Nachricht von ruhigen Momenten (eBook)

89 Geschichten. 64 Bilder
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
135 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73344-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nachricht von ruhigen Momenten -  Alexander Kluge,  Gerhard Richter
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Im goldenen Herbst des Jahres 2012 stand »Die Welt« für einen Tag still, und als Sinnbild des Stillstands lag dort ein schläfriger Hund, wo sonst die Schlagzeilen drohen. Was war geschehen? Gerhard Richter, einer der global maßgeblichen Künstler, hatte die Herrschaft ergriffen und allen 30 Seiten der »Welt«-Ausgabe vom 5. Oktober 2012 seinen Handstempel aufgedrückt: Bilder von ruhigen Momenten in unruhigen Zeiten, Aufhebung des politischen Primats, Privates statt Welthistorisches, vor allem aber: kunstvolle Kontraste zwischen Schärfe und Unschärfe. Bei der öffentlichen Vorstellung dieser ungewöhnlichen Kunstaktion hielt Alexander Kluge die Laudatio. Spontan begleitete er die Fotos mit Geschichten. Gerhard Richter antwortete darauf ebenso spontan mit dem Vorschlag eines gemeinsamen Buches. Richter lieferte weitere Bilder und Kluge weitere Geschichten. So entstand nach dem Erfolgsbuch »Dezember« eine zweite gemeinsame Arbeit der beiden im Februar 1932 geborenen Künstler: ein Buch zur zeitgleich durchlebten Geschichte, so scharf wie unscharf gesehen.

<p>Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: »Mein Hauptwerk sind meine Bücher.« Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis,Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.</p> <p>»Ich bin und bleibe in erster Linie ein Buchautor, auch wenn ich Filme hergestellt habe oder Fernsehmagazine. Das liegt daran, daß Bücher Geduld haben und warten können, da das Wort die einzige Aufbewahrungsform menschlicher Erfahrung darstellt, die von der Zeit unabhängig ist und nicht in den Lebensläufen einzelner Menschen eingekerkert bleibt. Die Bücher sind ein großzügiges Medium und ich trauere noch heute, wenn ich daran denke, daß die Bibliothek in Alexandria verbrannte. Ich fühle in mir eine spontane Lust, die Bücher neu zu schreiben, die damals untergingen.«<br /> <em>Alexander Kluge (Dankesrede zum Heinrich-Böll-Preis, 1993)</em></p>

2


In einem von Frankfurts Hochhaustürmen saß Anfang August 2011 einer der ERFAHRENEN DOMPTEURE DES KAPITALS. Er hatte nur Augen für den Bildschirm seines Rechners. In dieser Höhe über der Stadt war die grelle und ungehindert einwirkende Sonne durch eine verstellbare Folie vor den Fenstern abgedämpft. Auf dem Bildschirm hätte man sonst wenig erkannt. So sah es aus, als trüge der Raum eine Sonnenbrille.? 

An diesem Tage wußten sich die Experten nicht zu helfen. Graphisch sahen sie den Börsensturz als eine senkrechte Linie, die innerhalb von vier Minuten den Verlust von vier Prozentpunkten des DAX signalisierte. Das entsprach einem Wert von einigen Milliarden Dollar. Eine Theorie für die Vorgänge besaß dieser Praktiker im halbwegs abgedunkelten Raum in der Höhe nicht. Hat denn ein Löwenbändiger eine Theorie? Er kennt seine Tiere. Diese Kreatur hier, die auf beiden Seiten des Atlantiks monströse Zerstörungen anrichtete, war in ihrem Verhalten den Experten unbekannt. War es eine neue Spezies? Oder war es die Krise von 1929, nur anders kostümiert? Der legendäre Mann in seinem Vorstandszimmer, der sonst Märkte zu zügeln wußte, hätte sich gerne praktisch verhalten: Nüsse knacken, einen Apfel schälen, Mineralwasser eingießen – einen Kontakt zu irgendeiner Tätigkeit wollte er haben und nicht auf den Bildschirm starren und warten.

 

***

 

Der Reichtum der Nation liegt verbaut in Hochhaustürmen. Einer davon, aus Glas und Stahl, findet sich in der Mitte von Frankfurt am Main. Das Pförtnerehepaar Schmidtlein hat die Eingänge dieses Verwaltungspalastes bereits gehütet, als an den obersten Stockwerken noch gebaut wurde.

Was geschieht nun an den langen Wochenenden an diesem Symbolort gesellschaftlichen Reichtums? Menschen wohnen nicht darin. Einmal hat das Ehepaar Schmidtlein eine Gruppe von Verwandten aus Nordhessen durch die Stockwerke geführt. Die Sicherheitsleute kennen die Schmidtleins und dulden solche Besuche.

Zu was kann man die Gebäude am Wochenende außerdem gebrauchen? Als Tanzpalast ist der Bau nicht freigegeben. Auch nicht als Theater. Er wird, wenn er leer ist, besonders schwer bewacht. Jugendliche haben keinen Zutritt. Den Bau könnte man mit Wochenend-Seminaren füllen. Das scheitert an der Versicherung. Einmal spielte, gesponsert von der Deutschen Bank, eine Kammermusik-Gruppe in den Fluren des 16. Stocks. Gute Akustik, wie sich zeigte. Wochentags kommt manchmal eine Wurstfrau aus Gießen und hält im zweiten Stock Wurstwaren feil. Das übrige ist Funktion. Wenig menschlicher Gebrauchswert für so viel baulichen Prunk. »Gesellschaftlicher Reichtum.«

 

***

 

HOCHHAUS WIE VOM ROST BEKLECKERT. Es handelt sich bei der Färbung einer Gebäudefassade in New York nicht um Rost, sondern um die Spiegelung des benachbarten anderen Wolkenkratzers in der Glas-und-Eisenfassade. Ein Zeichen für die Endlichkeit solcher Hochbauten, sollten sie von Feinden angegriffen werden. Rechts unten ein traditionelles Gebäude. Über den Fenstern des obersten Stockwerkes eine runde und eine viereckige Haube. Zu deren Fertigung müssen Steinmetze aus Europa herbeigeholt werden. Verzierungen dieser Art werden nicht industriell hergestellt. In Princeton wurde die Universitätsstadt von speziell aus Italien importierten Steinfacharbeitern errichtet. Auch diese benötigten zunächst Spezialkurse, damit die Gotik des späten Mittelalters mit Spezialwerkzeugen des frühen 20. Jahrhunderts den Stätten moderner Forschung ihre Gestalt geben konnte. Warum erscheinen imitierte Altbauten bestandskräftiger als Hochhäuser in New York, und seit wann wird das so empfunden? »Neue Unsachlichkeit.«

 

***

 

Modell einer Stadt »wie auf einem fremden Planeten«. Die »Ruine einer Zukunftsstadt« entstand auf der Sägefläche des Baumes, als die Säge innehielt und der Sturz des Baumes diese Struktur erzeugte: spitz und hoch, rund, verfasert. Daß die Waldarbeiter gerade in diesem Moment mit ihrer Säge innehielten und diese Struktur entstand, ist Zufall.

 

***

 

Blick aus einem Fenster auf Bahngleise. Hier sind im Sommer und im Winter Güterzüge abgestellt. Die Gleise, auf denen sie stehen, haben Verbindung zu allen Gleisen Europas. Man kann nach Westen Waggons bis nach Bordeaux und nach Osten bis über Bukarest hinaus auf Reisen schicken. Vor 140 Jahren war dieses Gleisnetz noch spärlich ausgebaut. Es hat sich verdichtet, wurde gelegentlich zerstört und durch Grenzen unterbrochen. Aber das Netz von Gleisen hat sich durchgesetzt. Der Gleisanschluß an ein Konzentrationslager bedeutete Vernichtung. Für Menschen, in Trauben an den Zügen hängend, die 1945 den letzten Evakuierungszug noch erreicht hatten, konnte die Bahnverbindung Rettung sein. Hinzu treten Vorstellungen aus der Kinderzeit, die sich mit dem Beruf des Schaffners, Lokomotivführers und der Bahnaufsicht beschäftigten. Eisenbahnen bilden eine STADT EIGENER ART, das Eisenbahnnetz.

 

***

 

Zurückgekehrt von seiner USA-Reise, äußerte sich Heiner Müller (in ihm noch die Energien der Probenarbeit jenes Tages) in der Kantine des Berliner Ensembles über Flughäfen. Man könne sagen: »Flughäfen aller Länder vereinigt euch!« Würden nämlich sämtliche Startbahnen und Installationen der Flugaufsicht sich zu einem »Floß« verbinden lassen und so, wie sie von den Städten, zu denen sie gehören, bereits abgesondert sind, sich in die Höhe erheben, entstünde eine imaginäre Raumstation, eine RAUMSTADT DER EILIGEN. Die in der luftfahrttechnischen Zirkulation auf dem Erdball enthaltenen Energien und Potentiale reichten aus, so skizzierte es Müller in einer Zeichnung auf einem Bierdeckel, ein solches Projekt durchzuführen. Ja, es verhalte sich eher so, daß sich das Unternehmen aus dem chaotischen Flugwesen selbsttätig ergebe. Das Hindernis liege aber darin, daß (ähnlich wie bei der Vereinigung der Kräfte des Proletariats) die Verbindung der Potentiale praktisch nicht gelinge und insofern die Trennung von der Erde, an der eine Fraktion der Menschheit sicher interessiert wäre, nicht stattfinde. Noch immer spürte Heiner Müller den Jetlag des Rückflugs aus dem Westen der USA, der ihn über Dublin und Frankfurt nach Berlin-Tegel geführt hatte, in den Knochen.

 

***

 

In den zwanziger Jahren hatten der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker und seine Frau in Kressbronn am Bodensee ein Haus erworben. Kressbronn war ein künstliches Siedlungsgebiet in agrarischem Gelände. Dieser Sitz wurde nach 1945 Zufluchtsort des Becker-Clans. Hier gründete der Sohn Hellmut seine Familie und seine kulturpolitische Rechtsanwaltspraxis. In dieser Praxis war ich während der Anwaltsstation meines Referendariats tätig. Der Ort Kressbronn besaß zu dieser Zeit ein unregelmäßig programmiertes Lichtspieltheater und ein älteres Restaurant, noch aus der Zeit vor der Planifikation als Kurort. Im übrigen handelte es sich um ländliches Gebiet.

In der unmittelbaren Nähe der Telefone besaß das Büro, das im Parterre der Villa eingerichtet war, einen städtischen Charakter. Alles, was weiter als drei Meter von den Apparaten entfernt war, hatte keine Verbindung zum urbanen Leben (abgesehen vielleicht von Hellmut Beckers Büchern, die im Diktierzimmer aufgestellt waren, Bücher sind immer städtisch). Nach wenigen Wochen war ich »ausgehungert nach Stadt«. Wie flogen die Pfeile meiner Motive, die Pferde der Libido, mir voraus, wenn genug Grund für eine Dienstreise nach Frankfurt am Main bestand! Bei Einfahrt in die Vororte der Stadt Erregung aller Nerven, wie durch ein Aufputschmittel.

Angekommen in der Stadt, kann ich mich ruhig schlafen legen, weil so viel (in jedem Fall aber genügend) anderes um mich herum geschieht. Ich bin für einen Landaufenthalt nicht geeignet. ICH BIN EINE STADTPOMERANZE.

 

***

 

Was ist überhaupt eine Stadt? In seinem Haus in Starnberg führen Treppenstufen vom Wohnraum zu der Klause, in welcher der Gelehrte vor dem Computer sitzt. Seine Arbeitsweise am Computer ist jedoch nur eine Variante des Schreibens mit Bleistift oder Tinte auf einen Papierbogen. Noch immer entwirft er Gedankenskizzen nicht in einem Rund oder einem Quadrat, sondern in einem senkrecht gestellten Rechteck, also in der Form DIN A4. Das gibt den Gedanken einen bestimmten Rhythmus.

In der Arbeit, die ihn gegenwärtig beschäftigt, geht es Jürgen Habermas um die beiden sogenannten ACHSENZEITEN. Es handelt sich um »plötzlich in Erscheinung tretende Fortschritte der Zivilisation«. Für den MENSCHENSTAMM AUS KRUMMEM HOLZE unerwartet und stets in Form einer Schubkraft, die sich auf dem Planeten an mehreren Stellen zugleich zeigt: zwischen 5000 und 3000 v.?Chr. und dann erneut um 500 v.?Chr. Und zwar so, als sei ein Schöpfergott tätig oder finde ein evolutionsgeschichtliches Ereignis statt: daß Menschen sich auf so engem Raum vertragen. Dieses Projekt der Moderne heißt STADT.

Jürgen Habermas sieht diese Phänomene, für deren Entstehen er keinen dezidierten Grund weiß, als den Anfang einer weltbürgerlichen Gesellschaft, der bis heute weiterwirkt, auch wenn die damit verbundenen Projekte des Neuanfangs unterwegs verlorengingen oder zerstört wurden. Daß so etwas geschah, scheint ihm unstrittig, was es bewirkte, Glaubenssache. Habermas (darin folgt er dem skeptischen Immanuel Kant) mißtraut dem »Vernunftglauben«. Es kann auch...

Erscheint lt. Verlag 19.8.2013
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alexander Kluge • Bibliothek Suhrkamp 1477 • BS 1477 • BS1477 • Fotos • Gerhard Richter • Geschichte • Geschichten • Gespräch • Nachrichten • Politik
ISBN-10 3-518-73344-3 / 3518733443
ISBN-13 978-3-518-73344-8 / 9783518733448
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