Mein Körper weiß alles (eBook)

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2013 | 1. Auflage
208 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60310-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Körper weiß alles -  Banana Yoshimoto
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Der rote Faden dieser poetischen Geschichten, die alle mit seelischen Umbrüchen und Grenzsituationen zu tun haben: Manche Gewissheiten kann nur der Körper vermitteln, und er tut es heilsam und hellsichtig.

Banana Yoshimoto, 1964 geboren, hieß ursprünglich Mahoko Yoshimoto. Ihr erstes Buch ?Kitchen? schrieb sie während ihres Studiums, sie jobbte nebenbei als Kellnerin in einem Café und verliebte sich dort in die Blüten der ?red banana flower?, daher ihr Pseudonym. Ihr Debütroman verkaufte sich auf Anhieb millionenfach - ein Phänomen, dem man die Bezeichnung ?Bananamania? gab. Sie schrieb zahlreiche Bücher, die auch außerhalb Japans ungewöhnlich hohe Auflagen erreichten.

Banana Yoshimoto, 1964 geboren, hieß ursprünglich Mahoko Yoshimoto. Ihr erstes Buch ›Kitchen‹ schrieb sie während ihres Studiums, sie jobbte nebenbei als Kellnerin in einem Café und verliebte sich dort in die Blüten der ›red banana flower‹, daher ihr Pseudonym. Ihr Debütroman verkaufte sich auf Anhieb millionenfach – ein Phänomen, dem man die Bezeichnung ›Bananamania‹ gab. Sie schrieb zahlreiche Bücher, die auch außerhalb Japans ungewöhnlich hohe Auflagen erreichten.

[7] Der grüne Daumen

Ich war in der Bahn eingenickt. Als ich die Durchsage der Station hörte und hastig ausstieg, fühlte ich mich noch halb im Traum. Der Bahnsteig wirkte wie eingefroren in der eisigen Winterluft. Ich wickelte mir den Schal fester um den Hals und trat durch die Sperre.

Draußen stieg ich in ein Taxi und nannte dem Fahrer die Pension, zu der ich wollte, aber er erwiderte, er wisse nicht, wo das sei. Mir fiel wieder ein, dass es sich um eine neue kleine Pension handelte, die offenbar kaum Werbung für sich machte, und bat ihn, mich irgendwo in der Nähe der Adresse aussteigen zu lassen.

Ich stand inmitten von Feldern, in der Ferne blickte ich auf eine sanfte Berglandschaft. Da entdeckte ich ein kleines Schild, das zur Pension wies, und folgte ihm einen schmalen Pfad hinauf.

An die Kälte hatte ich mich gewöhnt und freute mich über die reine, klare Luft. Inzwischen war ich vollkommen wach und begann sogar schon ein [8] wenig zu schwitzen, als ich vor mir plötzlich die Nähe eines alten Bekannten spürte.

Es war im vergangenen Winter, als wir uns Sorgen wegen der Aloe zu machen begannen, die allmählich auf die Straße hinauswucherte.

Mein Vater, meine Mutter und ich hatten die Pflanze ganz vergessen, die meine jüngere Schwester für dreihundert Yen gekauft und neben der Haustür eingepflanzt hatte, weil im Garten kein Platz mehr dafür war. »Aloe hier, Aloe da, du musst das Blattgel einnehmen oder auf den Pickel schmieren, Aloe ist für alles gut, ein wahres Wundermittel!«, hatte meine Schwester uns eine Zeitlang in den Ohren gelegen, aber selbst sie war schnell wieder aus ihrem Aloe-Fieber erwacht, mit dem sie sich in irgendeiner Zeitschrift oder sonstwo angesteckt hatte, und kümmerte sich bald nicht mehr um die Pflanze. Doch obwohl sie fast nie gegossen wurde und da, wo sie stand, kaum Sonne abbekam, wuchs die Aloe prächtig. Zu prächtig, denn ehe wir uns versahen, war sie baumgroß geworden, überwucherte den Weg und fing zu allem Überfluss auch noch an, widerlich geformte Trauben zu bilden, an denen blutrote Blüten aufgingen.

Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem dieses Thema zur Sprache kam. Mein Vater, [9] meine jüngere Schwester und ich saßen um den kleinen Tisch in dem Haus, in dem ich geboren worden und aufgewachsen war. Es schien ein ganz normaler Abend zu werden.

Als meine Schwester und ich klein waren, haben wir zu Hause alles Mögliche an diesem Tisch gemacht: gegessen, gestritten, ferngesehen. Geld zusammengelegt, um Kuchen zu kaufen, den wir dann dort verspeist haben. Unsere Mutter hat ihre Einkäufe darauf abgestellt – die Kaufhaustüte mit ihrer neuen Unterwäsche auch mal neben den getrockneten Fisch fürs Abendessen. Unser Vater hat schon mit dem Gesicht auf der Tischplatte gelegen und seinen Rausch ausgeschlafen, und als meine Schwester in der Mittelschule ihren ersten Liebeskummer durchlitt, hat sie sich dort mit Wein volllaufen lassen, bis sie betrunken vom Stuhl gerutscht und mit dem Kopf auf den Boden geknallt ist. Dieses kleine Viereck war das Sinnbild für unsere Familie. Dort herrschte Körpertemperatur, dort roch es nach Leben – ein weiches, warmes, behagliches Plätzchen. Vor kurzem hat meine Schwester geheiratet und ist ausgezogen. Der Tisch steht zwar immer noch da, aber es kommt kaum noch vor, dass wir uns alle darum versammeln. Meistens sitzt meine Mutter dort allein vor laufendem Fernseher und strickt. So ändern sich die Zeiten.

[10] An jenem Abend meinte mein Vater plötzlich: »Diese Aloe wird langsam zu groß, bald kann der Nachbar kaum noch ein- und ausparken.« Da uns das Umpflanzen lästig war, taten meine Schwester und ich so, als hätten wir seine Bemerkung nicht gehört. »Wenn ihr sie nicht umpflanzt, reiß ich sie raus und schmeiß sie weg!«, drohte mein Vater. »Schon okay, mach nur«, meinten wir und blätterten weiter in unseren Zeitschriften.

So ging das hin und her, bis meine Mutter nach Hause kam, bepackt mit Tüten aus dem Supermarkt um die Ecke. »Hallo Mama«, begrüßten wir sie wie jeden Abend, ohne ihr ins Gesicht zu sehen. Erst als keine Antwort kam, hoben wir die Köpfe und merkten, wie blass sie war. »Was ist los?«, fragte meine Schwester.

»Die Oma! Sie ist doch ins Krankenhaus, weil sie dachte, sie hätte einen Hexenschuss, aber jetzt haben sie Gebärmutterkrebs in weit fortgeschrittenem Stadium bei ihr festgestellt! Sie muss enorme Schmerzen gehabt haben, aber die hat sie einfach ausgehalten, bis es nicht mehr ging. Jetzt ist es für eine Operation wohl zu spät!«

Meine Großmutter lebte allein in einer kleinen Wohnung in einem benachbarten Apartmenthaus. Erst vorgestern hatte sie uns mitgeteilt, sie hätte einen Hexenschuss, und meine Schwester [11] hatte sie mit dem Auto ins Krankenhaus gefahren.

Da meine Eltern beide Einzelkinder sind, haben wir keine große Verwandtschaft, deshalb halten wir im kleinen Kreis umso fester zusammen und besuchten Großmutter jeden Tag abwechselnd im Krankenhaus, mein Vater eingeschlossen. Auf einmal waren wir eine Familie mit anderen Sorgen als dem Wildwuchs einer Aloe-Pflanze. Großmutter kam zwar noch einmal nach Hause zurück, wurde dann aber bald wieder ins Krankenhaus eingeliefert.

Als ich ihr eines Tages ihre geliebten Pfannkuchen mit Anko-Füllung* [* Anko: Mus aus roten Bohnen mit Zucker. (A. d. Ü.)] vorbeibrachte, lag sie friedlich in ihrem Bett und schlief. Es schien ihr gutzugehen. Ich war erleichtert, denn nach Mutters Bericht war es ihr am Tag zuvor wohl erbärmlich gegangen. Sie hatte über solche Schmerzen im Bauch geklagt, dass sie Tränen vergossen hatte.

Sobald ich das Krankenhaus betrat, fühlte ich mich unwohl. Schon in der Eingangshalle wurde ich so kribbelig, dass ich am liebsten sofort kehrtgemacht hätte, aber nach einer Weile gewöhnte ich mich daran. Verließ ich es dann wieder, kam mir draußen alles viel zu intensiv vor. Die Massen von Autos, die über die Kreuzung rollten, die lauten [12] Stimmen der Leute, die meinten, sie würden ewig leben, die vielen Farben, die auf mich einstürmten – all das erschreckte mich. Ich brauchte fast den ganzen Heimweg, um mich wieder daran zu gewöhnen. Mir wurde klar, dass ich mich auf mysteriösem Terrain bewegte, wenn ich zwischen diesen Welten hin und her wanderte. Mir fiel die Geschichte von Orpheus ein, die ich als Kind einmal gelesen hatte. Er hatte es nicht geschafft, seine Frau, die im Reich der Toten wohnte, wieder mit zurückzubringen. Der Geruch ist anders. Der intensive Duft, den das Leben verströmt, wirkt in jener Welt nur noch wie ein aufdringlicher, giftig stechender Abklatsch. Den Geruch des Todes dagegen, der geschwächten Menschen anhaftet, verabscheuen die Leute. Draußen verliert sich dieser Geruch rasch wie Schnee, der in der Sonne schmilzt, aber die Menschen können ihn sofort ausmachen, wie Moschus, da mag er noch so weit weg und flüchtig sein. Sie fürchten ihre geschwächten Artgenossen, die sie an die Endlichkeit des eigenen Lebens erinnern, und wähnen sich dem Tode nah. Dabei muss man sich nur eingewöhnen, um zu erkennen, dass diese beiden Welten ein und dieselbe sind.

Als ich gerade dabei war, die Blumen in der Vase zu ordnen, machte Großmutter die Augen auf und sagte:

[13] »Wie geht es eigentlich meinen Topfpflanzen zu Hause? Gut?«

Großmutter liebte ihre Pflanzen über alles, deshalb ging ich jeden Tag in ihre Wohnung, um ihren Topfblumen Wasser zu geben. Es war nichts Wertvolles darunter, keine Bonsai oder so etwas, nur ganz gewöhnliche Zimmerpflanzen wie Jasmin, Palmenfarn, ein Sarcandra-glabra-Strauch, irgendein Bohnengewächs, das ich nicht zuordnen konnte, Mimosen, eine Pachira, ein Flammendes Käthchen… Und trotzdem meinte ich beim täglichen Gießen zu spüren, wie sehr sich die Pflanzen nach Großmutter sehnten. Mag sein, dass ich mir das einbildete, denn ich war ein ausgesprochenes »Omakind«: Ich war ja praktisch bei ihr aufgewachsen, da meine Eltern bis zur Geburt meiner Schwester beide berufstätig waren. Dass sie sterben würde, konnte ich kaum ertragen. Meine Oma, zu der ich ins Bett gekrochen war, wenn ich mich nachts einsam fühlte. Meine Oma, die jeden noch so kleinen Schatten auf meiner Seele spürte, noch ehe ich es selbst tat, und mir zum Trost meine Leibspeise, Tempura aus Süßkartoffeln, machte. Mit jedem neuen Tag schwand nun ihr Interesse an dieser Welt – und an mir – ein wenig mehr. Ich fühlte mich im Stich gelassen, genau wie die Topfpflanzen. Vielleicht konnte ich mich deshalb so gut in sie hinein[14] versetzen. Oder bildete mir das deshalb ein. »Für die Frau, die sich bisher immer zuallererst um euch oder um mich gekümmert hat, ist es nun an der Zeit, endlich einmal nur an sich zu denken«, versuchte ich mich beim Blumengießen selbst zu beschwichtigen.

Großmutter redete ein paar Worte und schlief sofort wieder ein. Wenn ein Mensch bettlägerig wird, verliert er rasend schnell an Kontur. Das mit anzusehen brach mir fast das Herz. Ein Prozess, den die Menschheit immer wieder durchleben musste, und nun nahm ich selbst daran teil. Und fühlte mich dabei merkwürdig weit weg, so als würde ich alles aus der Ferne beobachten.

Eines Nachmittags, als ich mich schon an dieses Leben zwischen den Welten gewöhnt hatte, kam ich mit gedünstetem Essen, das Mutter für sie gekocht hatte, ins Krankenzimmer, und Großmutter war ausnahmsweise einmal wach.

»Weißt du, früher, da habe ich Alpenveilchen wirklich gehasst!«, sagte sie.

»Ja, das hast du oft genug betont. Ich mag sie auch nicht besonders. Sie sind irgendwie so moorig feucht.«

»Du...

Erscheint lt. Verlag 24.7.2013
Übersetzer Annelie Ortmanns, Thomas Eggenberg
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Altern • Blockade • Erinnerungen • Erzählungen • Geduld • Geschichten • Gewissheit • Grenzerfahrung • Grenzsituation • Heilung • Japan • Krankenzimmer • Nähe • scharf essen • Schlafen • Schönheitsoperation • Seelenleben • Sexabenteuer • Trauerbewältigung • Umbruch • Umbrüche • Verbundenheit • Verlust
ISBN-10 3-257-60310-X / 325760310X
ISBN-13 978-3-257-60310-1 / 9783257603101
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