Tigermilch (eBook)

Roman
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2013 | 1. Auflage
288 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30716-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tigermilch -  Stefanie de Velasco
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»Manchmal kann die Musik gar nicht laut genug sein, damit man das Leben nicht hört.« Nini und Jameelah leben in derselben Siedlung, sie sind unzertrennlich und mit ihren vierzehn Jahren eigentlich erwachsen, finden sie. Deswegen kaufen sie sich Ringelstrümpfe, die sie bis zu den Oberschenkeln hochziehen, wenn sie ganz cool und pomade auf die Kurfürsten gehen, um für das Projekt Entjungferung zu üben.Sie mischen Milch, Mariacron und Maracujasaft auf der Schultoilette. Sie nennen das Tigermilch und streifen durch den Sommer, der ihr letzter gemeinsamer sein könnte. Die beiden Freundinnen lassen sich durch die Hitze treiben, sie treffen nicht Tom Sawyer oder Huck Finn, aber hängen mit Nico ab. Nico, der in der ganzen Stadt »Sad« an die Wände malt und Nini ein Gefühl von Zuhause gibt. Sie machen Bahnpartys, rauchen Ott in Telefonzellen und gehen mit Amir ins Schwimmbad. Amir, den sie beschützen wie einen kleinen Bruder. Und dessen großer Bruder Tarik im Dauerstreit mit seiner Schwester liegt, weil diese sich in einen Serben verliebt hat. Nini und Jameelah erschaffen sich eine Welt mit eigenen Gesetzen, sie überziehen den Staub der Straße mit Glamour, die Innigkeit ihrer Freundschaft ist Familienersatz. Sie halten sich für unverwundbar, solange sie zusammen sind. Doch dann werden sie ungewollt Zeuge, wie der Konflikt in Amirs Familie eskaliert. Und alles droht zu zerbrechen.Mit einem hinreißend eigenen Sound, leichtfüßig und schonungslos, wuchtig und zart erzählt Stefanie de Velasco von zwei Mädchen, die das Leben mit beiden Händen ergreifen und lernen müssen, das eigene Dasein auszuhalten. Ein kraftvolles Debüt über Verlust und Sehnsucht. Unmittelbar, entlarvend und herzzerreißend.

Stefanie de Velasco, geboren 1978 im Rheinland, studierte Europäische Ethnologie und Politikwissenschaft. Sie schreibt regelmäßig für das Berliner Stadtmagazin Zitty, für die FAS und ZEIT Online. 2013 erschien ihr Debütroman »Tigermilch«, der in zahlreiche Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt wurde.

Stefanie de Velasco, geboren 1978 im Rheinland, studierte Europäische Ethnologie und Politikwissenschaft. Sie schreibt regelmäßig für das Berliner Stadtmagazin Zitty, für die FAS und ZEIT Online. 2013 erschien ihr Debütroman »Tigermilch«, der in zahlreiche Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Es ist gerade mal Nachmittag, das heißt noch ein bisschen früh für den Planet, aber nach Hause gehen wär jetzt irgendwie komisch, also fahren wir zur Wilmersdorfer, wir laufen die Fußgängerzone runter, rein in die Arkaden und runter zum Kaufland. Wir kaufen jede Menge Yum Yum, Kuhfleckenkuchen, Schleckpulver, süße Milchmädchenmilch aus der Tube und außerdem Rumtrüffelcremeriesen, die mag Nico so gern. Wir zahlen mit Jameelahs Fünfziger, dann laufen wir rüber zum Planet.

Der Planet ist eine große, ziemlich hässliche Betonkugel, gleich neben den Arkaden an der Wilmersdorfer. Um den Planet herum stehen kleinere Planeten, alle aus Beton. Im Sommer, wenn es heiß ist, schießt aus den kleinen Planeten manchmal gelbes schäumendes Wasser heraus, meist liegt der Planet aber einfach nur trocken da. Keine Ahnung, wer sich das ausgedacht hat, den Planet dort hinzubauen. Soll vielleicht Kunst sein, sieht aber richtig scheiße aus. Ich glaube, die wollen eigentlich, dass sich Mütter mit Kindern an den Planet setzen und solche Sachen machen wie Eis essen und planschen. Am Planet sieht man aber nie Mütter mit Kindern, nur Alkis und Irre, und uns.

Nico sagt, die Stadt hat den Planet gar nicht für die Mütter gebaut, sondern für uns, denn nach der Schule und am Wochenende treffen wir uns dort immer alle. Neben dem Planet steht eine Telefonzelle. Sie ist ein gelber Dinosaurier, denn ich hab noch nie jemanden hineingehen sehen, außer Nico, wenn er sich einen durchzieht. Trotzdem steht die Telefonzelle da genau richtig. Sie ist von oben bis unten vollgemalt. Wir hinterlassen uns darauf Nachrichten, wann wir uns wo treffen, wo welche Konzerte oder Partys sind. Das ist vielleicht altmodisch, aber billiger, als sich anzurufen oder Nachrichten rumzuverschicken, denn auf die Telefonzelle schaut jeder drauf, der zum Planet kommt. Praktischerweise macht die Stadt die Telefonzelle immer sauber, wenn sie komplett vollgemalt ist.

Am Planet sitzen Kathi und Laura. Kathi ist immer noch mit der Rasierklinge an Lauras Pony dran, genau wie heute in der Schule, in der Zwanzigminutenpause bei den Fahrradkellern, wo wir immer rauchen, da hat Kathi auch schon an Lauras Haaren rumgemacht. Ganz gerade soll der Pony werden, gerade, aber von links nach rechts schräg, und gerade aber schräg ist zusammen nicht so einfach.

Was geht denn heute noch außer Haareschneiden, fragt Jameelah.

Bahnparty, glaube ich, sagt Kathi, Nico war gerade hier und hat so was gesagt.

Wo ist der überhaupt, frage ich.

An der Unterführung. Habt ihr was zu trinken?

Jameelah holt die Tigermilchflasche und die Rumcremeriesen aus ihrem Rucksack. Neben der Telefonzelle steht der Viovic. Der Viovic trägt immer die gleichen Klamotten, immer komplett in Schwarz, und die gleiche Frisur, schwarz gefärbt und bis zum Kinn, und wenn es regnet, den gleichen schwarzen Regenschirm, deswegen nennt man ihn auch einfach nur den Viovic, so als wären sie nur eine Person, dabei stimmt das nicht, sie sind zu zweit, sie sind Zwillinge. Nur auf der Bühne kann man sie unterscheiden, Viktoria spielt Bass und Violetta Gitarre. Die Band heißt auch Viovic und ist schlimm, das sagen alle, nicht nur ich. Ich verstehe gar nicht, warum, sie haben einen richtigen Proberaum im Keller von ihren Eltern, mit Eierkartons an den Wänden, sie proben fast jeden Tag, weil sie bei sich auf der Privatschule auch noch einen eigenen Musikraum haben, aber vielleicht proben sie ja auch gar nicht so viel, wie sie immer behaupten.

Nini, ruft Viktoria, hast du einen Edding?

Ich schüttle den Kopf.

Ich aber, sagt Kathi und wirft ihren Edding rüber.

Violetta kritzelt irgendwas an die Telefonzelle.

Kommt ihr mit auf die Bahnparty?

Victoria und Violetta schütteln den Kopf.

Wir gehen ins Rotor, sagen sie.

Ich frage mich, ob die das üben, alles so gleichzeitig zu machen, ist schon fast gruselig.

Da hinten kommt Nadja, sagt Laura mit vollem Mund und zeigt in Richtung S-Bahnhof.

Die sieht ja total fertig aus, flüstert Kathi.

Hat sie doch heute in der Schule auch schon, sagt Jameelah.

Hey, habt ihr Tobi gesehen, fragt Nadja, als sie sich zu uns stellt.

Ist alles gut bei dir, fragt Kathi.

Hab meine Tage. Wo ist Tobi?

Der ist mit den anderen zur Unterführung.

Ich schaue in die Rumcremeriesentüte, nur noch einer drin.

Der ist für Nico, sage ich.

 

Wir rennen am U-Bahnhof vorbei über den Stutti in Richtung S-Bahnhof. Vor der Unterführung hocken Apollo und Aslagon, sieht ganz so aus, als würde Apollo mit seinem Holzschwert irgendetwas auf den Boden zeichnen. Sein Wikingerhelm liegt achtlos im Dreck. Apollo glaubt, er ist ein Wikinger, während Aslagon fest davon überzeugt ist, dass die Menschheit sich in Flügelwesen und Reptilienwesen aufteilt. Ich bin ein Flügelwesen und Jameelah auch, sagt Aslagon, er aber ist ein Reptilienwesen, genauso wie die Königsfamilie in Saudi-Arabien. Apollo und Aslagon sind immer nur im Sommer bei uns am Planet, im Winter sitzen sie in der Auguste-Viktoria-Klinik.

Was soll das denn sein, fragt Jameelah.

Das ist Naglfar, sagt Apollo, das Schiff, das aus menschlichen Nägeln gebaut werden muss, damit das Ende der Welt endlich kommen kann.

Und deswegen könnt ihr jetzt nicht einfach so durch, sagt Aslagon und schaut uns aus seinen Kajalaugen an.

Warum nicht?

Jeder, der durch die Unterführung will, muss sich von Apollo die Nägel schneiden lassen, sagt er, damit wir das Schiff bauen können, damit das Ende der Welt endlich kommt.

Wieso soll denn das Ende der Welt überhaupt kommen, fragt Jameelah.

Genau, sagt Nadja, vielleicht wollen wir das ja gar nicht.

Gottes Welt ist verfault, sagt Apollo und hält uns einen verrosteten Nagelklipper entgegen, deswegen.

Weiß doch jeder, sagt Aslagon, schüttelt den Kopf und tippt sich an die Stirn.

Nadja verdreht die Augen.

Scheiß drauf, sagt sie und schneidet uns allen ein Stück Fingernagel ab.

Die Wände in der Unterführung sind von oben bis unten bemalt. Die schlechten Graffitis sind von Tobi. Tobi malt Animaux, das heißt Tiere auf Französisch. Für einen Malernamen ist Animaux zu lang, hat Nico mir mal erklärt, es sind die zwei letzten Buchstaben, die es zu lang machen, zu lang zum Abhauen. Vielleicht ist Tobi deswegen schon so oft erwischt worden, und vielleicht sieht man deswegen so oft Anima in der Stadt.

Die Guten sind von Nico. Sad, das ist sein Malername, so wie traurig auf Englisch. Manchmal schreibt er auch Sadist. Er malt es in ganz weichen, lustig aussehenden Buchstaben. Mich tröstet es immer, wenn ich im Bus sitze, durch die Stadt fahre und ein Sad von Nico an irgendeiner Wand sehe. Es ist so, wie mit dem Stein im Schuh, für den einen Moment, in dem der Bus an einem Sad von Nico vorbeifährt, bin ich einfach nicht alleine.

Am anderen Ende der Unterführung stehen Tobi und Nico, sie rauchen. Nico lehnt an der Wand. Er ist groß, eigentlich ist alles groß an ihm, seine Hände, seine blauen Augen, sein Mund, seine Füße, die immer in denselben Turnschuhen stecken und die er genauso regelmäßig wie seine Klamotten in die Wäsche stopft und zum Trocknen auf den Wäscheständer legt. Sogar sein kahl rasierter Schädel ist groß, nur der Kinderkoffer, den er immer mit sich herumträgt, ist klein. Er ist aus Plastik, bunt gestreift, und vorne drauf ist eine Uhr, die geht nie richtig, Batterie leer. Ich hatte mal den gleichen Koffer, da waren Nico und ich noch Kinder und auf dem Rummel. Die Koffer standen auf dem obersten Regal vom Losbudenstand. Wir wollten unbedingt einen Koffer haben, jeder einen, aber unsere Mütter wollten weiter. Nico und ich haben geweint, da hat Nicos Vater Lose gekauft, so viele wie kein anderer. Nicos Mutter hat geschimpft, aber der Mann von der Losbude hat gelacht, er hat Nicos Vater ein Los nach dem anderen hingehalten, er hat sie wie kleine Mehlwürmer aus dem durchsichtigen Behälter gepult und sie Nicos Vater gereicht, bis der genug Punkte für zwei von den Koffern zusammenhatte.

Dafür ist Geld da, oder wie, hat Nicos Mutter gesagt und auf die bunten Papierfetzen am Boden gezeigt, da war sie gerade mit Pepi schwanger, aber in Wirklichkeit war sie nur schlecht gelaunt, weil Nicos Vater total voll war und Mama und Papa auch und sie selbst nichts trinken durfte.

Ich find das auch nicht gut, hat Mama zu Papa gesagt, jetzt sag doch was, aber Papa hat nur die Augen verdreht.

Seitdem schleppt Nico diesen Koffer mit sich rum. Früher hat er seine Matchboxautos darin herumgetragen, immer zum Spielplatz und wieder nach Hause, heute trägt er sein Ott darin herum, und oben auf dem Plastik von der Uhr macht er Mischung, mischt da Tabak und sein Ott zusammen. Er nimmt den Koffer sogar mit zu Schulze-Sievert, wo er seine Ausbildung macht. Alle machen Witze über Nico und seinen Kinderkoffer, aber Nico lacht dann nur mit, ihm ist das egal, sein Koffer ist sein Koffer. Mein Koffer ist noch im selben Sommer Schrott gegangen. Dragan hat ihn gegen die Garagen geschleudert, nur weil ich behauptet habe, die Uhr auf dem Koffer wäre stoßfest.

Na, sagt Nico, habt ihr euch von Aslagon die Fingernägel schneiden lassen?

Ich nicke.

Der Arme, sagt Jameelah und greift nach dem Joint.

Warum?

Na hör mal, sagt sie, ich finde, Gottes Welt ist verfault, ist so ziemlich der traurigste Satz, den ich seit Langem gehört habe.

Nico spuckt auf den Boden.

Traurig vielleicht schon, sagt er und schaut rauf in den wolkigen Himmel, traurig, aber wahr.

 

Am Planet ist auf einmal ganz schön was los. Jede...

Erscheint lt. Verlag 15.8.2013
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adoleszenz • Alina Bronsky • Coming of Age • Debüt • Drehbuchpreis-Nominierung • Erwachsenwerden • Familienkonflikt • Familien-Konflikt • Freundschaft • Großstadt • Identität • Jugend • Kino-Film 2017 • Mädchen • Probleme • Scherbenpark • Sehnsucht • Verlust
ISBN-10 3-462-30716-9 / 3462307169
ISBN-13 978-3-462-30716-0 / 9783462307160
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