Der Sommer hat lange auf sich warten lassen (eBook)

Roman
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2013 | 1. Auflage
256 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-10924-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen -  Melitta Breznik
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Margarethe, eine Frau Anfang 90, besucht noch ein Mal den Ort ihrer Kindheit. Auf der Reise dorthin kommen ihr Szenen aus der Vergangenheit in den Sinn: mit ihrem ersten Mann Max, den sie im 2. Weltkrieg kennenlernte und der nach seiner Rückkehr aus englischer Gefangenschaft ein Anderer war. Sie denkt an Lena, ihre gemeinsame Tochter, die sich im Lauf der Jahre von ihr entfremdet hat und die sie in wenigen Stunden treffen wird. Melitta Breznik erzählt von drei Menschen, deren Leben durch die Geschichte des letzten Jahrhunderts tief gezeichnet wurden und die versuchen, jeder auf seine Weise, damit umzugehen.

Margarethe, eine Frau Anfang 90, entschliesst sich, noch ein Mal an den Ort ihrer Kindheit zu reisen. Auf der Fahrt hält sie Rückschau, ihr Aufwachsen in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg kommt ihr in den Sinn, ebenso ihre Ehe mit ihrem ersten Mann Max in Wien, der als Kind nach den Wirren der Arbeiteraufstände 1934 in die Sowjetunion verschickt worden war. Durch Erlebnisse als Wehrmachtssoldat in Griechenland traumatisiert, hatte er sich nach der Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft verändert. Aber Margarethe fiebert auf dieser Reise auch der Begegnung mit der gemeinsamen Tochter Lena entgegen. Sie lebt inzwischen in London und ihre Beziehung zueinander ist belastet. Margarethe will sich bei ihr endlich entschuldigen, und vielleicht ist eine Versöhnung möglich, bevor es zu spät ist.

Melitta Breznik lässt neben der betagten Margarethe in diesem präzise und einfühlend geschriebenen Roman auch deren verstorbenen Mann Max und Tochter Lena zu Wort kommen. Alle drei erzählen aus ihrer eigenen Perspektive von ihren zerrissenen Leben und von der hilflosen Zuneigung zum jeweils anderen. Sie stellen sich, jeder auf seine Weise, der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts haben sich tief in die Biographien eingeschrieben, und Melitta Breznik zeichnet mit diesen Figuren die seelische Kartographie einer Gesellschaft vom 2. Weltkrieg bis in unsere Jetztzeit nach.

Melitta Breznik, geb. in Kapfenberg, Österreich, studierte Humanmedizin und wurde zur Praktischen Ärztin ausgebildet, bevor sie sich als Fachärztin in Psychiatrie und Psychotherapie spezialisierte. Sie lebt in der Schweiz im Kanton Graubünden. Bei Luchterhand sind von ihr bisher erschienen: »Nachtdienst« (Erzählung 1995), »Figuren« (Erzählungen 1999), »Das Umstellformat« (Erzählung 2002), »Nordlicht« (Roman 2009), »Der Sommer hat lange auf sich warten lassen« (Roman 2013) und »Mutter. Chronik eines Abschieds« (2020).

Basel Juni 2011

Mit einem Mal ein blauer Himmel über der Stadt, dünne Nebelschwaden ziehen zwischen den Bäumen den Fluss entlang, unwirklich die Schwere der letzten Tage, die ich jetzt kaum noch wahrnehme, so sehr beruhigt mich die Wärme der Sonnenstrahlen. Im grünlich blinkenden Wellentreiben des Flusses bricht sich das milde Licht, dessen Widerschein funkelnd bis in die Tiefen meiner Augäpfel dringt. Ich höre das Geplätscher der sich am Bug der Boote brechenden Strömung des Rheins, hebe meinen Kopf, lege ihn zurück auf die Stütze des Rollstuhls und schließe die Lider. In zwei Stunden werde ich im Zug nach Frankfurt sitzen. Sieben Uhr, die Glocke des Münsters beginnt zu schlagen, keiner hat bemerkt, wie ich das Haus verlassen habe. Ich wollte Helen nicht begegnen, die sonst als Erste der Pflegerinnen auf ihrem Fahrrad die Einfahrt hereinkommt, zu meinem Fenster sieht und winkt. Die anderen Angestellten kommen gewöhnlich etwas später, sie verteilen sich nach und nach im Speisesaal, der Küche und den Zimmern und füllen das Haus mit Geräuschen, die den Ablauf des Alltags der alten Menschen begleiten. Viele stammen von weit her, haben dunkle Haut und einen brüchigen Akzent und scheinen es nicht als Last zu empfinden, mit Menschen, die ihre Großeltern sein könnten, den Tag zu verbringen. Ich bewohne eine der Zellen, wie ich die kleinen Wohneinheiten nenne. Es gibt kaum Platz, um die Möbel, die ich mitgenommen habe, in den Ecken unterzubringen, denn viele freie Flächen gibt es nicht, nur eine lange Wand für das Bett und die für den Schrank. Die dritte Seite ist dominiert durch ein großes Fenster mit Aussicht in den Garten, wo der Kastanienbaum nach einem langen Winter und einem nassen Frühling in den letzten Wochen seine hellgrünen Blätter entfaltet hat. Oft sind die Wohnzellen überladen, verstellt, und ich wundere mich manchmal darüber, wie meine Mitbewohner das eigene Nest gestalten, das sie oft tagelang nicht verlassen können, wenn draußen der Schnee in feuchten Flocken vom Himmel fällt und meine Nachbarin Käthe nicht mehr aus dem Bett mag oder Paul von seinen Gelenksschmerzen wie gelähmt ist. Ich kenne diese grauen Stunden, die es trotz der dunklen Gedanken zu überwinden gilt. Ich muss mir dann vor dem Spiegel Mut zusprechen oder mich ermahnen, wenn ich meine unordentliche Frisur bemerke oder die verknitterte Bluse, die ich nicht gebügelt habe in der Überzeugung, ich würde mein Zimmer an diesem Tag nicht verlassen. Noch immer lege ich Wert darauf, meine Wäsche selbst zu waschen, und darauf, das Mittagessen in der kleinen Kochnische für mich zuzubereiten, denn es graut mir davor, von anderen abhängig zu sein. Die Trägheit des Alters hat längst begonnen. Ich bemerke sie vermehrt seit Alexanders Tod, weil jede Aktivität aus mir selbst kommen muss. Ich will nicht abgefüttert werden mit einem beliebigen Programm, das für die Insassen hier zusammengestellt wird. Die Heimleitung veranstaltet für uns eine Nationalfeier, ein Sommernachtsfest oder ein Adventssingen, doch spätestens um fünf Uhr abends werden die Tische im Speisesaal wieder in die übliche Ordnung gebracht, damit das Essen rechtzeitig serviert werden kann und wir Alten bis um sieben in unseren Zimmern verschwinden können, zurückgeworfen in unsere eigene Nacht.

Seit einem Jahr wohne ich hier in dieser Altenklause, die so übel nicht ist, wie ich zunächst angenommen habe, es gibt Schlimmeres. Aber es ist anders hier als im »Grünen Haus«, das von uns so genannt wurde, weil es von oben bis unten mit Efeu bewachsen war. Das »Wir« steht für Alexander und seine Freunde, mit denen ich vor mehr als zwanzig Jahren das desolate Gebäude in einem Vorort der Stadt gekauft und umgebaut habe, als Domizil für die Jahre, wenn wir wegen zunehmender Gebrechlichkeit nicht mehr alleine würden wohnen können. Es war ein großes Projekt, auf das wir uns eingelassen hatten, und außer ein paar guten Ideen und Zeit für die Organisation, die ich aufbrachte, um die Handwerker zu koordinieren, hatte ich nicht viel beizusteuern gehabt. Meine Rente war klein und einen Teil des Ersparten hatte ich Lena, meiner Tochter, und ihrem Mann Phillip für den Hauskauf in London übergeben.

Paul und ich sind nun übrig geblieben. Die Bewohner des »Grünen Hauses« sind tot oder zu ihren Kindern gezogen. Alexander, mein zweiter Mann, hat vor drei Jahren einen Schlaganfall nicht überlebt. Vielleicht ist es gut so, denn er konnte nicht mehr sprechen, nicht gehen, und wenn ich versuchte, ihn zu füttern, sah er mich mit einem großen braunen Auge an, das andere verklebt mit einer Folie, die das Austrocknen verhindern sollte. Er gab mir zu verstehen, dass er meine Bemühungen zu schätzen wusste, sich aber lieber verabschieden würde, und das tat er dann auch. Lise, die gemeinsam mit ihrem Mann in Südafrika ein Weingut bewirtschaftet hatte, war im Alter allein nach Europa zurückgekehrt. Sie hatte ihre Abschiede mit opulenten Abendessen inszeniert, wenn sie nach ein paar Monaten des Sommeraufenthaltes in Basel wieder in den Süden abreiste. Ich hatte jedes Mal den Eindruck, als würde sie sich für immer verabschieden. Ich wusste um ihre Angst, wenn sie ein Flugzeug bestieg. Es graute ihr daran zu denken, mit unbekannten Menschen in einer Konservenbüchse, wie sie es nannte, über dem Meer abzustürzen oder an einem Bergmassiv zu zerschellen. Seit Jahren betrat sie keine Maschine, ohne sich vorher zu betrinken und ein Döschen mit Beruhigungspillen am Leib zu tragen für den Fall, dass sie im Getümmel ihre Handtasche nicht mehr finden würde. Sie schilderte mir Schreckensszenarien, die ihr durch den Kopf gingen, von wild gewordenen Mitpassagieren, die nur versuchten, das eigene Leben zu retten, und schreienden Kindern, die zertrampelt wurden. Die Angst vor Tod und Krankheit gehörte seit Jahren zu ihr, und sie konnte sich kaum mit ihren Falten im Gesicht anfreunden, doch das war für mich kein nachvollziehbarer Grund, dem Leben ein Ende zu setzen. Im August vor vier Jahren fand man sie leblos am Wehr auf der deutschen Seite des Rheins, und ich konnte ihr den grußlosen Abschied, ohne Hilferuf, ohne ein Wort des Adieu, nicht verzeihen. Ich habe ein Bild von ihr über dem Plattenspieler aufgehängt, und immer wenn ich Madame Butterfly mit der Callas auflege, sehe ich sie neben mir sitzen, in sich versunken, mit geschlossenen Augen. Ein sehnsuchtsvoll gespanntes Ziehen hat ihre Nackenmuskulatur ergriffen, die den Kopf in einer leichten Schieflage hält, in einer Mischung aus Andacht und Hingabe. Lise ging als Erste und nach Alexander kam Friedrich, sein bester Freund. Er kämpfte lange gegen den Lungenkrebs und vor drei Jahren im Sommer nahm er ihm dann doch die letzte Luft. Er vererbte uns seine Bücher mit zahlreichen Bänden über Geschichte und Kunst in Europa nach 1900, die im Aufenthaltsraum des »Grünen Hauses« ohnehin einen großen Teil der Bibliothek ausmachten. Seine indische Frau Dadrah zog zu ihrem Sohn nach Signapore, einem Computerfachmann, der jedes Jahr mit seiner Familie ein paar Wochen in der Gästewohnung verbrachte. An den warmen Abenden saßen wir im Garten an einem langen Tisch, Lise, Dadrah und ihre indische Schwiegertochter kochten und hängten mit den zwei kleinen Buben, die nur Englisch sprachen, Lampions zwischen den Bäumen auf. Eine märchenhafte Erinnerung wie aus Tausendundeiner Nacht. Dadrahs Sohn habe ich zu verdanken, dass ich mit der neuesten Computertechnologie ausgerüstet bin und über das Internet telefonieren kann. Paul ist noch da, ohne ihn hätte ich das »Grüne Haus« nicht halten können, nachdem sämtliche Erben ausbezahlt worden waren. Er beklagte sich nie über den Verlust seiner Frau Gina, die vor zwei Jahren elend an den Metastasen eines Brustkrebs gestorben ist und unter Morphium, von den Ärzten halb in Schlaf versetzt, ihre letzten Wochen verbrachte. Es war fast nicht mehr zu ertragen gewesen, ihr zuzusehen, und ich erinnere mich an unsere Diskussionen über Sterbehilfe, bei denen wir heftig aneinandergerieten. Mit Paul beschloss ich vor einem Jahr das »Grüne Haus« zu verkaufen. Das übrig gebliebene Geld wird noch ein paar Jahre unser Dasein hier im Rheinhof-Alterszentrum ermöglichen, denn ohne Rollstuhl werde ich nach den misslungenen Knieoperationen vom letzten Sommer nicht mehr auskommen, und das Projekt des Treppenliftes in meine Wohnung in den ersten Stock war viel zu teuer und aufwendig. Die notwendigen Arbeiten hatten wir schon lange mit den Freunden besprochen gehabt, aber als einer nach dem anderen aus der Gruppe starb, war es zu spät, einen Umbau auszuführen. Wir alle haben die Schnelligkeit und Gründlichkeit des Todes unterschätzt. Ich wollte mich nicht als Neunzigjährige im »Grünen Haus« verbarrikadieren, und anfänglich war mir daran gelegen, jüngere Mitbewohner zum Einzug ins »Grüne Haus« zu gewinnen, aber die Idee ist schließlich nach vielen Gesprächen mit Bewerbern daran gescheitert, dass Paul entweder keine Kleinkinder im Haus haben wollte, der kolumbianische Student mit seiner Freundin war ihm zu laut im Auftreten, die Frau, die in einer kleinen Buchhandlung in der Stadt arbeitete, nahm ihm zu wenig Rücksicht, als sie beim ersten Betreten des Gartens anfing, den Löwenzahn, der im Kies des Weges wuchs, auszuzupfen. Ich habe das »Grüne Haus« schweren Herzens verlassen, ich hätte gerne mit jungen Menschen dort gelebt. Wir hätten uns gegenseitig helfen können, vielleicht zu Mittag kochen oder die Kinder ins Bett bringen, wenn die Eltern ausgehen wollten, und die Märchen von Andersen vorlesen, die ich selbst als Kind so gerne gehört habe, besonders die Geschichte von der kleinen Meerjungfrau. Der Umzug ins »Ghetto« war nicht zu verhindern, obwohl ich versucht habe, ihn so lange wie möglich hinauszuschieben. Ich zog zunächst in das...

Erscheint lt. Verlag 2.9.2013
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20.Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Bewältigung • Deutschland • eBooks • Ehe • Erinnerung • Familie • Gefangenschaft • Gegenwartsliteratur • Geschichte • Nachkriegszeit • Roman • Romane • Vergangenheit • ZweiterWeltkrieg
ISBN-10 3-641-10924-8 / 3641109248
ISBN-13 978-3-641-10924-0 / 9783641109240
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