ich die Lösung natürlich schon kannte –, und sie hatten die Antwort vermasselt. Als ich einmal abends für die Schule in der Bibel las, riss ich meine Mutter aus ihren Gedanken über das She-Preisausschreiben:

»Mami, was ist ein E-unuch?«

»Oh, das weiß ich nicht, mein Schatz, nicht genau jedenfalls«, antwortete sie mit gleichmütiger Stimme. (Es konnte durchaus sein, dass sie es nicht wusste.) »Fragen wir doch deinen Vater. Jack, Christopher will wissen, was ein Eunuch ist …« (Guter Schachzug, Aussprache korrigieren und gleichzeitig Wissen verhehlen.) Mein Vater schaute von seiner Zeitschrift für Buchführung hoch (kriegte er bei der Arbeit nicht genug von dem Zeugs?), stockte, fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel, stockte, nahm die Brille ab, stockte. Dabei sah er die ganze Zeit meine Mutter an (war der Große Augenblick da?); ich aber gab die ganze Zeit vor, in meine Bibel zu starren, als gäbe eine nachdrückliche Untersuchung des Kontexts Antwort auf meine Frage. Eben hatte mein Vater den Mund aufgemacht, da sprach meine Mutter weiter, in ihrem Geschäftston:

»… so eine Art abessinischer Diener, glaub ich, nicht wahr, Liebling?« Ich spürte, dass sie einander scharf ansahen. Mein Verdacht war bestätigt, und ich sah zu, dass ich möglichst schnell aus der Sache rauskam:

»Ah so, ja, das kommt hin … danke.«

Wieder ein Zugang versperrt. Die Schule, wo man theoretisch was lernen sollte, war auch keine große Hilfe. Colonel Lowson, der fahrige Biolehrer, den wir verachteten, weil er sich bei einem Jungen entschuldigte, nachdem er ihn geschlagen hatte, war sowieso schon rot im Gesicht; doch wir waren sicher, er wäre noch röter geworden, wenn er gekonnt hätte, als wir ein ganzes Trimester lang zweimal die Woche auf sein mechanisches »Gibt’s noch Fragen?« am Ende der Stunde antworteten:

»Wann machen wir menschliche Fortpflanzung, Sir, es steht doch im Lehrplan?«

Wir wussten, da hatten wir ihn. Gilchrist, der zu den Schlitzohren der Klasse gehörte, hatte den Lehrplan des Prüfungsausschusses zu fassen gekriegt und die unbestreitbare Wahrheit entdeckt. Am Schluss des Kurses Allgemeine Naturwissenschaft (Biologie) stand: FORTPFLANZUNG: PFLANZE, KANINCHEN, MENSCH. Wir verfolgten Lowsons schwerfälligen Marsch durch den Kurs wie Indianerkundschafter, die einen Trupp US-Kavallerie von selbstmörderischer Berechenbarkeit beobachten. Endlich waren nur noch zwei Worte im gesamten Lehrplan unbesprochen – KANINCHEN, MENSCH – und zwei Stunden übrig. Lowson war in ein Tal ohne Wiederkehr geritten.

»Nächste Woche«, begann Lowson die erste von diesen zwei letzten Stunden, »mache ich eine Wiederholung …«

»Ruiniert«, sagte Gilchrist leise vor sich hin, und durch die Klasse ging ein enttäuschtes Murmeln.

»… aber heute will ich mich mit der Fortpflanzung der Säugetiere beschäftigen.« Schweigen; ein oder zwei von uns bekamen bei der Ankündigung einen Steifen. Lowson wusste, an dem Tag würde er keinerlei Schwierigkeiten haben; und während wir mehr mitschrieben als je zuvor, erzählte er uns von Kaninchen, zum Teil auf Lateinisch. Es hörte sich, ehrlich gesagt, nicht besonders großartig an. Es konnte offenbar nicht ganz genau dasselbe sein. Bestimmt war der Teil, wo … Doch da begriffen wir langsam, dass Lowson drauf und dran war, sich aus der Affäre zu ziehen. Die fünfundvierzig Minuten waren fast vollständig um. Unsere wachsende Verdrossenheit war nicht zu übersehen. Schließlich, eine Minute vor Schluss:

»Tja, irgendwelche Frage?«

»Sir, wannmawi menschlifortpflanzgsir, stehtmlerplan?«

»Ach«, antwortete er (und war da ein hämisches Grinsen zu erkennen?), »das ist im Prinzip genau wie bei anderen Säugetieren.« Dann marschierte er aus dem Zimmer.

Anderswo in der Schule waren Informationen genauso schwer zu erlangen, jedenfalls auf dem Dienstweg. Der Artikel über Familienplanung in dem Band »Heim und Familie« der großen Enzyklopädie war aus der Ausgabe in der Schulbücherei herausgerissen. Die einzige andere Informationsquelle war viel zu riskant – der Konfirmationsunterricht beim Direktor. Der schloss eine kurze Sitzung über die Ehe ein, »was ihr im Moment ja nicht braucht, aber es schadet nichts, wenn ihr Bescheid wisst«. Es schadete in der Tat nichts: Die aufregendste Formulierung, die der hagere und misstrauische Herr über unser Leben gebrauchte, war »eheliche Gemeinschaft und gegenseitiger Beistand«. Am Ende der Sitzung wies er auf einen Stapel Broschüren an seiner Schreibtischecke.

»Wenn jemand mehr wissen will, kann er sich beim Hinausgehen eins dieser Hefte ausleihen.«

Er hätte ebenso gut sagen können: »Wer sich mehr als sechsmal pro Tag selbst befleckt, soll sich melden.« Ich hab nie gesehen, dass einer eine Broschüre genommen hätte. Ich hab nie jemand gekannt, der eine genommen hätte. Ich hab nie von jemand gehört, der von jemand gehört hatte, der eine genommen hätte. Höchstwahrscheinlich würde schon das bloße Langsamergehen in der Nähe des Direktorenschreibtischs mit Prügeln geahndet.

 

Wir mussten also, wie Toni sich gern ausdrückte, die Sache selbst in die Hand nehmen; und was dabei herauskam, war wahrlich Flickwerk. Man konnte ja nicht einfach andere Jungs fragen – John Pepper etwa, der behauptete, eine verheiratete Frau »gehabt« zu haben, oder Fuzz Woolley, dessen Kalender voll war mit roten Kreuzchen, die wohl anzeigen sollten, wann seine Freundin ihre Periode hatte. Man konnte nicht fragen, denn bei allen Witzen und Gesprächen über dieses Thema war ein auf beiden Seiten gleicher Kenntnisstand vorausgesetzt; Unwissenheit zu bekennen hätte unbestimmte, aber entsetzliche Folgen gehabt – etwa so, wie wenn man einen Kettenbrief nicht weiterschickt.

Von dem Hauptereignis hatten wir eine gewisse Ahnung – selbst Lowsons kärgliche Unterweisung hatte uns eine Vorstellung der Intromission vermittelt; aber die tatsächliche Strategie des Ganzen war noch nebulös. Von unmittelbarer und grundlegender Bedeutung aber war, wie der Körper der Frau nun wirklich aussah. Da waren wir stark auf das National Geographic Magazine angewiesen, Pflichtlektüre für die Intellektuellen unserer Schule; trotzdem war es manchmal schwierig, aus einer Pygmäenfrau mit tätowierten Narbenmustern, Körperbemalung und einem Lendenschurz viel zu extrapolieren. Reklamebilder für Büstenhalter und Korsetts, Plakate für nicht jugendfreie Filme sowie Sir William Orpens History of Art trugen auch alle ihr Scherflein bei. Aber erst als Brian Stiles seinen Blitz hervorholte, ein Nudistenheft im Taschenformat (Stallgefährte von Blank), wurden die Dinge ein wenig klarer. So sieht das also aus, dachten wir, auf den retouchierten Unterbauch einer Trampolinspringerin glotzend.

Unserer unermüdlichen Fleischeslust zum Trotz waren wir auch zutiefst idealistisch. Die Mischung kam uns ganz gut vor. Racine konnten wir nicht ausstehen, weil die Gewalt der Emotionen, denen seine Gestalten ausgesetzt waren, zwar – so dachten wir – ähnlich groß war wie die, von der wir wiederum gebeutelt werden würden, doch der Reigen der Leidenschaft, in dem sich die Handlung immer drehte, widerte uns an. Corneille war unser Mann; vielmehr, seine Frauen waren unsere Frauen – leidenschaftlich, doch pflichtbewusst, treu und jungfräulich. Toni und ich diskutierten viel über die Frauenfrage; allerdings wich das...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2013
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Freundschaft • Großstadt • Ideale • Jugend • Julian Barnes • London • Metro • Paris • Reise • Verfilmung
ISBN-10 3-462-30756-8 / 3462307568
ISBN-13 978-3-462-30756-6 / 9783462307566
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