Hausaufgaben (eBook)

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2013 | 1. Auflage
192 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60369-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hausaufgaben -  Jakob Arjouni
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War er seiner Familie, seinen Schülern nicht immer ein leuchtendes Vorbild? Und nun muss Deutschlehrer Joachim Linde »peinlichstes Privatleben« vor seinen Kollegen ausbreiten, um seine Haut zu retten. Denn alles in seinem Leben scheint die schlimmstmögliche Wendung genommen zu haben.

Jakob Arjouni, geboren 1964 in Frankfurt am Main, veröffentlichte Romane, Theaterstücke, Erzählungen und Hörspiele. Er war 21 Jahre alt, als sein Frankfurter Privatdetektiv Kemal Kayankaya in ?Happy birthday, Türke!? zum ersten Mal ermittelte. Es folgten vier weitere Fälle, für ?Ein Mann, ein Mord? erhielt Jakob Arjouni 1992 den Deutschen Krimipreis. Sein Werk ist in 23 Sprachen erschienen. Jakob Arjouni starb 2013 in Berlin.

Jakob Arjouni, geboren 1964 in Frankfurt am Main, veröffentlichte Romane, Theaterstücke, Erzählungen und Hörspiele. Er war 21 Jahre alt, als sein Frankfurter Privatdetektiv Kemal Kayankaya in ›Happy birthday, Türke!‹ zum ersten Mal ermittelte. Es folgten vier weitere Fälle, für ›Ein Mann, ein Mord‹ erhielt Jakob Arjouni 1992 den Deutschen Krimipreis. Sein Werk ist in 23 Sprachen erschienen. Jakob Arjouni starb 2013 in Berlin.

[5] 1

Joachim Linde, Deutschlehrer am Reichenheimer Schiller-Gymnasium, sah auf die Uhr.

»…Also dann versucht doch mal in den zwanzig Minuten, die uns noch bleiben – auch ruhig unter dem Eindruck des vorhin gelesenen Walser-Texts –, zu beschreiben, was ihr meint, welchen Einfluß das Dritte Reich heute, fast sechzig Jahre später, auf euer Leben hat.«

Linde verschränkte die Arme, lehnte sich gegen die Tafel und ließ den Blick über die Gesichter des Deutsch-Oberstufenkurses »Deutsche Nachkriegsschriftsteller und ihre Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich« streifen. Zweiundzwanzig Mädchen und Jungen im Alter von siebzehn bis zwanzig, die im Moment, wie Linde glaubte, nur im Kopf hatten, wo sie das verlängerte Wochenende verbringen würden. So wie er. Es war Donnerstag, ein warmer, sonniger Frühlingstag, und in zwei Stunden wollte er in den Zug nach Berlin steigen, um am nächsten Morgen zu einer dreitägigen Wanderung [6] durch die Mark Brandenburg aufzubrechen. Ein von ihm seit langem, quasi seit dem Mauerfall vor vierzehn Jahren gehegter Wunsch: die Wiege Berlins, die Heimat Fontanes und nicht zuletzt die Gegend, aus der Lindes Vater stammte, zu Fuß zu »ersinnen« (so hatte er es oft gesagt und auf Nachfragen geantwortet: »Das Land mit allen Sinnen in mich aufnehmen, ertasten, erriechen, erschmekken.« Linde bildete sich auf außergewöhnliche Formulierungen, Wortschöpfungen sowie Umdeutungen bekannter Wörter etwas ein. Je länger seine Zuhörer brauchten, um dahinterzukommen, was er eigentlich meinte, desto zufriedener war er.). Dreimal hatte er die Zugfahrkarte nach Berlin schon gekauft, doch immer war im letzten Moment etwas dazwischengekommen. Einmal hatte Ingrid, seine Frau, am Abend zuvor einen ihrer Zusammenbrüche gehabt, ein anderes Mal war Pablo, sein neunzehnjähriger Sohn, zum Bezirksgruppenreferent bei Amnesty International gewählt worden und hatte ein Grillfest veranstaltet, und vor einem halben Jahr mußte Martina, seine achtzehnjährige Tochter, mit aufgeschnittenen Pulsadern ins Krankenhaus eingeliefert werden. Doch diesmal schien ihn nichts mehr aufhalten zu können: Ingrid saß in der Klinik, Pablo demonstrierte in Mannheim gegen Israels Siedlungspolitik, und Martina war drei [7] Monate nach ihrem Selbstmordversuch von zu Hause abgehauen und lebte zur Zeit mit einem Fotografen in Mailand. Von der Lehrerkonferenz am Abend hatte sich Linde vom Schulleiter befreien lassen, und das allwöchentliche Treffen des Martin-Luther-Gesprächskreises zur aktuellen Deutung des Neuen Testaments fiel an diesem Samstag wegen des Reichenheimer Weinfests aus.

»Ja, Alex?«

»Also…« Alex nahm den Arm herunter und grinste unsicher. Vor drei Tagen hatte ihm Linde gesagt, wenn er sich mündlich nicht mehr beteilige, könne er den Kurs vergessen.

»Ich weiß nicht, aber…« Alexs Knie schlugen einen langsamen Takt. »Wie Sie schon sagten: Das ist fast sechzig Jahre her. Was geht mich das an?«

»Tja, Alex, genau das war die Frage.«

Teresa und Jennifer in der letzten Bankreihe kicherten. Teresa war Klassenbeste, und Jennifer hatte, wie Linde fand und sich dessen immer wieder versicherte, einen ganz außergewöhnlich runden und strammen Hintern.

Auf das Kichern reagierte er mit einem lächelnden »Na, na!«. Dann wandte er sich zurück zu Alex: »Es wäre schön, wenn du noch ein bißchen mehr beitragen könntest, als einfach nur meine Frage zu wiederholen.«

[8] »Aber wenn’s mich doch nun mal nichts angeht.« Mit dem Kichern hatte sich Alex’ Miene verdüstert. »Sie können mich doch nicht zwingen, daß irgendwas irgendeinen Einfluß auf mich hat.«

»Nein, aber du könntest dich vielleicht mal dazu zwingen, ein bißchen genauer nachzudenken. Wie ist das denn zum Beispiel in den Ferien im Ausland, wenn du den Leuten dort sagst, du seist Deutscher?«

»Was soll da schon sein? Und selbst wenn was wäre: Im Ausland sprechen sie ja wohl ausländisch, also würd ich’s eh nicht verstehen.«

Wieder wurde in der letzten Reihe gekichert.

Linde legte die Stirn in Falten und betrachtete Alex betont verzweifelt. Dabei nahm er aus den Augenwinkeln Teresas und Jennifers Schmunzeln über seinen komödiantischen Ausdruck gerne wahr. Schließlich sagte er seufzend: »Wie wir alle wissen, lernst du seit der fünften Klasse Englisch, und wenn deine Erfolge dabei auch bescheiden sein mögen, so sollte das Gelernte doch ausreichen, um dich im Zugabteil oder auf dem Campingplatz wenigstens simpelsätzlich mit jemandem zu unterhalten.«

»Simpel-was?«

»Simpelsätzlich.« Linde sah in Erwartung eines Lächelns kurz zu Teresa und Jennifer, doch die Mädchen flüsterten miteinander. »Wie [9] ›grundsätzlich‹, nur eben ›simpel‹ wie ›einfach‹. Also: Wie geht’s, wo kommst du her, wie ist das Wetter bei euch…«

Alex nickte und sagte in gedehntem, leicht spöttischem Tonfall: »How do you do.«

»Zum Beispiel. Und dann fragen die Leute doch wohl oft: Woher kommst du?«

»Klar. Und dann sag ich Germany, und dann sagen die: O wow, Bayern München, Mercedes, Linde…« Alex hielt inne.

Linde begriff nicht gleich. »Bitte?«

»Ja, ich hab mich am Anfang auch gewundert, aber inzwischen… Ich schwör’s, jeder zweite, meistens Professoren, Künstler – so Kluge eben – und natürlich die jungen, hübschen Frauen mit den giganto Sitzpolstern…«

Bei ›giganto Sitzpolstern‹ warf Alex Jennifer einen kurzen Blick über die Schulter zu, und Linde entfuhr es wütend: »Alex! Was soll das?!«

Alex hob abwehrend die Arme. »Soll ich nun erzählen, was passiert, wenn ich im Ausland sage, ich sei Deutscher, oder nicht? Die Leute rufen: Germany! Isn’t it the homeland of Joachim Linde, the wonderful wordinventor! Let’s say it simpelsätzlich: the greatest guy…«

»Alex! Hör sofort auf mit dem Quatsch!«

Inzwischen wurde wieder gekichert, doch [10] diesmal in der ganzen Klasse, und Linde besann sich auf seine Position als Notengeber.

»Und jetzt ist Schluß mit den Albernheiten! Wir reden hier über ein äußerst ernstes Thema, und ich möchte euch bitten, euch in der letzten Viertelstunde noch mal zu konzentrieren.«

Die Klasse verstummte. Linde sah reihum in die Gesichter der Schüler, wobei er Alex’, Teresas und Jennifers ausließ. Schließlich meldete sich Oliver.

»Ja, Olli?«

»Also mir ist das früher, als ich noch mit meinen Eltern in die Ferien gefahren bin, ganz oft passiert. Was, du bist aus Deutschland, und sofort: ›Heil Hitler‹, ›Schneller, schneller‹, ›Schnitzel‹, ›Faß, Hasso‹, und der ganze Quatsch, wie in Hollywood-Filmen. Heute versuch ich das Thema meistens zu umgehen. Manchmal sag ich sogar, ich sei Schweizer.«

Nach einer kurzen, beinahe feierlichen Pause, in der sich seine Miene für alle sichtbar aufhellte, sagte Linde: »Womit wir bei einer der prägnantesten Auswirkungen des Dritten Reichs auf unser heutiges Leben wären: der Verleugnung – oder besser: Verneblung oder Verschattung – unserer Herkunft. Wir können immer noch nicht wie ein Franzose oder Engländer stolz und froh erklären, woher wir kommen. Nach wie vor müssen wir aufpassen, [11] was wir äußern, um nicht in den großen Nazitopf geworfen zu werden. Selbst wenn wir deklarierte Humanisten und Internationalisten sind, zum Beispiel Greenpeace oder Amnesty International unterstützen und die Welt als eine einzige begreifen, die es für alle Menschen zu retten und zu bewahren gilt – aus der Sippenhaft, in die uns andere Völker seit nun bald sechzig Jahren stecken, kommen wir nur schwer heraus. Das geht so weit, daß…«

»Warum?« unterbrach jemand aus der zweiten Reihe, und Linde, der diese kleine Rede vorbereitet hatte und noch lange nicht an ihrem Ende war, schaute unwirsch auf. Sonja. Wie immer. Stellte er Fragen und forderte zur mündlichen Beteiligung auf – von Sonja kein Wort. Sprach er aber zur Klasse, erklärte etwas an der Tafel oder ließ vorlesen – fast konnte er darauf wetten, daß Sonja dazwischenreden würde. Und oft völlig wirres Zeug. Was, zum Beispiel, hieß denn bitteschön in diesem Zusammenhang »Warum«?

»Sonja, würdest du dich bitte melden, wenn du etwas beitragen möchtest, und warten, bis du drangenommen wirst.«

»Aber wenn Sie so ewig reden und eins aufs andere aufbauen und ich schon am Anfang nicht glaube, was Sie sagen – ich meine, Deutschland ist doch ’n Land und hat ’ne Geschichte, und wenn [12] ich nun mal hier geboren bin, dann habe ich eben damit zu tun. Darum muß ich doch nichts verleugnen. Ich hab mir meinen Geburtsort ja nun bestimmt nicht ausgesucht.«

»Siehst du…« Linde lächelte triumphierend. Darauf konnte er Sonja problemlos entgegnen. Das war nicht immer so. »Und trotzdem wirst du in Sippenhaft genommen.«

»Werd ich ja gar nicht! Sippenhaft! Weiß gar nicht, was Sie damit meinen. Und wenn ich an Olivers Eltern denke, fällt mir auch sofort Wurst und Heil Hitler ein.«

»Eh, du blöde Hippieschlampe!«

»Olli!«

»Na, sie hat doch angefangen!«

»Immer mit der Ruhe. Also, Sonja, dann erklär mir doch mal den Widerspruch, daß du eben noch gesagt hast, du hättest etwas mit diesem Land zu tun und andererseits behauptest, du wüßtest nicht, was ich meine, wenn ich von Sippenhaft spreche?«

Was fiel ihr denn jetzt ein, ihn anzugucken, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank?

»Meinen Sie mit Widerspruch Widerspruch im üblichen Sinne, nämlich daß sich was widerspricht, oder ist das wieder so eine witzige...

Erscheint lt. Verlag 28.8.2013
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Achtundsechziger • Deutschlehrer • Familie • Inzest • Odenwaldschule • Pädophilie • Schuld • Skandal
ISBN-10 3-257-60369-X / 325760369X
ISBN-13 978-3-257-60369-9 / 9783257603699
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