Strom (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2013 | 2. Auflage
272 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-41770-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Strom -  Hannah Dübgen
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»Nah oder fern gibt es nicht mehr, nur noch nah oder fremd.« Vier Menschen in vier Ländern: Ada aus Berlin hat mit ihrer Freundin Judith einen Dokumentarfilm über das Leben im Gazastreifen gedreht. Judith aber stirbt kurz nach Fertigstellung des Films. Die junge japanische Pianistin Makiko ist nach Paris gezogen und gibt in ganz Europa Konzerte. Als sie erfährt, dass sie ein Kind erwartet, ist sie schockiert. Jason arbeitet für eine amerikanische Investmentfirma. In Tokio soll er den Kauf eines japanischen Traditionsunternehmens organisieren. Der Zoologe Luiz, der in Brasilien aufwuchs, lebt mit seiner jüdischen Frau und den zwei gemeinsamen Kindern in Tel Aviv, will aber weg aus Israel, weil er den politischen Wahnsinn im Land nicht mehr erträgt. Ein Roman in vier miteinander verwobenen Geschichten. Über unsere Gegenwart, über Menschen, die zwischen Kulturen wandeln. Sie alle lieben, trauern, arbeiten, kämpfen wach und voller Sehnsucht um ihr Leben, ihre Zukunft. Hannah Dübgen erzählt bewegend und mit immenser Kraft von Nähe und Ferne, von Fremde, von alten und neuen Grenzen, von dem Strom, der unsere Zeit ist.   

Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Schauspiel und Musiktheater, und schrieb die Libretti mehrerer international erfolgreicher Opern. Ihr Debütroman >Strom<, ausgezeichnet mit Preisen der Landeshauptstadt Düsseldorf und des Literaturfestivals von Chambéry, erschien 2013 bei dtv.

Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Schauspiel und Musiktheater, und schrieb die Libretti mehrerer international erfolgreicher Opern. Ihr Debütroman ›Strom‹, ausgezeichnet mit Preisen der Landeshauptstadt Düsseldorf und des Literaturfestivals von Chambéry, erschien 2013 bei dtv.

I


Plötzlich war es still. Der alte Yukawa starrte Jason an, seine Augenbrauen hoben sich und aus seinen Mundwinkeln verschwand das Lächeln. Die untere Gesichtshälfte des Japaners erschlaffte, seine Haut schlug Wellen, als wollte sie sich ablösen, Yukawa krümmte sich nach vorne, Jason sah ein Zucken in seinem Bauch, trat näher, da schnellte der Japaner hoch, warf seinen Kopf in den Nacken, öffnete den Mund und lachte. Laut und durchdringend, ein röhrendes Lachen, das sich langsam in die Höhe schraubte, schriller wurde. Sein dürrer Körper bebte, schnappte nach Luft, Jason sah einen Funken im rechten Auge des Japaners aufblitzen und fing ebenfalls an zu lachen. Gemeinsam lachten sie, die Rhythmen ihrer Gelächter fanden einander und Jason dachte, Yukawa im Blick, dass der alte Japaner sicherlich vergessen hatte, worüber er gerade lachte.

»Sehr gut, Sir.«

Yukawa fand seine Haltung wieder und das Lachen verlor sich so schnell, wie es aufgetaucht war. Er sammelte die Papiere zusammen, die er mit Jason durchgesehen hatte, und legte sie zurück in seine Ledermappe, Kante auf Kante. Dann nahm er die Mappe vom Tisch, verbeugte sich und ging in kleinen Schritten rückwärts zur Tür.

»Gute Reise! Sir.«

Jedes Wort eine Verbeugung. Abgehackt. Es war dieser steife Rhythmus, der vertikale Akzent, der Yukawas tadellosem Englisch etwas Hölzernes gab.

Jason bedankte sich höflich, hob die Hand zum Gruß und die Tür fiel klickend hinter Yukawa ins Schloss. Im Geiste sah Jason ihn den langen, kalt erleuchteten Flur entlanglaufen, die rechte Schulter dicht an der Wand. Als man Jason vor drei Wochen durch die Etagen des Büros geführt hatte, war ihm das zuerst aufgefallen: Die Europäer und Amerikaner liefen selbstverständlich in der Mitte des Ganges, die Japaner stets dicht an der rechten Wand. Damit sie sich für den Fall, dass plötzlich eine U-Bahn oder ein Taifun durch den Gang rauscht, möglichst schnell flach an die Wand pressen können, hatte Jason gedacht und den Kopf geschüttelt über seine von der feuchtwarmen Sommerluft aufgeweichten Gedanken.

 

Er musste dicht an die spiegelnde Glasfront neben seinem Schreibtisch herantreten, um hinter der Scheibe die Stadt zu sehen. Die Sonne war bereits untergegangen, im Westen leuchtete der Horizont hinter den Hochhäusern von Shinjuku orangerot, während der Himmel über der Stadt längst in Dunkelheit versank. Was das Leben unten auf den Straßen aber nicht beirrte, alles wirkte sogar noch hektischer, erregter als am Tage, der Verkehr nahm zu, die weißen Scheinwerfer der Autos drängten sich in das von Ampeln und Straßenlaternen grell erleuchtete Treiben. Vor Jasons Fußspitzen, genau vierzehn Stockwerke unter ihm, verließen die Menschen in Scharen das Gebäude, strömten über den betonierten Vorplatz und bewegten sich an der nächsten Straße mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nach rechts, zum Bahnhof. Vor dessen Eingängen stauten sich die Pendler zu Trauben zusammen, pressten sich durch die Türen in die Halle und von dort aus weiter auf die Bahnsteige, in die Züge, nach Hause. Jason rieb sich die Augenlider und schaute wieder hinunter. Die Schlange wollte und wollte nicht abreißen, Menschen zogen Menschen nach sich, das war eine Bewegung, ein Schwung! Was für ein Kontrast zu jenem dunklen, starren Loch, das nur wenige hundert Meter entfernt im erleuchteten Tokio lag: das kaiserliche Anwesen, umringt von einer hohen Steinmauer und einem Festungsgraben. Vom Palast waren in der Dämmerung nur noch die flach auslaufenden, stufenförmigen Dächer zu erkennen, um sie herum verschwand der kaiserliche Garten in grauen Schatten. Jason suchte die Pinien am südlichen Ende des Anwesens, hohe, schöne Bäume, deren Äste wie suchende Arme über den Mauerrand hinweg in die Stadt hineinragten, von der massiven Festung jedoch in Schach gehalten wurden. Jasons Augen fuhren an der Mauer entlang, diesem Bollwerk aus geschichteten Steinquadern; einst gebaut, um Feinde abzuschrecken, wirkte die Mauer heute eher wie ein Schutzwall gegen die Lichter, die Bewegung, das sich beständig in die Zukunft drehende Leben der Stadt. Als versuche der Kaiser im Inneren, sich und seine Pinien vor der Wirklichkeit zu schützen.

Es klopfte. Jason rief, man solle hereinkommen, und Miss Sato trat ins Zimmer. Geräuschlos, was sowohl an ihrer Gangart als auch an ihren Schuhen liegen konnte, einem seltsamen Zusammenspiel aus Ballett- und Hausschuh, flach, ohne Absatz, dafür mit einer Schleife oberhalb der Zehen.

»Ihre Reiseunterlagen«, erklärte Miss Sato und reichte Jason einen Umschlag. Der Wagen stehe unten bereit. Sie deutete auf ihre Armbanduhr. Zwanzig nach sieben. Um halb acht wollte er losfahren? Jason schmunzelte, das war die japanische Art zu sagen: Sie haben noch zehn Minuten.

»Ich danke Ihnen, Miss Sato.«

Vorsichtig erwiderte die junge Miss Sato sein Lächeln. Sie nickte Jason freundlich zu, legte ihre Hände an die Oberschenkel und verbeugte sich, behutsam. Ihre Bewegungen waren förmlich und doch voller Grazie. Erstaunlich, dachte Jason, was bei dem alten Yukawa stets ein wenig eckig, angelernt und aufgesetzt wirkte, schien bei Miss Sato weich und selbstverständlich.

 

Zurück an seinem Schreibtisch öffnete Jason den Umschlag und zog einen Stapel Papiere hervor. Obenauf das Flugticket, Jason prüfte die Zeiten, Abflug in Tokio um 22:05 Uhr, Ankunft in San Francisco um 15:45 Uhr. Nonstop, gen Osten fliegen, zurück aus der Nacht in den hellen Tag. Ankommen und den gleichen Abend noch einmal verbringen, diesmal nicht in einer Bar am Flughafen, sondern in der Bucht von San Francisco. Jason steckte das Ticket in die Innentasche seines Jacketts und überflog den Ablauf: Kein offizielles Zusammenkommen heute Abend, was bedeutete, dass Greenberg selbst erst spät in San Francisco eintraf. Morgen um neun Uhr dann das große Treffen, mit den Leuten von ASC, mit Greenberg und Hanson. Sogar Lloyd würde da sein, der dritte Partner ihrer Firma, obwohl er für diesen Teil der Welt eigentlich nicht zuständig war. Jason sah sie bereits, seine drei Chefs, das Triumvirat: Lloyds nervös auf die Tischplatte trommelnde Finger, Hansons vom Adrenalin beflügelte Gesten und daneben Greenberg, mit durchdringendem Blick und starr gefalteten Händen. Greenberg strahlte vor wichtigen Momenten eine Konzentration aus, deren Intensität Angst einflößend war, die sich jedoch, sobald es losging, die Gäste begrüßt und die Kugelschreiber gezückt wurden, verflüchtigte. Jason spürte ein leichtes Kribbeln in seinem Magen, holte tief Luft und lächelte: Alles war bereit. Der Kauf von ASC würde stattfinden, in genau der Form, die er Hanson und Greenberg schon vor Monaten vorgeschlagen hatte, als er den Fall von London aus recherchiert hatte. Jetzt kaufen!, hatte er zu Greenberg gesagt, wo ASC kämpfte und die amerikanische Autobranche in der Krise steckte. Doch seine Chefs hatten gezögert, sie wollten abwarten, sahen noch nicht, wie sich mit so einem »Schwergewicht« Geld verdienen ließe. Mittlerweile sahen sie es. Das Angebot lag auf dem Tisch und ASC hatte zugesagt: morgen Vormittag in Menlo Park.

Die Uhr gab ihm noch vier Minuten. Mit einem Klick riss Jason den Computer aus seiner Ruheposition und öffnete den Browser. Nachrichten. Jason klickte auf die erste Überschrift, von einem Waldbrand kurz vor Athen war die Rede, der allmählich außer Kontrolle geriet, die dichten Rauchwolken waren trotz des Smogs bereits von der Akropolis aus zu sehen. Jasons Augen verharrten auf der Meldung, sie gleich wieder wegzuklicken schien ihm aufgrund der akuten Gefahr pietätlos. Er entschied, die Seite offen zu lassen, und sah zu, wie sie, einer Sternschnuppe gleich, unten rechts am Bildschirm verschwand. Im Nahen Osten gingen die Kämpfe weiter, die wenigen Wirtschaftsmeldungen waren unbedeutend, die Börse von Tokio hatte schon geschlossen, während es in London nach den hohen Gewinnen von gestern eher zögerlich losging.

19.27.49.18, 19.27.50.12. Oben auf der Bildschirmleiste rasten die digitalen Ziffern der Uhr mit faszinierender Dringlichkeit weiter, Jason selbst hatte die Uhr so eingestellt, auf die Hundertstelsekunde genau. Er mochte es, der verstreichenden Zeit zuzuschauen. Wenn er die Abfolge der Ziffern beobachtete und irgendwann nicht mehr das Vergehen, sondern nur noch das Fließen spürte, fühlte er, dass er existierte. In diesem kraftvoll nach vorne ziehenden Strom. Das war seine Zeit, die Zeit, in der er lebte, in der sie alle lebten, es war die Zeit von Greenberg und Hanson, von Yukawa und Miss Sato. Eine Zeit, die einmalig war, die mit ihnen entstand und mit ihnen verschwinden wird.

19.29.00.45. Jason blickte auf das Papier in seiner Hand. Einen Stadtplan von San Francisco? Brauchte er nicht, er kannte die Stadt. Punkt vier Uhr würde José, der Firmenchauffeur, ihn vom Flughafen abholen und ihn keine Stunde später vor dem Hoteleingang absetzen. Und dann? Jason überlegte, er könnte Stewart treffen, in dem Irish Pub bei Stewart um die Ecke, wie früher. Einen Abend lang diskutieren, ob die Schönheit der Naturgesetze nun ein Gottesbeweis ist oder nicht. Er könnte im Hotel bleiben, in der Bar einen Whiskey trinken und seine Gedanken treiben lassen, wissend, bei wem sie landen würden … Jason senkte den Kopf und fuhr sich über seine kurzen Haare. Möglich, vieles war möglich. Sein Blackberry piepte. Eines war sicher: Wenn er jetzt nicht ging, verpasste er seinen Flieger. Er stand auf, schloss die offenen Fenster auf...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2013
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • Chopin • Debut • eBook • Ehe • Episodenroman • Familienehre • Fremde • Gazastreifen • Globalisierung • Jerusalem • Kulturunterschiede • Liebe • Nahostkonflikt • Nahost-Konflikt • Paris • Roman • Tel Aviv • Tod • Tokio
ISBN-10 3-423-41770-6 / 3423417706
ISBN-13 978-3-423-41770-9 / 9783423417709
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